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Das soziale Gef ¨uge der Bev ¨olkerung

Im Dokument Familie und Memoria in der Stadt. (Seite 41-48)

Die Bev ¨olkerung L ¨ubecks im Sp¨atmittelalter

2.2 Das soziale Gef ¨uge der Bev ¨olkerung

Die umfangreichsten Arbeiten ¨uber die L ¨ubecker Bev ¨olkerung und dem Sozialgef ¨uge der Stadt hat A. v. Brandt in den Jahren 1958 und 1966 vorgelegt und dabei auf ¨alte-re Untersuchungen zur Einwohnerzahl und de¨alte-ren Zusammensetzung in der Hansestadt zur ¨uckgegriffen18. Danach l¨aßt sich die Einwohnerzahl f ¨ur L ¨ubeck im 14. Jahrhundert mit 22 000 bis 24 000 und f ¨ur das Ende dieses Jahrhunderts mit einem Durchschnittswert von 20 000 angegeben: W. Reisner hat in seiner 1903 ver ¨offentlichten Studie als Mindest-17 200 und als Maximalwert 22 300 bestimmt19. Daraus errechnet sich nach dem von H.

Reincke und J. Hartwig vorgelegten Reduktionssatz eine Anzahl von 4 500 Haushalts-vorst¨anden20, welcher im 15. Jahrhundert auf 5 500 ansteigt: Als Grund ist eher an ein Anwachsen der steuerpflichtigen B ¨urger, der Zensiten, zu denken als an eine Zunahme der Gesamteinwohnerzahl21. Da jedoch nicht alle Haushaltsvorst¨ande das l ¨ubeckische B ¨urgerrecht besaßen, geht A. v. Brandt von 3 000 bis 3 500 B ¨urgern aus22.

15Vgl. Brandt, A. v., Der L ¨ubecker Rentenmarkt von 1320–1350, Kiel 1935, S. 20–24 und Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 221f.

16Zur Korrelation vgl. Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 223 und zur Bestimmung der Ursache f ¨ur die zeitweise gegenl¨aufige Entwicklung vgl. Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 221f. Anm. 20.

17Vgl. dazu Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 222:

Da ich in anderem Zusammenhange nach-gewiesen habe, daß die Bewegung auf dem Rentenmarkt ihrerseits die Handelskonjunktur widerspiegelt, jedenfalls jeden handelst ¨orenden Vorgang sofort reflektiert, so ist im ganzen damit die Auffassung best¨atigt, daß derAußenhandelder maßgebende Faktor f ¨ur die sozialen Bewegungen in der Ostseestadt ist“ [Her-vorhebung im Original gesperrt gesetzt].

18Vgl. zur Literatur die Ausf ¨uhrungen in Anm. 2 auf Seite 20.

19Vgl. Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 219; Brandt, A., Die L ¨ubecker Knochenhaueraufst¨ande von 1380/84 und ihre Voraussetzungen. Studien zur Sozialgeschichte L ¨ubeckes in der zweiten H¨alfte des 14.

Jahrhunderts (ZVLGA 39 [1959]) S. 127f.; Reisner, W., S. 68 und 75 sowie Reincke, H., Bev ¨olkerungsprobleme, S. 2.

20Vgl. Reincke, H., Bev ¨olkerungsprobleme, S. 2f. und Hartwig, J., Der L ¨ubecker Schoß bis zur Reformati-onszeit, (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, hrsg. v. G. Schmoller, Bd. 21, Heft 6, Leipzig 1903) S. 133–144.

J. Hartwig rechnet mit einem Reduktionssatz von 4, daß heißt, daß die Familie inklusive dem Gesinde im Durchschnitt vier Personen umfaßt [Hartwig, J., L ¨ubecker Schoß, S. 221].

21Vgl. dazu Brandt, A. v., Knochenhaueraufst¨ande, S. 128; Hartwig, J., L ¨ubecker Schoß, S. 18 und 218.

22Vgl. Brandt, A. v., Knochenhaueraufst¨ande, S. 128.

