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Die Bürgerbewegung von 1713

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 150-156)

7. Zürcher Umfeld

7.4. Die Bürgerbewegung von 1713

Die erste Auseinandersetzung im Vorfeld der Bürgerbewegung betraf das Erziehungswesen. Wie bereits erwähnt, beklagte sich Scheuchzer zusammen mit Johann Heinrich Bodmer und Johann Kaspar Escher an der Frühlings-synode 1709 unter anderem über die zunehmende Bildungsmisere an den Schulen.

In den folgenden Jahren beschuldigten sich Vertreter der Kirche und des Staats wiederholt gegenseitig des Betrugs und der Bestechung. Überlagert wurden diese Konflikte vom Zweiten Villmerger oder Toggenburger Krieg zwischen den katholischen Innerschweizer Orten einerseits und Zürich sowie Bern andererseits. Da der Kriegsbeitritt Zürichs ohne die in der Verfassung vorgeschriebene Zustimmung der gesamten in Zünften organisierten

56 Ebd., S. 302.

57 Ebd., S. 303.

58 Ebd., S. 302 f.

schaft erfolgt war, sah sich die Obrigkeit trotz des militärischen Sieges mit einer wachsenden Empörung innerhalb der Bürgerschaft konfrontiert.59

Zu Beginn des Jahres 1713 ereignete sich ein Vorfall, der die Gemüter vollends erregte. Entgegen den Bestimmungen der Zunftverfassung brachten die Vorgesetzten der Zunft zur Gerwe einen Handwerkerstreit vor den Rat statt vor das Zunftmeisterkollegium.60 Die Zunftgenossen waren entrüstet und verlangten, dass man die Rechtmässigkeit dieses Vorgehens überprüfe und dazu die alten Zunftfreiheitsbriefe und ähnliche Urkunden konsultiere. Überdies forderten sie die Einführung der geheimen Zunftmeisterwahl. Sie stützten ihre Forderungen auf die Freiheiten der Stadt Zürich von 1245 und insbesondere auf die Zunftverfassung, die im Geschworenen Brief festgehalten war. Der erste Geschworene Brief war das Ergebnis der Zunftrevolution unter Rudolf Brun im Jahr 1336. Er wurde in der Folge mehrmals abgeändert. 1713 gab es bereits sechs Geschworene Briefe, von denen allerdings nur der jüngste gültig war.61 Die Zunftvorsteher führten hingegen einen Beschluss des Grossen Rats aus dem Jahr 1696 an, der die Forderung nach geheimen Zunftmeisterwahlen als Eidbruch qualifizierte. Schliesslich wurde am 13. Juni 1713 das heimliche Mehr für Zunftmeisterwahlen eingeführt. Damit entspannte sich die Lage vorübergehend.

Doch schon am 2. September brach der Konflikt erneut aus. In einer Grossratssitzung richtete Johann Heinrich Bodmer Bestechungsvorwürfe gegen den amtierenden Bürgermeister David Holzhalb. Dieser gestand seine Verfehlung ein, worauf sich der Grosse Rat einhellig von seiner Erklärung befriedigt erklärte, gleichzeitig aber Bodmer für sein Vorgehen rügte.

Nicht ohne dessen Zutun versammelten sich am folgenden Tag, dem 8. Sep-tember 1713, 600 empörte Bürger, fast ein Drittel der gesamten Aktivbürger-schaft, auf dem Lindenhof. Sie forderten «zu höchst nöthiger Reformation eine Gemeind zum grossen Münster», um die Beschwerden zusammenzustellen.62 Bald darauf bildete sich eine aus den Zünften gewählte Kommission unter der Leitung Johann Jakob Scheuchzers, um der Regierung Reformvorschläge zu unterbreiten. Neben Scheuchzer und Johann Kaspar Escher gehörten Johann Konrad von Muralt, Johann Rudolf Steiner und Johannes Ziegler, allesamt ehemalige Mitglieder des Collegiums der Wohlgesinnten, der Kommission an.

Sie brachten ihre Anliegen dem zweiten Bürgermeister Johann Jacob Escher vor. Trotz des Erlasses eines Versammlungsverbots nahmen die Bürger die

59 Ebd., S. 305; Brühlmeier/Frei, Das Zürcher Zunftwesen (2005).

60 Vgl. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 79.

61 Abänderungen waren 1373, 1393, 1489, 1498 und 1654 erfolgt. Vgl. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 79.

