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Sintflut und Fossilien

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 30-34)

2. Johann Jakob Scheuchzer

2.3. Sintflut und Fossilien

Scheuchzers Interesse an Versteinerungen war schon in jungen Jahren durch seinen Vater und Johann Jacob Wagner geweckt worden. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Pflanzen oder Tieren wurden Fossilien auch Figurensteine, lapides figuratae, genannt, und ihre Herkunft gab Anlass zu zahlreichen Spekulationen. Manche Gelehrte führten ihre Entstehung auf eine magische Kraft der Sterne oder der Meteoriten zurück und schrieben ihnen damit einen schicksalsbestimmenden Einfluss zu. Für andere waren sie göttliche Wunder-zeichen. Wieder andere verglichen die Figurensteine mit lebenden

Organis-men und deuteten zumindest manche von ihnen als versteinerte Überreste oder Abdrücke organischen Materials. Diese Steine wurden Petrefakte oder Versteinerungen genannt. Oft jedoch hielten die Gelehrten die Figurensteine für eine Spielerei der Natur, die gelegentlich aus einer versponnenen Laune heraus pflanzliche oder tierische Organismen nachahmte. Solche Steine wurden deshalb als Naturspiel, lusus naturae, bezeichnet.5

Die Frage nach der Entstehung der Berge und der Herkunft der Verstei-nerungen, insbesondere der versteinerten Meerestiere, die man ja selbst auf den höchsten Bergspitzen fand, ist eng verknüpft mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Sintflut.

Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wurden etliche wissenschaft-liche Theorien der Sintflut, die als das zentrale und entscheidende Ereignis der Erdgeschichte galt, entworfen. Sie bildeten lange Zeit das vorherrschende Erklärungsmuster in der Geologie und Paläontologie. Als eigenständige Wis-senschaft nahm die moderne Fossilienkunde hier ihren Ausgang.

Die Sintflut rückte ins Zentrum der theoretischen Reflexion über die Geschichte der Natur und des Menschen. Sie wurde damit zum Ausgangs-punkt einer diskursübergreifenden, insofern «interdisziplinären» Theorie, die Natur- und Geschichtswissenschaft, Geologie und Anthropologie miteinander verband. Dabei bildeten Wissenschaft und Religion eine untrennbare Einheit, da Erdgeschichte und Heilsgeschichte zusammengedacht wurden. Was in diesem Kontext also als Sintfluttheorie bezeichnet wurde, war somit letztlich nichts anderes als eine Art wissenschaftliche Weltgeschichtstheologie.6

Auch Johann Jakob Scheuchzer setzte sich mit dem biblischen Unwetter auseinander. Als leidenschaftlicher Sammler von Figurensteinen suchte er ins-besondere den Kontakt zu ausländischen Fossilienforschern. Dabei visierte er vor allem Wissenschaftler aus dem Umfeld der Londoner Royal Society an. Eine erste briefliche Verbindung gelang ihm 1699 mit Martin Lister (1639–1712), einem ausgezeichneten Kenner der Schalentiere (Konchylien) Englands. Lister bestritt, dass die Figurensteine Überreste von Lebewesen seien. Scheuchzer übernahm Listers Methode zur Klassifizierung der Konchylien. Am 5. Februar 1695 hielt er im Collegium der Wohlgesinnten den Vortrag Von den conchitis, oder muschelsteinen.7 Darin deutete er die versteinerten Muscheln wie Lister als Naturspiele. Ihre Entstehung führte Scheuchzer auf einen zuvor unbekannten steinbildenden Saft, den «succus lapidificus», zurück.8 In der 1697 erschiene-nen Schrift De generatione conchitarum legte er dar, die Versteinerungen seien

5 Vgl. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 57.

6 Ebd., S. 15.

7 Vgl. Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner (2002), S. 370.

8 Vgl. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 61.

anorganischen Ursprungs. Durch ein kompliziertes Spiel mechanischer Kräfte seien den Muscheln und Schnecken ähnliche Gebilde erzeugt worden.