A. v. Brandt unterteilt die l ¨ubeckische Bev ¨olkerung in vier Sozialklassen, wobei er den jeweiligen Berufsstand als Kriterium f ¨ur die Zuordnung w¨ahlt. An dieser Kategori-sierung hat R. Hammel–Kiesow berechtigte Kritik ge ¨ubt: Eine Einteilung nach den ent-sprechenden Verm ¨ogensverh¨altnissen und der Zuordnung zu den Steuerklassen w ¨urde eher dem sozialen Status entsprechen, dennoch k ¨onnen die von Brandt vorgelegten Sch¨atzungen als zutreffend bezeichnet und f ¨ur eine Bestimmung der Sozialstruktur der l ¨ubeckischen B ¨urgerschaft genutzt werden23. F ¨ur die folgende Auflistung der prozentua-len Verteilung der vier Sozialschichten an der B ¨urger- und an der Gesamtbev ¨olkerung legt A. v. Brandt f ¨ur die Berechnung der B ¨urgerzahl den Mittelwert von 3 200 Personen zugrunde, die das B ¨urgerrecht besaßen24; f ¨ur die folgenden Ausf ¨uhrungen siehe die Tab.

VIII.3 im Anhang A.2 auf S. 465.

A. v. Brandt spricht sich f ¨ur eine Zusammenfassung der beiden oberen Gruppen aus und attestiert der Gruppe II [Gewerblicher Mittelstand] eine fließende N¨ahe zur Kaufmannschaft und zieht bei der j¨ahrlichen Festlegung der Steuerschuld nach den Verm ¨ogens- und Einkommensverh¨altnissen beide Kategorien zusammen25. Aus den Be-obachtungen zum sp¨atmittelalterlichen Grundbesitz in der Hansestadt L ¨ubeck reduziert R. Hammel–Kiesow die Anzahl der Kaufleute auf 500, so daß die Sozialschicht I seiner Meinung nach etwa 600 bis 650 Personen umfaßte. Die gegen ¨uber A. v. Brandt fehlenden 200 B ¨urger rechnet er der Sozialschicht II [Gewerblicher Mittelstand] und III [Handwer-ker und Verlehnte] zu, sagt jedoch nichts ¨uber den diesbez ¨uglichen Verteilschl ¨ussel aus26. Kritik ¨ubt er auch an der v. Brandt’schen Vermischung der Steuerzahler und der steuer-pflichtigen Bev ¨olkerung, die seiner Meinung nach nicht ein und denselben Personenkreis umfassen: Die von A. v. Brandt bestimmte Steuerklasse I umfaßt eben nicht die Gruppe der Sozialschicht I und II, sondern auch der Gruppe III geh ¨orten einige geheim Schoßen-de an, wie schon J. Hartwig zeigen konnte27.

Anhand der Schoßlisten f ¨ur das Jahr 1460/6128ist eine verm ¨ogensabh¨angige Struk-turierung der steuerpflichtigen Bev ¨olkerung der Hansestadt L ¨ubeck m ¨oglich: Zun¨achst stellte J. Hartwig eine Tabelle mit der jeweiligen Steuerschuld sowie der Anzahl der Personen, welche diese Summe zu zahlen hatten, zusammen und R. Hammel–Kiesow

23Vgl. Hammel, R., Hauseigentum, S. 131–135 und 141 sowie Hoffmann, E., L ¨ubeck im Hoch- und Sp¨atmit-telalter, S. 169 und die entsprechende Anm. auf S. 809.

24Vgl. f ¨ur die Tab. VIII.3 die Ausf ¨uhrungen bei Brandt, A. v., Knochenhaueraufst¨ande, S. 128–137 sowie Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 222 und 224.

25Vgl. Brandt, A. v., Knochenhaueraufst¨ande, S. 130:

Von ihnen standen ¨ubrigens mindestens zwei Drittel, n¨amlich die Schiffer und die Brauer, dem Kaufmannsstand so nahe, daß Grenzber ¨uhrungen und ¨Ubertritte aus der einen in die andere Gruppe wohl nicht selten vorkamen“.

