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II. „Neuschaffung“ der griechischen Tragödie im 19. Jahrhundert

1. Hegels Auffassung des griechischen Geistes

1.4. Die Familie als Todesstätte

Während die Regierung über öffentliche Beschlüsse abstimmt und diese dann expliziert an den Tag treten, gründet die Familie auf der unbewussten Natürlichkeit, d. h.: Sie führt ihr

122 Vgl. Elisabeth Weisser-Lohmann, „Gestalten nicht des Bewusstseins, sondern einer Welt“, in Dietmar Köhler et Otto Pöggeler (eds.), Klassiker auslegen: Phänomenologie des Geistes, Berlin: Akademie Verlag, 1998, 196.

göttliches Gesetz spontan oder ‒ in Hegels Terminologie ‒ „unmittelbar“ aus. An dieser Stelle ist im Blick auf Hölderlins Werk anzumerken, dass Hegels Verbindung der griechischen göttlichen Wirklichkeit und der unbewussten oder unmittelbaren Natur auffallend Hölderlins Auffassung der Natur ähnelt. Hölderlins unvordenkbare Einheit wird genauso mit der göttlichen Natur gleichgesetzt. Diese entbehrt des Bewusstseins, ist jedoch ebendadurch göttlich, da sie nur auf Grund ihrer Unwissenheit ihre Einheit zu wahren vermag.

Sogleich ist jedoch festzuhalten, dass eine Angleichung an die unbewusste Natur nach Hegel nicht Ziel des Menschen ist. Auch wird das Unbewusste nicht mit dem Göttlichen im Allgemeinen gleichgesetzt. Im Gegenteil werden die unterirdischen Götter, die im und durch das menschliche Unbewusste walten, von den Göttern des Tages, die ihren „Sitz“ im Bewusstsein haben, unterschieden. Dabei wird keinen der beiden Göttergruppen der Vorrang zugesprochen.

Weiter ist anzumerken, dass die familiäre Sittlichkeit, die aus der Natur wächst, nicht im Gegensatz zur Natur gedacht wird. Diese Sittlichkeit ist kein „bloß“ menschliches Produkt, obzwar das göttliche Walten im menschlichen Unterbewusstsein eine rein menschliche Gestalt auf sich nimmt. Die familiäre Rollenverteilung gehört nicht – aus der Sicht der Griechen – der Konvention an. Sie ist Teil des natürlichen Ganges der Welt. Das, was sein soll – die Pflicht –, wird demnach an dem, was der Fall ist, „unmittelbar“ abgelesen.123

Die Familie hat „den ganzen Einzelnen“ oder auch „den Einzelnen als Allgemeinen“ zum Zweck. Hegel hebt hervor, dass der Erziehung eines Kindes zum Bürger nichts Zufälliges anhaftet: „[S]ie verläuft nicht wie eine Dienstleistung“124. Die einzelnen Familienmitglieder haben ihre partikulären Interessen entweder zugunsten der Familie aufgehoben oder aber diese – im Falle der Kinder – noch nicht entwickelt. Die Erziehung innerhalb der Familie verläuft demnach als Herausbildung zum Vertreter eines Geschlechts oder zum Repräsentanten einer sozialen Rolle, die einem aufgrund der Position innerhalb der Familie gebührt. Diese Allgemeinheit, die die Familie auf den Einzelnen überträgt, wird jedoch – für den Leser vielleicht an dieser Stelle überraschenderweise – erst im Tod vollendet.

Tatsächlich findet die Arbeit an der Ausbildung des Einzelnen in ein sittliches Wesen ihren Höhepunkt im Begräbnis. Deshalb ist das Begräbnis für den Griechen von solch eminenter Wichtigkeit. Hier enthebt die Familie mittels heiliger Rituale den Einzelnen seiner Zufälligkeit und macht ihn zum ewigen Ahnen der Blutsverwandten. Im Tod weicht vom Menschen jegliche Zufälligkeit, und das Leben entschwindet „in der Ruhe der einfachen Allgemeinheit“125.