Inzwischen war John Woodward (1665–1728), ein anderer englischer Fos-silienforscher, in Scheuchzers Blickfeld geraten. Woodward hatte Anatomie, Botanik und Medizin, daneben auch Geschichte, Geografie, Mathematik und Philologie studiert. 1693 wurde er Mitglied der Royal Society und 1695 Doktor der Medizin. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit galt sein Hauptinteresse der physischen Entwicklung der Erde. Die Frucht seiner Studien bildete der Essay towards a Natural History of the Earth (1695).

Woodward war Vertreter der Sintfluttheorie, deren Kernthese die Diluvial-these ist, wonach Fossilien keine zufällig entstandenen Bildungen der unbe-lebten Natur beziehungsweise keine Naturspiele seien, sondern versteinerte Lebewesen, die der Sintflut zum Opfer gefallen und nach dem Rückgang des Sintflutwassers in den noch weichen Erdschichten eingelagert worden seien.

Die Fossilien lieferten den Sintfluttheoretikern den Schlüssel zur Deutung der Erdgeschichte. Die Sintflut wurde zum historischen Knotenpunkt, der die Geschichte der Natur und die Geschichte des Menschen miteinander verknüpfte.9

Scheuchzer hatte seinen Kontakt zu Woodward der Initiative seines ehe-maligen Schülers, des Naturforschers Johann Heinrich Leopold zu verdanken.

Woodward lud Scheuchzer zu einem commercium litterarium ein und in der Folge entfaltete sich zwischen den beiden Gelehrten ein intensiver Paket- und Briefwechsel.

Scheuchzer öffnete Woodward das Tor zur ausserenglischen Gelehrten-welt. Er übersetzte den Essay towards a Natural History of the Earth auf Latei-nisch und ebnete damit der Sintfluttheorie des Londoner Arztes den Weg zur breiten Rezeption. Das Latein war, vor allem auf dem Kontinent, noch immer die vorherrschende Gelehrtensprache.

Darüber hinaus koordinierte Scheuchzer wichtige Briefverbindungen Woodwards zum Kontinent. Dies galt für die Schweiz, Deutschland und Italien, vor allem aber für Frankreich, denn der Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges erschwerte eine direkte Kommunikation zwischen englischen und französischen Gelehrten. Umgekehrt schloss Woodward Scheuchzer die Tür zur englischen Gelehrtenwelt auf und verschaffte ihm den lang ersehnten Zugang zur Royal Society.

Am 21. Juli 1703 stellte Woodward an einer Sitzung der Royal Society das Specimen lithographiae Helveticae curiosae (1702), Scheuchzers erstes grösseres Werk über schweizerische Fossilien, vor. Darin stellte Scheuchzer

9 Ebd., S. 28.

die Diluvial- und die Naturspielthese gleichberechtigt nebeneinander, ohne sich auf eine der beiden festzulegen.10

Woodward besprach die Publikation für die Philosophical Transactions11 und legte die Rezension einem Brief an Scheuchzer bei, in dem er ihn zu wei-teren Naturbeobachtungen in den Alpen ermunterte. Gleichzeitig versprach er ihm, sich für seine Aufnahme als Mitglied der Royal Society einzusetzen.

Im Oktober 1703 erhielt Scheuchzer die Mitteilung von Woodward, dass einige Mitglieder der Royal Society erstaunt gewesen seien über Scheuchzers Unentschiedenheit im Specimen hinsichtlich des Ursprungs der Fossilien. Es seien sich mittlerweile alle einig darin, dass die Diluvialthese die einzig richtige sei. Scheuchzer wurde damit von Woodward regelrecht unter Druck gesetzt.

Tatsächlich verwarf er schon bald darauf endgültig die Naturspielthese und bekannte sich, vorerst noch privat im Brief, zur Diluvialthese Woodwards.