26Vgl. Hammel, R., Hauseigentum, S. 137:

Als dritte M ¨oglichkeit aber bietet sich eine Herabsetzung der gesch¨atzten Anzahl an Kaufleuten an [...]. Ann¨aherungen an eine endg ¨ultige Aufkl¨arung lassen sich jedoch erst durch Querschnittsanalysen der Hauseigentumsverh¨altnisse mit erg¨anzenden personengeschichtlichen Untersuchungen gewinnen. Bis dahin gehe ich von einer Zahl von h ¨ochstens 500 Kaufleuten aus, also 600 bis 650 Angeh ¨origen der Sozialschicht I.“

27Vgl. dazu Hammel, R., Hauseigentum, S. 136 und die dortige Anm. 48 sowie Hartwig, J., L ¨ubecker Schoß, S. 170f. und die dortige Anm. 5.

Nach J. Hartwig waren in der Gruppe der geheim Schoßenden auch B¨acker und Gastwirte vertreten [ebd.].

28Siehe dazu die Tab. VIII.4 im Anhang A.2 auf S. 465f.

Bev ¨olkerung L ¨ubecks im Sp¨atmittelalter 25 erg¨anzte diese durch die Bestimmung des zu versteuernden Verm ¨ogens unter Zugrun-delegung eines Steuersatzes von 1.3 Promille29.

Ab einem Verm ¨ogen von 768 Ml ¨ub bestand f ¨ur die Steuerpflichtigen in L ¨ubeck die M ¨oglichkeit des geheimes Schoßes und er war der Rechenschaft ¨uber die versteuerte Summe gegen ¨uber dem Schoßherrn entbunden, so daß bei 820 Personen keinerlei An-gaben ¨uber dessen entsprechende H ¨ohe gemacht werden k ¨onnen. Wieviele von diesen die Grenze von 1 000 Ml ¨ub aus den Luxusordnungen der Jahre 1454 und 1467 ¨ubertra-fen, ist nicht zu ermitteln. Allerdings m ¨ussen einige L ¨ubecker Kaufleute aus dieser Zeit ein h ¨oheres Verm ¨ogen aufgewiesen haben, denn die Luxusordnung des Jahres 1454 ka-tegorisiert bis 4 000 Ml ¨ub und diejenige des Jahres 1467 sogar bis 7 000 Ml ¨ub30. Hierzu m ¨ussen weitere 370 Steuerzahler gerechnet werden, deren Steuerschuld ebenfalls ¨uber 1 Ml ¨ub lag, die aber ¨offentlich schoßten, so daß dieser Gruppe insgesamt 27.8 % der 4 276 Steuerzahler angeh ¨orten. Ein Verm ¨ogen bis knapp 50 Ml ¨ub wiesen 444 Zensiten — 10.4

% — auf; also knapp ein Zehntel. Dazwischen liegt eine Gruppe von 2 642 Personen — 61.8 % —, deren Steuerschuld zwischen 1 und 16 ß und deren Konto bei einem Betrag von ca. 96.15 bis knapp 769.23 Ml ¨ub lag. Als letztes bleibt die Tatsache festzuhalten, daß der Besitz eines Verm ¨ogens unter 4 Ml ¨ub steuerfrei war.

Aus der Tab. VIII.4 im Anhang A.2 ermittelte A. v. Brandt im Jahre 1966 folgende prozentuale Verteilung der Steuerklassen, wobei die

”Grenzen zwischen seinen Steuer-klassen II, III und IV [...] nicht erkl¨art“31werden. Bei der Aufstellung seiner vier Klassen ber ¨ucksichtigt er von den 5 534 Steuerpflichtigen nicht nur die 3 456 ¨offentlich und die 820 geheim Schoßenden Personen, sondern unter ”prozentual ann¨ahernd wahrscheinli-cher Einbeziehung“32auch die 1 258 Nichtzahler.

