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Naturforschung als kollaboratives Unternehmen

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 173-177)

Die empirisch ausgerichtete Naturforschung in der Frühen Neuzeit war mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden, der von einem Gelehrten alleine nicht bewältigt werden konnte. Es ist in der Forschung unbestritten, dass viele, oftmals unsichtbare Helfer an der Wissensproduktion beteiligt waren. Dabei spielte das soziale Umfeld eines Gelehrten eine wesentliche Rolle. Frühneu-zeitliche Naturforschung war häufig ein Familienprojekt, an dem Ehefrauen, Kinder, Brüder oder Schüler mitwirkten.

Ziel dieser Studie ist es, die hinter Johann Jakob Scheuchzer im Verborge-nen liegenden Mechanismen der Wissensgenerierung sowie die Funktion der Personen, die an der Produktion beteiligt waren, aufzuzeigen. Dieser Aspekt ist bisher kaum erforscht worden. Konkret fragt die Untersuchung nach der Mitarbeit der Ehefrau Susanna Vogel, der gemeinsamen Kinder, des Bruders Johannes und dreier Vertreter seiner Schülerschaft sowie von «Ungelehrten»

wie Bauern oder Jäger. Die wichtigsten Befunde sind folgende:

1. Susanna Vogel war ohne Zweifel eine Gehilfin bei der wissenschaft-lichen Tätigkeit ihres Ehemannes. Trotz schwieriger Quellenlage wird sicht-bar, dass sie nicht nur im Hintergrund agierte. Nachweislich begleitete sie Scheuchzer auf eine Bäderfahrt, die der Auftakt zur dritten Alpenreise war.

Sie war nicht nur anwesend, wenn Scheuchzer Besucher durch seine Samm-lung führte, sondern demonstrierte sogar die Funktion eines Apparates zur Herstellung von Kerzen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hatte Susanna Vogel die Handhabung des Barometers erlernt und nahm die täglichen Messungen während der Abwesenheit ihres Ehemannes in Zürich vor.

Ein weiteres Indiz dafür, dass Susanna Vogel sich in Scheuchzers Arbeits-räumen aufhielt, liefern die Schilderungen in den Reisetagebüchern der Besu-cher. Sie erlauben Rückschlüsse auf das räumliche Arrangement in Scheuchzers Wohnhaus. Offenbar war seine Sammlung im ganzen Haus verteilt und er verfügte über keine gesonderte Studierstube. Eine Trennlinie zwischen weib-lichen und männweib-lichen Lebensbereichen ist demzufolge kaum auszumachen.

Scheuchzers Wohnsituation ist sicher kein Einzelfall. Es ist anzunehmen, dass viele Gelehrte räumliche Strukturen bewohnten, die weit «offener» waren, als in der Forschung angenommen wird.

2. Scheuchzer hatte vier Söhne, von denen nur Johann Kaspar die gleiche berufliche Laufbahn wie sein Vater einschlug. Mit der Entscheidung, den Sohn nach England zu schicken, gelang es Scheuchzer, eine direkte Verbindung zur englischen Gelehrtenwelt, insbesondere zu den Mitgliedern der Royal Society,

herzustellen. Unglücklicherweise verstarb Johann Kaspar schon früh. Damit verlor Scheuchzer den einzigen Nachkommen, der sein wissenschaftliches Erbe hätte weiterführen können.

3. Weitaus wichtiger als seine Söhne war der jüngere Bruder Johannes für Scheuchzers wissenschaftliche Tätigkeit. Im Kreis der Schüler hatte Johann Jakob ihn in Medizin und Naturwissenschaften unterrichtet. Er förderte Johannes, spornte ihn an und lenkte seinen beruflichen Werdegang. Seine Bemühungen waren nicht umsonst. Johannes entwickelte sich zu einem bedeutsamen Mitarbeiter. Durch seine häufigen Auslandaufenthalte wurde er zu einem Lieferanten von ausländischen Naturalien, manchmal handelte er auch im Auftrag des älteren Bruders. Besonders wichtig war seine Funktion als «Auslandvertreter» des Familienunternehmens. Johannes traf sich mit ausländischen Gelehrten und pflegte so nicht nur sein eigenes, sondern auch das Netzwerk seines Bruders und ergänzte dessen briefliche um persönliche Kontakte.

Johann Jakob Scheuchzer sah in dem jüngeren Bruder einen bedeutenden Assistenten und weniger einen gleichgestellten Partner. Mit seinen Forschun-gen auf dem Gebiet der Gräserkunde gelang es Johannes Scheuchzer schliess-lich, eine Nische in der Naturgeschichtsschreibung zu finden, die von seinem Bruder noch nicht besetzt war.