Schliesslich trugen Woodwards Bemühungen Früchte und Scheuchzers Traum ging in Erfüllung. Im Jahr 1704 wurde er Mitglied der Royal Society, die unter dem Vorsitz von Isaac Newton stand.

1706 folgte Scheuchzers öffentliches Bekenntnis zur Diluvialthese in der deutschsprachigen Wochenschrift Natur-Geschichten des Schweizerlands: «Es ist aber disere Materi sint wenig Jahren so eiferig erforschet / und die Steine mit denen Meer Geschöpften so fleissig und sorgfältig verglichen worden / das nunmehr ein vernünftiger Mensch nicht zweiflen kan an herkunft der meisten so genanten figurierten Steinen von der Sündflut.»12

1708 veröffentlichte Scheuchzer seine erste grössere Abhandlung über Fossilien, eine Schrift über versteinerte Fische mit dem Titel Piscium querelae et vindiciae (Klagen und Rechtsansprüche der Fische). Der Aufsatz gehört zu den aussergewöhnlichsten und bemerkenswertesten Publikationen in der Geschichte der Paläontologie. Sein Inhalt zerfällt in zwei Teile. Der erste stellt eine Art Fabel dar, in der in einem Gerichtsverfahren die Gegner der Diluvialthese angeklagt werden. Als Ankläger und zugleich Hauptzeuge tritt der Lucius antediluvianus auf, ein im Steinbruch von Öhningen am Boden-see gefundener versteinerter Hecht, der dem auf der Anklagebank sitzenden Anhänger der Naturspielthese seine wahre Identität als Sintflutpetrefakt vor Augen führen will. Der zweite Teil enthält Abbildungen verschiedener

10 Ebd., S. 103.

11 Woodward, Specimen Lithographiae Helveticae curiosae, quo Lapides ex Figuratis Helveticis Selectissimi Aeri incisi sistuntur & describuntur, a Johanne Jacobo Scheuchzero, M. D. Figuri, 1732, 8vo, in: Philosophical Transactions 291 (1704), S. 1604–1606.

12 Scheuchzer, Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands (1706–1708), Teil I, S. 90.

versteinerungen mit entsprechenden Fundbeschreibungen und anatomischen Analysen.

In seiner Fossilienklassifikation geht Scheuchzer davon aus, dass vor und nach der Sintflut eine Konstanz der Arten in der Natur herrschte. Im Auftrag Gottes habe die Arche Noah ein fortpflanzungsfähiges Paar jeder Tierart transportiert und damit den kompletten Artenbestand von der antediluvialen Welt in die postdiluviale hinübergerettet. Indem auf diese Weise die vorsint-flutliche Kette der Wesen mit der nachsintvorsint-flutlichen verknüpft wird, bleibt der Artenbestand gesichert. Dementsprechend müssten die noch lebenden Arten mit den in der Sintflut untergegangenen und daraufhin versteinerten identisch sein. Folglich liesse sich jedem Fossil ein entsprechendes lebendes Exemplar derselben Art zuordnen. Sofern von jeder Art zumindest ein Lebewesen ver-steinert erhalten sei, müsste sich also die scala naturae in einer entsprechenden scala fossiliae abbilden lassen. Eine solche Fossilienskala wäre jedoch erst voll-ständig, wenn sich für jede Fossilienart ein lebendes Exemplar und umgekehrt für jede existierende Art ein versteinertes Exemplar finden liesse.13

Komplett konnte eine scala fossiliae der Sintflut nur dann sein, wenn sich auch versteinerte Überreste des antediluvialen Menschen finden liessen. Des-halb suchten die Diluvianer mit besonderem Eifer nach fossilen Menschenres-ten. 1705 glaubte Scheuchzer in den Resten zweier Riesensalamanderfossilien, die man im Steinbruch von Öhningen aus den Süsswasserkalken ausgegraben hatte, die versteinerten Überreste von Menschen, die in der Sintflut ertrunken waren, gefunden zu haben.

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 30-34)