Die Tab. VIII.5 im Anhang A.2 auf S. 466 best¨atigt in etwa die oben getroffenen Aussagen, auch wenn sich unter Einrechnung der Nichtzahler die Prozentzahlen ver-schieben; dabei ist mit knapp 10% der Unterschied zwischen den Steuerzahlern mit einer Schuld ¨uber 1 Ml ¨ub und den Personen der Steuerklasse I am auff¨alligsten. Trotz dieser Abweichungen erfolgte die ¨Ubernahme dieser v. Brandt’schen Berechnung, da sich dar-an im folgenden seine Argumentation ¨uber die H ¨ohe der armen Bev ¨olkerungsschicht in der Travestadt ankn ¨upft. A. v. Brandt setzte schon in seiner Untersuchung die Steuer-klasse IV zu der armen Unterschicht in Verbindung33. Auf deren 14–prozentigen Anteil an der Gesamtbev ¨olkerung kam er wohl aufgrund der Beobachtungen in bezug auf die 1 258 Nichtzahler des Jahres 1460/61, bei denen bei 403 Personen — also einem knappen

29Vgl. Hartwig, J., L ¨ubecker Schoß, S. 202f. sowie Hammel, R., Hauseigentum, S. 138f. und die dortige Tab.

2. Die beiden angesprochenen Luxusordnungen sind abgedruckt in UBStL IX, Nr. 208 [1454] sowie UBStL XI, Nr. 311.

Die Tab. VIII.4 im Anhang A.2 ist mit leichten ¨Anderungen entnommen Hammel, R., Hauseigentum, S.

138f.

30Vgl. Hammel, R., Hauseigentum, S. 138 sowie zu den Luxusordnungen UBStL IX, Nr. 208 [1454] und UBStL XI, Nr. 311 [1467].

31Hammel, R., Hauseigentum, S. 138.

32Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 227.

33Vgl. Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 228:

Steuerklasse IV = arme Unterschicht“.

Drittel — der jeweilige Grund angegeben war.

Die Bestimmung der Prozentzahlen34 ergibt einen Satz von 30.5 % [Gruppe A], die von der Steuer aufgrund ihres Standes als Kleriker, als Bediensteter von Geistlichen bzw.

der Stadt oder Nutznießer einer Stiftung befreit waren. In ¨uber der H¨alfte der F¨alle, ge-nau 55.6 % [Gruppe B], war der Zensit verstorben bzw. aus der Stadt fortgezogen und bei 13.9 % [Gruppe C] wurde Zahlungsunf¨ahigkeit aufgrund von Armut angegeben. An-schließend extrapoliert A. v. Brandt diese ermittelten Prozentzahlen auf die Gesamtzahl der 1 258 Zensiten und errechnet, das im Jahr 1460/61 die Gruppe A 384, die Gruppe B 699 und die Gruppe C 175 Personen umfaßte. Auch wenn die Zahl von 384 Geistlichen unter Ber ¨ucksichtigung ihrer Bediensteten in etwa mit den f ¨ur diese Zeit von J. Hartwig in L ¨ubeck ans¨assigen 300 bis 350 Klerikern ¨ubereinstimmt, so muß zum einen ber ¨uck-sichtigt werden, daß sicherlich ein Großteil dieser Gruppe ¨uber keinen eigenen Haushalt verf ¨ugte, wie etwa die Ordensgeistlichen der Stadt L ¨ubeck35. Zum anderen ist diese Ex-trapolation nicht nur statistisch betrachtet ¨außerst fragw ¨urdig und unkorrekt: Wie kann

¨uber eine Gruppe eine Aussage getroffen werden, sofern nur bloße Zahlen und keine weiteren Angaben zur Verf ¨ugung stehen.

Somit verbleibt aus den Schoßlisten des Jahres 1460/61 die Zahl von 56 Haushalten stehen, welche am Existenzminimum lebten: Wenn man bei dieser sozialen Schicht eben-falls von vier Mitgliedern pro Haushalt ausgehen k ¨onnte, k¨ame man auf 224 Arme in der Hansestadt L ¨ubeck. Doch ist auch dies mit aller Vorsicht zu genießen, da keinerlei Unter-suchungen ¨uber die Gr ¨oße der Haushaltungen der bed ¨urftigen Unterschicht vorliegen.

