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II. „Neuschaffung“ der griechischen Tragödie im 19. Jahrhundert

1. Hegels Auffassung des griechischen Geistes

1.6. Die Familie in der griechischen Sittlichkeit

Die griechische Familie wird von Hegel anhand den drei grundlegenden Beziehungen zwischen erstens Mann und Frau, zweitens zwischen den Eltern und den Kindern und drittens

148 Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, xxxix. „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“

zwischen den Geschwistern – hierbei in erster Linie zwischen Bruder und Schwester – analysiert. Es fällt auf, dass sich Hegel zu seinen Zwecken der klassischen Analyse des Aristoteles bedient, diese jedoch grundlegend modifiziert. Bekanntlich hat Aristoteles die Familie unter dem Aspekt des Verhältnisses erstens von Mann und Sklave (hé despotiké), zweitens von Mann und Frau (hé gamiké) und drittens von Mann und seinen Kindern (hé patriké) betrachtet.149 Eben an Hegels Modifikation der Familienstruktur wird bereits ersichtlich, dass sich Hegel den Boden für seine Antigone-Interpretation bereitet.

Während Aristoteles diese familiären Beziehungen als Herrschaftsverhältnisse deutet, werden diese von Hegel aus der Perspektive der Dialektik der gegenseitigen Anerkennung, die sich das Bewusstsein auf der Ebene des Selbstbewusstseins erarbeitet hat, betrachtet. Auch aus diesem Grund liegt es nahe, dass Hegel eine Ausführung über die despotische Herrschaft aus seiner Interpretation der griechischen Welt ausgeschlossen hat.150 Stattdessen versteht er das Verhältnis von Mann und Frau als „das unmittelbare sich Erkennen des einen Bewußtseyns im andern und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseyns“151 oder auch als „Einheit des Gefühls“152 und als „gegenseitige Entäußerung“153. Es handelt sich jedoch um ein unmittelbares, natürliches Sicherkennen – „es ist nur ein Bild des Geistes“154. Deshalb soll diese Beziehung zur Geistigkeit gebildet werden. Dies geschieht im Kind: Es vervollkommnet zum einen die Beziehung, ist zudem jedoch auch ein zukünftiger Bürger der Polis; und eben als zukünftiger Bürger stellt das Kind ein Mittel zur Vergeistigung der Beziehung zwischen Mann und Frau dar, die nur im öffentlichen Raume der Polis erfolgen kann.

Die Beziehung zwischen Kind und Eltern erläutert Hegel anhand seiner Begriffe des Fürsich- und des Ansichseins. Die Eltern betrachten das sich entwickelnde Kind als das sich herausbildende eigene Fürsichsein, das sie einst waren. Dieses kindliche Fürsichsein geht jedoch in den Eltern nicht auf, denn gleichzeitig tritt es ihnen gegenüber als eine fremde Wirklichkeit. Umgekehrt erfährt das Kind das eigene Ansichsein in der Gestalt seiner Eltern.

Dieses elterliche Ansichsein stellt jedoch eine sich entziehende und schwindende Wirklichkeit dar. Es geht an das Kind vollständig erst dann über, nachdem seine Eltern in das „ruhige Allgemeine“ eingegangen sind. Im eigenen Tod bringen die Eltern nicht nur ihr Leben zur Vollendung, sondern verhelfen dem Kind zur eigenen Reife: „Denn nur auf Unkosten dieses Verhältnisses kommt sie [die Tochter, d. V.] zu dem Fürsichseyn, dessen sie fähig ist“155. Eine besonders ausgezeichnete Stellung gebührt nach Hegel der Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Diese Beziehung wird als das „unvermischte Verhältnis“156 charakterisiert.

„Unvermischt“ kann in diesem Kontext wohl so viel wie „so geistig wie nur innerhalb der

149 Vgl. Aristoteles, Politica, W. D. Ross (ed.), Oxford–New York –Athens: Oxford University Press, 1957, 1253B und weiter 1259 B.

150 Das Sklaventum der antiken Welt kritisiert Hegel in seinen Vorlesungen über die Weltgeschichte. Eben die Zustimmung zum Sklaventum verdeutlicht, dass die griechische Freiheit nur eine „vergängliche und beschränkte Blume war“, denn teils wich diese Freiheit „einer harten Knechtschaft des Humanen“.

151 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 394.

152 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main: Stuttgart, 1989, 60.

153 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 60.

154 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 394.

155 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 395.

156 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 394‒395.

Familie möglich“ heißen. Das weibliche Glied erhebt sich demnach in dieser Beziehung zu einer für es vollkommensten Geistigkeit: In ihrem Verhältnis zum Bruder „erfährt [sie] die höchste Ahndung des sittlichen Wesens“157.

