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IV. Die verkehrte Welt des französischen Geistes: Diderots Rameaus Neffe in der

2. Die moderne Welt und ihre Bildung – erstes und zweites Zitat aus Rameaus Neffe in

2.2. Durch Entfremdung zur Allgemeinheit

Das Prinzip des sich bildenden Geistes ist die Entfremdung, in der sich das individuelle Bewusstsein als allgemeines setzt. Das Bewusstsein verschafft sich Geltung nur unter der Voraussetzung, dass es sich der Allgemeinheit gemäß macht. Dabei unterscheidet Hegel diese gebildete Allgemeinheit von der geistlosen Allgemeinheit des Rechts. Die Allgemeinheit, auf die nun das Bewusstsein trifft, ist eine durch es selbst im Rahmen der entfremdenden Bewegung hervorgebrachte. Damit handelt es sich um eine geistige Allgemeinheit.

Demnach gilt Folgendes: Je gründlicher das Bewusstsein diese Bewegung durchführt, desto allgemeiner, aber damit auch gebildeter und mächtiger ist es. Hegel formuliert diesen Standpunkt des Bewusstseins in einer möglichen Anlehnung an die englische Aufklärung, die in F. Bacons, bzw. T. Hobbes’ Worten „ipsa scientia potestas est“297 zusammengefasst ist. In Hegels eigenen Worten lässt sich nun der Seinsmodus des Bewusstseins wie folgt darstellen:

„Soviel sie [die Individualität, d. V.] Bildung hat, so viel [hat sie] Wirklichkeit und Macht.“298 Somit besteht der Zweck des Besonderen in seiner Fähigkeit, sich zum Allgemeinen zu bilden. Eine Individualität, die demgegenüber die Absicht hätte, ihre Besonderheit, ihre natürlichen Eigentümlichkeiten als das Wirkliche zu setzen, würde in Kraftlosigkeit oder Nichtigkeit versinken.

Eben in diesem Kontext wird auch zum ersten Mal aus Diderots Rameaus Neffe zitiert. Wie schon oben erwähnt, zeichnet sich Diderots Buch durch eine eigentümliche Komplexität aus.

Auf einen Leser, der nicht Kenner der französischen Aufklärung und ihrer Protagonisten ist, kann die Anzahl der ihm unbekannten und im Dialog erwähnten Personen verwirrend wirken.

Zur schweren Lesbarkeit trägt zudem Rameaus „unkoordiniertes“ Auftreten bei: Oft werden einzelne Gedankenstränge nicht zu Ende gedacht, oft scheint es, die Gesprächspartner fänden in einzelnen Themenbereichen, die sie eröffnen, zu keinem Schluss oder beabsichtigten dies nicht einmal, und der Dialog selbst erscheint nicht als beendet, sondern viel eher als abgebrochen.299

296 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 434.

297 Obzwar diese Worte Francis Bacon zugeschrieben werden, konnten sie in Bacons eigenem Werk nicht belegt werden, belegt können sie demgegenüber in Thomas Hobbes’ Leviathan. „Scientia potentia est, sed parva; quia scientia egregia rara est, nec proinde apparens nisi paucissimis, et in paucis rebus. Scientiae enim ea natura est, ut esse intelligi non possit, nisi ab illis qui sunt scientia praediti.“ Thomas Hobbes, Leviathan, New York: Dover Publications, 2006, 49.

298 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 436.

299 Auch Hegels Zitierweise in der Phänomenologie des Geistes trägt zu keiner Klarheit bei. Im Unterschied zu den Zitaten aus Sophokles’ Antigone werden die übernommenen Textstellen aus Diderots Werk nicht zitiert. Und während Hegel – obwohl nur ein einziges Mal – Antigones Namen nennt, fällt Rameaus Name in der ganzen Phänomenologie kein einziges Mal.