V ¨ollig im Rahmen der Spekulation bleibt die Tatsache, wieviele Haushaltsvorst¨ande ¨uber ein Verm ¨ogen von unter 4 Ml ¨ub verf ¨ugten, da diese Gruppe aufgrund ihrer Steuerfreiheit gar nicht in den Schoßregistern auftaucht. Energisch zur ¨uckzuweisen ist die Feststellung A. v. Brandt,”daß die wirklicheArmut[...] von 14 % repr¨asentiert wird“36. Diese von ihm angenommene 14–prozentige Beteiligung an der Gesamtbev ¨olkerung scheint er aus den knapp 14 % von 403 wegen Armut nichtzahlenden bzw. nicht zahlungsf¨ahigen Steu-erpflichtigen zu nehmen. Dies ist, wie bereits gesagt, eine nicht zul¨assige Extrapolation, doch f ¨ur A. v. Brandt war sie wohl Realit¨at, denn er rechnet bei einer Gesamtzahl von ungef¨ahr 25 000 Einwohner mit 3 500 Bed ¨urftigen in der Travestadt.

34Siehe dazu im folgenden die Tab. VIII.6 im Anhang A.2 auf S. 467.

35F ¨ur die Zahl der Kleriker in L ¨ubeck vgl. Hartwig, J., Die Frauenfrage im mittelalterlichen L ¨ubeck (HGBll 14 [1908]) S. 45 sowie die Ausf ¨uhrungen im Abschnitt II.4.1 auf S. 43ff. sowie die Tab. VIII.8 und VIII.9 im Anhang A.4 auf S. 468f.

36Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 228 [Hervorhebungen wie im Original]. Einige Seiten weiter wiederholt A. v. Brandt diese Feststellung:

Aber ein echter sozialer Notstand, auch im Sinne der Zeit selbst, scheint doch nur bei den erw¨ahnten rund 14% vorgelegen zu haben. [...] Immerhin ist ja auch f ¨ur die Zeit um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine Zahl von 3 000 wirklich Armen oder Hilflosen nicht leicht zu nehmen, zumal da in ihr die rund 600 versorgten Insassen der Hospit¨aler, Armenh¨auser usw. h ¨ochstens zur H¨alfte schon enthalten sind, so daß die Gesamtzahl wohl eher an 3 500Armeheranreichen d ¨urfte“ [Brandt, A. v., Gesellschaftliche Struktur, S. 237; Hervorhebung wie im Original].

Bev ¨olkerung L ¨ubecks im Sp¨atmittelalter 27 2.3 Die Pest in L ¨ubeck

Der schwarze Tod suchte die Stadt an Trave und Wakenitz zum ersten Mal im Jahre 1350 heim und dann bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts in unregelm¨aßigen Abst¨anden: 1358, 1367, 1376, 1388, 1391 und 140637. Mit Hilfe der publizierten Quellen, der L ¨ubeckischen Chronik und der L ¨ubecker Testamentsregesten, soll nun beispielhaft f ¨ur die Jahre 1350 sowie 1358 der Beginn und die Dauer der Epidemie herausgearbeitet werden38.

Die Chronik des Franziskanerm ¨onches und Lesemeisters an St. Katharinen Detmar verzeichnet unter anderem zum Jahr 1350:

In deme sulven jare des somers van pinxsten bet to sunte Mychaelis daghe do was so grot stervent de lude in allen Dudeschen landen, dat des ghelikes ne was ervaren [...]39.

Dieser Angabe folgt mit Ausnahme von H. H ¨olzel bislang die gesamte Forschung, wel-che sich mit dem schwarzen Tod besch¨aftigt hat und datiert die Epidemie auf den Zeitraum vom 16. Mai [Pfingsten] bis zum 29. September [Michaelis]40. Doch schon F. Techen wies in der Studie ¨uberDie B ¨urgersprachen der Stadt Wismarauf das Fehlen eines ausdr ¨uck-lichen Bezuges auf L ¨ubeck in der Erz¨ahlung von Detmar hin41. N¨ahere Ausk ¨unfte zu den Verh¨altnissen in L ¨ubeck direkt bietet uns ein lateinischer Vers, welcher in der Handschrift der ¨altesten Ratslinie ¨uberliefert ist:

M tria CCC quinquageno domini fuit anno, a pe pau pet

’mors anxia cum fuit etri:

in Lubeck etrum cladem notat atque venenum quo lux defunctos quingentos una ferebat.42