Durch eine angemessene Bestattung gewähren die Familienmitglieder dem Toten noch im

„natürlichen Gewordensein“ Bewusstsein. Dadurch wird jedoch der Tod – die Ruhe der einfachen Allgemeinheit – teilweise aufgehoben: Denn der Tote wird durch die Integration in die Strukturen der Familie vergeistigt, und „das Recht des Bewusstseyns [wird] in ihm

123 Vgl. Terry Pinkard, Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, 139.

124 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 386.

125 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 388.

behauptet [seyn]“126. Die Familie kann deshalb als das Selbstbewusstsein des göttlichen Gesetzes betrachtet werden. Sie bewahrt das Fürsichsein des Verstorbenen: Sie bewahrt nicht das, was der Verstorbene war, sondern, wer er war.

Der Tote wird zwar im Boden begraben, er ist jedoch trotzdem durch das Bewusstsein, das ihm die Familie durch ihre Erinnerung bereitstellt, über die Natur erhaben und wird somit nicht aus dem sittlichen Sein entlassen.127 Mittels des Bewusstseins wird „das Werk der Natur unterbrochen“128. In dieser Gestalt stellt der Tod in der griechischen Kultur „die höchste Arbeit“129 dar, die das Individuum als solches für die Gemeinschaft übernimmt. Das Individuum wird durch den im Rahmen der Familie durchlebten Tod in die Allgemeinheit erhoben.

Diese Beziehung von Tod, Bestattung und Ewigkeit wird nicht zuletzt durch das Interesse der unterirdischen Gottheiten an einer angemessenen Sorge um den Toten bestätigt. Die Toten werden innerhalb der antiken (griechischen wie römischen) Familie in den Rang der Penaten aufgenommen.130 Dabei ist Hegels Betrachtung des Todes in diesem Abschnitt der Phänomenologie für seine eigene Dialektik bezeichnend: Der Tod wird durch Erhaltung aufgehoben und überschritten. Durch die (in diesem Falle sittliche) Er-Innerung innerhalb der Familie oder der Polis gewinnt der Tote Anteil an der Ewigkeit.

Bereits im hier kommentierten Abschnitt tritt Hegels eigentümliche Distanz zur Natur hervor.

Obzwar er bemüht war – gemeinsam mit Hölderlin oder Schelling –, die Natur vor der Verdinglichung durch die Naturwissenschaften zu befreien, lehnt Hegel ausdrücklich eine romantische Sicht auf die Natur und Natürlichkeit, d. h. auch Hölderlins Sicht, ab. Die Natur wird zwar in sein System aufgenommen, die Schlüsselrolle kommt trotzdem dem Geist zu, der erst in der menschlichen Wirklichkeit zu sich kommt. Eben an den nun studierten Passagen wird Hegels Bemühung deutlich, den menschlichen Geist bzw. das Bewusstsein gerade nicht in die Natur zu integrieren, sondern aus ihr auszugrenzen: „Das unmittelbare natürliche Gewordenseyn“131 wird dem „Thun eines Bewußtseyns“132 entgegengesetzt. Des Weiteren äußert Hegel den Gedanken, „die Natur maße sich an, sich den toten Körper als ein natürliches Ding zu eigen zu machen – diese Natürlichkeit des Toten ist jedoch nur ein Schein, der durch das Begräbnis, durch die menschlich tradierte Sitte hinwegfallen solle“133. Es mag nun in diesem Kontext hilfreich sein, Hölderlins Abhandlung über Empedokles’ Tod mit Hegels Auffassung des Begräbnisses zu vergleichen. Eben in diesem Vergleich wird nämlich deutlich, wie sehr sich die Wege der ehemals Gleichgesinnten getrennt haben.

126 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389.

127 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389–390. „Oder der Sinn der Handlung ist vielmehr, dass, weil in Wahrheit die Ruhe und Allgemeinheit des seiner selbst bewußten Wesens nicht der Natur angehört, der Schein eines solchen Thuns hinwegfalle, den sich die Natur angemaßt, und die Wahrheit hergestellt werde.“

128 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 390.

129 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389–390.

130 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 386.

131 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389.

132 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389.