Dem ersten Zitat aus Rameaus Neffen begegnet der Leser als Teil von Hegels Diskussion der Bildung. Wie bereits oben erwähnt, besteht die Bildung in einem Entreißen des Bewusstseins aus seinem natürlichen Zustand. Die natürliche oder spontan erworbene Individualität zeichnet sich nur durch ein „gemeintes Dasein“ aus. Wie der Leser bereits aus dem Abschnitt des Rechtszustandes weiß, ist Hegels Verweis auf das Meinen stets negativ zu deuten:

Merkmal des gemeintes Daseins ist eine ungeistige oder gedankenlose Anhänglichkeit gegenüber dem natürlichen, unmittelbaren oder gegenständlichen Dasein. Die Bildung beruht demnach auf der Überwindung der unmittelbaren, natürlichen Seinsweise des Bewusstseins;

sie macht den Riss, der für das bildende Bewusstsein konstitutiv ist, explizit: An keiner Stelle der Phänomenologie wird die notwendige Tendenz oder geradezu der Drang des Bewusstseins zur Selbstentfremdung bezeichnender als eben auf der Ebene der Kultur der Bildung. Der Riss geht auf der einen Seite zwischen dem natürlichen und dem gebildeten Sein, zwischen dem Ansichsein des Bewusstseins und seinem Fürsichsein, aber auch zwischen der Innerlichkeit des Bewusstseins und seiner Äußerlichkeit hindurch.

Obwohl die Bildung die Beziehung zu all den oben genannten Polen des Bewusstseins modifiziert, steht nun im Vordergrund der Riss zwischen dem gemeinten – d. h. dem bloß natürlichen Sein – und dem durch die Bildung bearbeiteten Bewusstsein. Das nur gemeinte, das unmittelbare Sein, ist das, was Hegel als die „Art“ bezeichnet. Diese ist jedoch, wie Hegel gleich hervorhebt, nicht einfach mit der „Espèce“ gleichzusetzen. Nun fährt Hegel mit dem Zitat aus Diderots Dialog fort: Diese Espèce sei „von allen Spitznahmen der fürchterlichste, denn er bezeichnet die Mittelmäßigkeit, und drückt die höchste Stuffe der Verachtung aus“300. Art – ein deutscher Ausdruck, wie Hegel festhält – fügt dem Verhalten im Unterschied zum französischen Ausdruck „die gute Miene zu“.

Aus diesen etwas kryptischen Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Hegel das, was er als die Art bezeichnet, mit der natürlichen, ungebildeten Seinsweise gleichsetzt, die sich nur zur Mittelmäßigkeit zu bilden vermag. Wenn wir jedoch den Kontext, in dem sich das Zitat im Dialog befindet, näher betrachten, müssen wir zum Schluss kommen, Hegel lese das genaue Gegenteil dessen, worum es Rameau in der Passage geht, hinein.

In der von uns betrachteten Textstelle erläutert Rameau, warum er auf jegliche Erziehung in Beziehung auf seinen Sohn resigniert hat. Wurde seinem Sohn nicht die „väterliche Faser“301 vererbt, so wird er zu einem guten Menschen heranwachsen; falls der Mangel an Redlichkeit jedoch weitergegeben wurde, so würde sich der Vater nicht nur unnütz abmühen, er würde seinem Sohn sogar schaden, denn nichts ist laut Rameau verwerflicher als bloße Mittelmäßigkeit. Sie ist die Folge des Versuches, mit der Natur einen Kompromiss einzugehen: Am Ende ist man weder gut noch böse; und man benimmt sich „linkisch im Guten wie im Bösen“302.

Es scheint demnach, beide Denker verstünden Rameaus Äußerung über die „Espèce der Mittelmäßigkeit“ auf diametral unterschiedliche Weise. Beide verwerfen die Art oder die

300 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 437.

301 Denis Diderot, Rameaus Neffe, Stuttgart: Reclam, 2007, 78.

302 Diderot, Rameaus Neffe, 78.

Espèce als Ziel an sich. Hegel tut dies, weil sich das Bewusstsein in diesem Fall seiner unmittelbaren Natürlichkeit hingibt, Diderot, weil sich der Mensch zu „sehr“ und unnütz fortbildet.

An dem Vergleich der jeweiligen Deutung der studierten Passage tritt hervor, dass Diderot und Hegel die Rolle der Erziehung oder Bildung grundlegend anders auffassen. Während für Hegel ein Mangel an Bildung mit Kraftlosigkeit und Wesenslosigkeit einhergeht, vertritt Diderot in seinem Dialog die Meinung, die Erziehung nütze im besseren Falle nichts, und im schlechteren vereitele sie das Heranwachsen eines „interessanten“ Menschen. Denn nach Diderot ist es besser, ein konsistenter „Taugenichts“ zu sein, als durch Erziehung zu einem

„abgestumpften“ Mittelmäßigen heranzuwachsen.