37Vgl. zu den Pestjahren CDS 19, Detmar III Art. 681, 698, 729 und 772 sowie CDS 26, Detmar IV, Art. 896 und Detmar V, Art. 1119; Hoffmann, E., L ¨ubeck im Hoch- und Sp¨atmittelalter, S. 309f.; Peters, E., Das große Sterben des Jahres 1350 in L ¨ubeck und seine Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Struktur der Stadt (ZVLGA 30 [1940]) S. 33–39 und 139–147; Nicolaisen, H. D., L ¨ubecker Hausbesitzer 1300–1370. Ei-ne sozialgeschichtliche Studie, Kiel 1954 [MaschiEi-nenschriftliche Dissertation/CAU], S. 77–120 sowie Bruns, F., Der L ¨ubecker Rat. Zusammensetzung, Erg¨anzung und Gesch¨aftsf ¨uhrung von den Anf¨angen bis ins 19.

Jahrhundert (ZVLGA 32 [1951]) S. 14.

Zur Zitation der Detmar–Chroniken siehe das Abk ¨urzungsverzeichnis auf S. 421.

38Vgl. CDS 19, Detmar III, Art. 681 und 698 sowie Brandt, A. v., Regesten der L ¨ubecker B ¨urgertestamente des Mittelalters I: 1278–1350 (Ver ¨offentlichungen zur Geschichte der Hansestadt L ¨ubeck, hrsg. v. Archiv der Hansestadt, Reihe A, Bd. 18, L ¨ubeck 1964) Nrn. 293–418 und Brandt, A. v., Regesten der L ¨ubecker B ¨urger-testamente des Mittelalters II: 151–1363 (Ver ¨offentlichungen zur Geschichte der Hansestadt L ¨ubeck, hrsg. v.

Archiv der Hansestadt, Reihe A, Bd. 24, L ¨ubeck 1973) Nrn. 659–751.

39CDS 19, Detmar III, Art. 681 [S. 521].

40Vgl. H ¨olzel, H., Zuwendungen an Kirchen und kirchlichen Einrichtungen in L ¨ubecker Testamenten.

Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades (M. A.) am Fachbereich Historisch–Philologische Wissen-schaften der Universit¨at G ¨ottingen, G ¨ottingen 1988 [Maschinenschriftliches Exemplar] S. 145f. und Peters, E., S. 34.

41Vgl. Techen, F., Die B ¨urgersprachen der Stadt Wismar (Hansische Geschichtsquellen, N.F. Bd. 3, Leipzig 1906) S. 210–212.

42Wehrmann, C., Der Memorienkalender (Necrologium) der Marien Kirche in L ¨ubeck (ZVLGA 6, 1 [1890]) S. 106; vgl. auch CDS 19, Detmar III, Art. 681 [S. 522 Anm. 2] . Zur Bedeutung des Wortes etri vgl. die Ausf ¨uhrungen bei Mantels, W., ¨Uber die beiden ¨altesten L ¨ubeckischen B ¨urgermatrikel (Beitr¨age zur l ¨ubisch–

Diese beiden Quellen nennen unterschiedliche Daten f ¨ur den Zeitraum der Pest-epidemie und es bleibt zu fragen, inwieweit fundiertere Aussagen noch gemacht werden k ¨onnen. Im Abschnitt III.3Die Testamenteauf den S. 93ff. kann ein deutliches Ansteigen der letztwilligen Verf ¨ugungen zu den entsprechenden Jahren festgestellt werden43. Ei-ne Aufsplitterung der Verf ¨ugungen nach Ausstellungsmonaten k ¨onnte wom ¨oglich eiEi-ne klare Abgrenzung der Epidemie des Jahres 1350 bringen; zum Vergleich sind die entspre-chenden Zahlen f ¨ur die Jahre 1349 und 1351 mit angegeben44.