4. Weitere wichtige Helfer gingen aus dem Kreis von Scheuchzers Schülern hervor. Zweifelsohne war der finanzielle Aspekt ein relevantes Kriterium für die Aufnahme von Pensionären. Zentral war jedoch auch Scheuchzers Absicht, durch die Schüler sein Beziehungsnetz zu erweitern und über zukünftige bereitwillige Mitarbeiter zu verfügen.

In der Studie wurden drei Beispiele aus Scheuchzers Schülerschaft unter-sucht. Sie dokumentieren die Bedeutsamkeit dieser Personengruppe. Sie waren wichtige Informations- und Naturalienlieferanten, am Vertrieb von Scheuchzers Publikationen beteiligt und ermöglichten Kontakte zu anderen bedeutenden Gelehrten. Jedoch lässt dieses Ergebnis nicht den Schluss zu, dass es Scheuchzer gelang, alle Schüler als Mitarbeiter zu rekrutieren. Doch in Anbetracht der grossen Zahl von Pensionären, die ihr Lehrjahr bei Scheuchzer verbracht haben, wird die von ihnen erbrachte Menge von Informationen und Objekten beträchtlich gewesen sein.

5. Für Scheuchzers Vorhaben, die Natur der gesamten Schweiz zu erfassen, waren Auskünfte von Personen, die ihre Arbeit in der Natur verrichteten und sich häufig auch in kaum erschlossenen Gebieten aufhielten, unentbehrlich.

Das Wissen von «Ungelehrten» wie Bergarbeitern, Bauern oder Jägern über die lokale Natur wurde von Scheuchzer geschätzt und für glaubhaft ange-sehen. Ihre Berichte flossen in seine Publikationen ein, wobei Scheuchzer

die Informanten nicht namentlich erwähnt, lediglich ihren Beruf nennt. Die Kennzeichnung als Jäger oder Bauer erhöhte die Glaubwürdigkeit seiner wis-senschaftlichen Arbeit, denn ihr spezifisches Berufswissen galt als verbürgt.

Die Beschäftigung mit den Mechanismen der Wissensgenerierung führte unweigerlich auch zur Beschäftigung mit den Orten, an denen das Wissen gewonnen wurde. Scheuchzer sammelte Informationen aus unterschiedlichs-ten Quellen wie Briefen, Augenzeugenberichunterschiedlichs-ten oder Büchern. Eine wichtige Komponente seiner Forschung waren die jährlichen Bergreisen. Gemeinsam mit den Schülern sammelte er Pflanzen, Versteinerungen oder Kristalle und führte barometrische Höhenmessungen durch. Während der Alpenreisen wurden auch Heilbäder aufgesucht. Dort traf sich Scheuchzer häufig mit anderen Gelehrten, tauschte Informationen aus, pflegte bestehende Kontakte und knüpfte neue. Daneben begegnete Scheuchzer auch den unverzichtbaren

«Ungelehrten» und profitierte von ihren Auskünften. Scheuchzer generierte auch Wissen durch seine Tätigkeit in lokalen Institutionen wie der Bürger-bi bliothek und Kunstkammer oder dem Collegium der Wohlgesinnten. An diesen «Orten des Wissens» stand ihm Anschauungsmaterial zur Verfügung, zudem konnte er gezielt für die eigene Forschung relevante Bücher anschaffen und das Sammlungsziel nach seinen Bedürfnissen ausrichten.

Abschliessend lässt sich festhalten, dass Johann Jakob Scheuchzer ein geschickter Stratege war. Es gelang ihm, etliche Mitarbeiter aus seinem sozia-len Umfeld für seine wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen. Sie bereicherten Scheuchzers Sammlung um zahlreiche Objekte, nicht nur aus unterschiedlichs-ten Gegenden der Schweiz, sondern auch aus dem Ausland. Ihre Informatio-nen flossen in seine Aufzeichnungen ein und wurden unter seinem Namen veröffentlicht. Auch den wissenschaftlichen Beitrag seines jüngeren Bruders Johannes kennzeichnete Scheuchzer abgesehen von den Resultaten der baro-metrischen Höhenmessungen kaum. Demgegenüber wurden Beschreibungen von Korrespondenzpartnern ausserhalb seines sozialen Umfelds namentlich erwähnt.1 Ein wichtiger Bestandteil von Scheuchzers Arbeit lag darin, sein Familienunternehmen zu leiten und die Mitglieder geschickt für seine For-schung einzusetzen.

1 Beispielsweise diejenige von Rudolf von Rosenroll, die «Vorstellung der berühmtesten Ber-gen des Pündtnerlands», in: Scheuchzer, Natur-Historie des Schweitzerlandes (1716), Bd. 1, S. 263–266.

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 173-177)