Rameau, dessen Worte sich Hegel zu eigen macht, und Hegel selbst würden demnach in Bezug auf die Erziehung in diesem Kontext keine gemeinsame Sprache finden. Dies lässt sich mit weiteren Textstellen aus Diderots Dialog belegen. An einer früheren Stelle behauptet Rameau, nur die Natur bilde die seltenen Menschen – die Genies.303 Dabei ist anzunehmen, dass bereits hier Diderots – oder Rameaus – und Hegels Sicht auf die Erziehung auseinandertreten. Es scheint, Rameau vertrete die Annahme einer organischen Entwicklung;

fast ist man im Begriff, eine Art innerer Zweckmäßigkeit anzunehmen, die den Menschen wie die Pflanze hervortreibe.304

Wie wir gesehen haben, stützt sich auch Hegel in der Phänomenologie auf den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, wenn es ihm darum geht, der Mechanisierung der Natur zu trotzen.

Der innere Zweck und ein organisches Heranwachsen ist jedoch mit Hegels Auffassung der Bildung unversöhnlich. Gerade an den nun studierten Textstellen sehen wir doch, welch schmerzliche Erfahrung die Bildung darstellt. Auf keinen Fall ist die Bildung oder die Erziehung als ein friedliches „Aus-sich-Herauswachsen“ zu verstehen, stattdessen hat das Bewusstsein eine leidhafte Entfremdungsarbeit zu leisten. Diese Arbeit wird jedoch nicht oder nicht primär und ausschließlich vom Bewusstsein selbst an sich selbst vollbracht. Stattdessen legt die Welt selber Hand an das Bewusstsein, zeigt seine Grenzen auf und lehrt es, jegliche Originalität des Genies sei nur durch ein Aneignen des gemeinschaftlichen Geistes, nicht in dessen Ablehnung, zu realisieren.

Diese Bewegung der Bildung, die Hegel in den Eingangsparagraphen beschreibt, soll als identisch mit der Bewegung der Entfremdung aufgefasst werden. Die Welt der Bildung ist demnach als eine Welt der Entfremdung zu verstehen. In der Bildung begegnet dem Bewusstsein die Welt in der Gestalt von „unverrückter Wirklichkeit“305. Die Versuche, sich

303 Vgl. Diderot, Rameaus Neffe, 47: „Wer einer Anweisung bedarf, kommt nicht weit. Die Genies lesen wenig, treiben viel und bilden sich aus sich selbst. […] Die Natur bildet diese seltenen Menschen.“

304 In diesem Nachdruck auf ein friedliches Bilden durch sich selber, das durch moderne Erziehung oder Bildung vereitelt wird, können wir eine Nähe zum frühen Werk von Diderots engem Freund Jean Jacques Rousseau beobachten. Von Interesse ist, dass es eben Diderot war, der seinen Freund auf die Idee brachte, mit einem Essay, der der Erziehung jeglichen Wert zur moralischen Vervollkommnung abspricht, an dem geplanten Essay-Wettbewerb teilzunehmen. Rousseau tat gut daran, sich an den Rat seines Freundes zu halten; sein Essay Diskurs über die Künste und Wissenschaften wurde als bester ausgewertet. Dazu siehe Philipp Bloom, Böse Philosophen:

Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, Köln: Carl Hanser Verlag, 2011, 79.

305 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 437.

der Wirklichkeit zu bemächtigen – wie dies auch der Knecht tat –, können abermals nur aufgrund der Bildung gelingen, die im Prozess einer Angleichung an die fremde Wirklichkeit besteht. Bildung gleicht der Entfremdung oder, anders gesagt: Gebildet wird man dadurch, dass man sich fremd zu sein weiß.

Das Bewusstsein sei insofern geistiges, als es sich selbst aufzuheben, als fremdes zu setzen und in dem Fremden den eigenen Strukturen wiederzubegegnen weiß. Das heißt: Das Selbst hat dadurch Bestehen, dass es sich kontinuierlich sich selbst entfremdet und sich abermals dieser Entfremdung entfremdet.306 Die Bildung des Subjekts oder des individuellen Bewusstseins beruht auf der Verwirklichung der Substanz,307 denn „das Selbst ist sich nur als aufgehobenes wirklich“308.