Der sprunghafte Anstieg der Testamentsausstellungen in den Monaten M¨arz und Mai und der darauffolgende Abfall kann nur insoweit mit der Pestepidemie in Zusam-menhang gebracht werden, als daß die Nachricht vom Heranr ¨ucken des schwarzen Todes nach L ¨ubeck durchgedrungen ist; erst die Monate Juli bis September bieten etwa gleich-bleibend hohe Zahlen an letztwilligen Verf ¨ugungen. Vergleicht man diese Beobachtun-gen mit den Angaben aus der Detmar’schen Chronik und der ¨altesten Ratslinie, ist fest-zuhalten, daß jeweils eine ¨Uberlieferung eine korrekte Zeitangabe bietet: Detmar steht f ¨ur das Ende der Epidemie am 29. September und der lateinische Vers f ¨ur den Beginn am 29. Juli45.

Die obige Methode l¨aßt sich nun ebenfalls anwenden, um den Zeitraum der zwei-ten Pestepidemie in L ¨ubeck im Jahre 1358 festzustellen46. Die Testaments ¨uberlieferung diesen Jahres zeigt einen deutlichen Anstieg im Monat August, der sich bis zum Novem-ber auf nur leicht abfallendem Niveau fortsetzt. Die genauere Betrachtung zeigt, daß das letzte Drittel des Monats August mit zw ¨olf Testamenten gegen ¨uber dem ersten mit drei und dem zweiten mit f ¨unf letztwilligen Verf ¨ugungen als Anfangspunkt zu bezeichnen ist; der Endpunkt f¨allt wohl in das zweite Drittel des Monats November.

Ein Blick in die Aufzeichnungen Detmars scheint dieser Beobachtung allerdings zu widersprechen:

in deme jare Christi 1359 des somers was grot stervent in allen steden bi der zee, unde warde to deme Sunde aller lenghes bet na twelften47.

hansischen Geschichte. Ausgew¨ahlte historische Arbeiten, Nr. 2, Jena 1881) S. 62f. und Anm. 3 der S. 62/63 Ubersetzung nach H. H ¨olzel:¨

Es geschah im Jahre 1350 des Herrn,

als zwischen dem 29. Juni und 1. August Angst bringender Tod der Pest herrschte:

die Pest zeigte f ¨ur L ¨ubeck das Ungl ¨uck und das Gift an, durch das ein einziger Tag 500 Tote brachte“.

[H ¨olzel, H., Zuwendungen, S. 146]. Zur Datierung vgl. Wehrmann, C., Der Memorienkalender, S. 106.

43Vgl. dazu die Ausf ¨uhrungen im Kapitel III.3 auf S. 93ff. und die dort getroffenen Aussagen zur Moti-vation, welche hier nicht vorausgenommen werden sollen, aber f ¨ur das Verst¨andnis des Zusammenwirkens von Epidemien und Testamentserstellung wichtig sind.

44Siehe dazu die Tab. VIII.7 im Anhang A.3 auf S. 467.

45Vgl. zu diesen Ausf ¨uhrungen auch H ¨olzel, H., Zuwendungen, S. 145f.

46Siehe dazu die Tab. VIII.7 im Anhang A.3 auf S. 467.

47CDS 19, Detmar III, 698.

Bev ¨olkerung L ¨ubecks im Sp¨atmittelalter 29 Welcher Quelle k ¨onnen wir nun glauben, Detmar oder den ¨uberlieferten Testamen-ten? Ein Blick in den Fußnotenapparat der Edition zeigt, daß Detmar sich mit der Jah-resangabe vertan haben muß: Dort wird f ¨ur Madgeburg 1357 und f ¨ur Hamburg 1358 als Pestjahr ausgewiesen48. Nun liegt Magdeburg sicherlich nicht an der See, aber es kann nicht erkl¨art werden, warum die Pest in L ¨ubeck erst im Sommer 1359 gew ¨utet haben soll, w¨ahrend das nur 70 km entfernte Hamburg von dem schwarzen Tod bereits ein Jahr zuvor heimgesucht worden war. So ist als Ergebnis die Zeitspanne von Ende August bis Ende November 1358 festzuhalten.

48Vgl. CDS 19, Detmar III, Art. 697 und die dazugeh ¨orige Anm. 2 sowie Koppmann, K., Zur Geschichte der Seuchen (Mittheilungen des Vereins f ¨ur Hamburgische Geschichte, Nr.1 [1878]) S. 127–130.

Im Dokument Familie und Memoria in der Stadt. (Seite 41-48)