Im Unterschied zum Mann entbehrt die Frau des Moments der Einzelheit. Nach Hegel geht die Sorge der Frau nur aufs Allgemeine: „Im Hause der Sittlichkeit ist es nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann, Kinder überhaupt.“ Auf Grund einer solchen Charakterisierung des Verhältnisses zu ihrer Umwelt und zur Familie kann die Frau auch nicht Selbstbewusstsein erlangen, denn dies ist durch gegenseitige Anerkennung bedingt.

Falls wir jedoch bemerkt haben, die Frau erkenne in ihren Beziehungen keine Einzelheit158 und gehe demgegenüber nur auf Allgemeines, muss jegliche Anerkennung ihrer Person ausbleiben, und umgekehrt kann auch sie für niemanden Anerkennung aufbringen. Eine Frau ist demnach laut Hegel in der antiken Polis aus der reinen Sittlichkeit, die beide Momente fordert – das Moment der Allgemeinheit wie der Einzelheit –, ausgeschlossen.

Eine bestimmte Art von Anerkennung vermag nur diejenige Frau zu erreichen, die sich als Schwester in ihrem Bruder erkennt. In dieser „begierdelosen Beziehung“ kann es zu einem Gleichgewicht des anerkannten und anerkennenden Bewusstseins kommen. Demnach ist auch die Pflicht der Schwester gegenüber dem Bruder, der ihr die Anerkennung ermöglicht, die höchste; und so beteuert Antigone in Sophokles’ Tragödie, die Bestattung ihres Bruders sei nicht Zeichen ihrer Selbstlosigkeit, sondern sei für sie selbst und damit für ihre Familie Gewinn (kerdos).159 Der Verlust des Bruders ist für die Schwester nämlich unersetzlich,160 wobei die Unersetzlichkeit des geschwisterlichen Bundes auf der Geistigkeit der Beziehung gründet. Dort, wo sich die familiären Beziehungen zu höchster Geistigkeit emporgebildet haben, müssen sie als ewige Bindungen geehrt werden. Deshalb ist Antigones Pflicht, ihren Bruder an die Ewigkeit zu übergeben, absolut.

Am Verhältnis der Schwester und des Bruders, mittels dessen sich die Schwester zur höchstmöglichen Individualität entwickeln kann, wird jedoch auch das Zerbrechen der Familie in zwei Welten bemerkbar: Während die Schwester im Blick auf den Bruder zu einem bestimmten Grad auch an Freiheit Anteil haben darf, ist es ausschließlich der Bruder, der vollkommene Sittlichkeit und die damit verbundene Freiheit und Individualität erreicht.161 Die Schwester lebt zwar im Medium der Sittlichkeit – der Allgemeinheit –, sie ermangelt jedoch des vollkommenen Bewusstseins dieser Sittlichkeit, denn dieses wird nur in der Einzelheit ausgebildet. Der Bruder lässt die Familie – und damit auch die göttliche Welt – hinter sich, um in die Welt des vollen Bewusstseins zu treten („in den Tag des Bewußtseyns“), während sich die Schwester als „Bewahrerin des göttlichen Gesetzes“ aus der Familie und damit auch aus dem unbewussten Aspekt der Wirklichkeit nie vollkommen zu lösen vermag.

157 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 395.

158 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 396. „(…) die Frau entbehrt das Moment, sich als dieses Selbst im anderen zu erkennen.“

159 Vgl. Sophokles, Antigone, Cambridge: Cambridge University Press, 1999, 464.

160 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 397‒398.

161 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 397‒398. „Der Bruder ist die Seite, nach welcher ihr Geist [der Geist der Familie, d. V.] zur Individualität wird, die gegen anderes sich kehrt, und in das Bewußtseyn der Allgemeinheit übergeht.“

Ein sittliches Bewusstsein wird der Frau nur dann zuteil, wenn sie sich mit ihrer Rolle als Bewahrerin der Familie und des ewigen, göttlichen Gesetzes identifiziert. Das Bewusstsein, das im Rahmen der brüderlichen Anerkennung ausgebildet wurde, übernimmt folglich die Rolle des göttlichen Vorstands in der Familie. Diese enge Bindung der Familie bzw. der Frau an das göttliche Reich wird nicht nur von Hegel in der Phänomenologie angenommen, sondern tritt explizit eben in Sophokles’ Antigone in den Vordergrund, und so verkündet Antigone in Sophokles’ Tragödie, dass sie durch ihre Sorge um das Wohl ihrer Nächsten zunächst und am meisten denjenigen zufriedenstellt, den sie am meisten zufriedenstellen soll.162