133 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 389‒390. „Oder der Sinn der Handlung ist vielmehr, daß, weil in Wahrheit die Ruhe und Allgemeinheit des seiner selbst bewußten Wesens nicht der Natur angehöre, der Schein eines solchen Thuns hinwegfalle, den sich die Natur angemaßt, und die Wahrheit hergestellt werde.“

Empedokles’ Untergang im Krater der Ätna darf durch keine sittliche Handlung, durch kein begleitendes Bewusstsein gestört werden. Nicht einmal der Körper als Spur der Individuation soll zurückbleiben. Bezeichnend in diesem Kontext ist auch Hölderlins oben erwähnte Kritik am Begräbnis im Boden. Der Eingang in die göttliche Heimat wird durch die Loslösung von allem Menschlichen, Nicht-Natürlichen, also von den entzweienden Bewusstseinsstrukturen, allererst ermöglicht. Der Mensch soll der Angleichung an die Elemente nicht durch ein begleitendes Bewusstsein entgegenwirken, ist es doch die Arbeit des Bewusstseins, die das Ur-Teil bzw. die Ur-Teilung verschuldet hat. Das Individuum arbeitet nicht der Preisgabe

„der niedrigen vernunftlosen Individualität und den Kräfften abstracter Stoffe“134 entgegen, sondern ringt nach „Identität mit der überwältigenden Natur“135 und wirft sich „im Zeichen, daß wir ihm Verwandte sind, hinab in heilige Flammen“136.

Auch in Hegels Passagen der Phänomenologie, die sich mit der Beobachtung der Natur auseinandersetzten, entdeckten wir den Nachdruck, der auf die Spontaneität und Freiheit der Natur gelegt wird. In Hegels Abhandlung wurde ihr selbst eine Art von Bewusstsein zuteil, nämlich das sogenannte Selbstgefühl. Bereits an dieser Stelle würde Hölderlin jedoch protestieren: Ebendas Bewusstsein ist ein Zeichen des Menschseins, womöglich sogar das fatalste Symptom seiner Vertreibung aus dem Paradies, aus dem Schoß der Natur. Hegels und Hölderlins Rehabilitationsversuche der Natur stehen sich demnach diametral entgegen: Auf der einen Seite ist Hölderlin davon überzeugt, dass das Unbewusstsein ein Zeichen des Göttlichen und des Gottesnahen ist, aus anderer Perspektive glaubt Hegel, die Natur müsse, soll sie von der Verdinglichung bewahrt werden, als eine bewusste und für Hegel deshalb auch lebendige Entität aufgefasst werden, der er folglich das Selbstgefühl zuschreibt. Zwar verhält sich der Organismus noch nicht selbstbewusst zu sich selber, er hat jedoch bereits die Stufe der „selbstfühlenden“ Selbsterhaltung137 und damit auch eine unmittelbare Stufe der Freiheit erreicht – zielorientiert passt er sich seiner Umgebung oder dem Äußeren an und eignet sich das Äußere als sein Inneres an. Es ist ein Seiendes, das von außen nicht determiniert wird, denn es ist in sich zurückgekehrt, es hat sein Fürsichsein erreicht und tritt dem Äußeren frei gegenüber: Es ist nicht das Äußere, das den Organismus gestaltet, sondern der Organismus selbst – das Innere – eignet sich das Äußere zweckorientiert an.

Trotzdem kann die vom Organismus erreichte Bewusstseinsstufe und damit auch

„Freiheitsstufe“ nicht mit der Bewusstseinsstufe des Menschen gleichgesetzt werden.

Verglichen mit dem menschlichen Bewusstsein, ist das Selbstgefühl noch immer Unbewusstsein, obzwar ein „fühlendes“ Unbewusstsein, das aus Sicht des menschlichen Bewusstseins – wie dies Hegel an seiner Antigone-Interpretation belegt – göttliche Gestalt anzunehmen vermag.

134 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 391.

135 Hölderlin, Grund zum Empedokles, 148.

136 Hölderlin, Der Tod des Empedokles, Dritte Fassung, 130.

137 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 196. „Das Organische zeigt sich als ein sich selbst Erhaltendes und in sich Zurückkehrendes und Zurückgekehrtes.“