62 Ebd., S. 80.

Reformarbeit auf, allerdings nicht in einer gemeinsamen Kommission von Bür-gern und Räten, wie es die Zünfter gewünscht hatten. Stattdessen wurden zwei Arbeitsgruppen gebildet, die Ehrenkommission der Räte und eine bürgerliche Deputation unter Scheuchzer.63

Die Bürgerausschüsse einigten sich auf 115 Beschwerdepunkte. Sie verraten oft die im Collegium der Wohlgesinnten ausgebildete Handschrift, insbeson-dere diejenige Scheuchzers. Zentral für sein Staatsverständnis war der sechste Artikel der von den Bürgern eingebrachten Fundamentalia, der als Quaestio in einer ähnlichen Form bereits im Jahr 1694 die Kollegiaten zu Ausführun-gen provoziert hatte: Es «stehet undisputierlich der höchste Gewalt bey dem Burger-Meister, denen Klein und Grossen Räthen und gantzer Gemeindt der Stadt Zürich, welchem ganzen Leib dann zustehet das Recht, Krieg, Frid, Pündtnussen und Gesetze zumachen, wie auch die Regiments Form, je nach Beschaffenheit der Zeiten abzuenderen».64 Scheuchzer rechtfertigte den Anspruch der Stadtbürger, zum souveränen «gantzen Leib» zu gehören, sowohl naturrechtlich als auch mit dem Text der älteren Geschworenen Briefe und dem Verweis auf frühere Freiheitsbriefe und Bündnisse.

Vom 8. Oktober bis zum 11. November berieten bürgerliche Deputierte und die Ehrenkommission gemeinsam. Am 20./21. November gab der Rat einzelnen Forderungen nach. Doch da sich die Zünfte nicht einigen konnten, setzte die Regierung Ende November eine neue Ratskommission ein, die schon am 4. Dezember ihren Entwurf vorlegte, der im Rat anerkannt wurde. Damit war für die Obrigkeit die Reform beendet.

Einige Forderungen der Protestierenden konnten durchgesetzt werden.

Zu den zentralen Resultaten der Reform zählten die 1715 und 1716 erfolgte Drucklegung des Erb- und Stadtrechtes. Zudem wurde der ganzen Gemeinde, also auch den Zünften und der Konstaffel, die Mitbestimmung bei Kriegs-erklärungen, Friedensschlüssen und Bündnisverträgen bestätigt, eine Forde-rung, die sich auf das Prinzip der Volkssouveränität berief. Die Zunftmeister und Konstaffler wurden eidlich dazu verpflichtet, im Rat die Aufrechterhaltung der Rechte und Freiheiten der Zünfte zu überwachen. Den Ratsherren des Grossen Rats wurde eidlich aufgetragen, Gegenstände, die laut Fundamental-gesetzen vor die Zünfte gelangen müssen, auch dorthin zu bringen.65

Zuvor im Collegium der Wohlgesinnten diskutierte Ansichten verdichteten sich in der Reformbewegung von 1713 zu politischen Forderungen. Zugleich flossen sie in Scheuchzers staats- und verfassungstheoretische Schriften mit

63 Vgl. Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner (2002), S. 262.

64 Ebd., S. 267.

65 Vgl. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 307; Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 81.

ein. Er verarbeitete seine Erfahrungen mit den Zürcher Unruhen in den All-gemeinen Observationes über die Staatsreform 1713 zu einer Anleitung zu bürgerlichen Freiheitsbewegungen. Sie fanden, da der Druck verboten wurde, in einer auf obrigkeitlichen Einspruch hin stark gemilderten zweiten Fassung weite handschriftliche Verbreitung.66

Eine revidierte Schulordnung wurde erst 1716 realisiert. Sie brachte keine nennenswerten Neuerungen, ausser dem Ausbau der Privatkollegien, wovon auch Scheuchzer profitieren konnte. In der Folge wurden seine Privatkollegien zu den am besten besuchten.67 Scheuchzer hatte gehofft, bei der Schulreform und im modernisierten Unterricht eine massgebende, ja führende Rolle zu spielen. Doch zu seinen Gegnern am Carolinum gesellten sich nach 1713 zahlreiche Pfarrer sowie der Bürgermeister David Holzhalb. Sie taten alles, um Scheuchzer den Weg zum Aufstieg zu versperren. Nicht Scheuchzer, sondern David Hottinger wurde der erste Professor Zürichs für Geschichte und Politik, später Balthasar Bullinger.

7.5. Zusammenfassung

Johann Jakob Scheuchzer betätigte sich in zahlreichen Zürcher Institutionen.

Die Beschäftigung an diesen Orten des Wissens war wichtig für seine Forschun-gen. Seine Tätigkeit als Kurator an der Bürgerbibliothek und Kunstkammer brachten ihm zahlreiche Vorteile. Bei der Anschaffung von Neuerscheinungen nutzte er seine Position und erwarb gezielt Bücher, die für seine Arbeit relevant waren. Ausserdem hatte er unmittelbaren Zugang zu den Sammlungsobjekten der Kunstkammer. Sie dienten ihm als Anschauungsmaterial und regten zu eigenen Forschungen an. Umgekehrt bereicherte Scheuchzer die Kunstkammer mit Objekten aus seiner privaten Sammlung.

Auch von seiner Mitgliedschaft im Collegium der Wohlgesinnten profi-tierte Scheuchzer. Im Kreis der Collegiaten fand er sein erstes Publikum, das ihn kritisierte und ihm Anregungen gab. In den Versammlungen konnte er seine Forschungsergebnisse vor deren Veröffentlichung vorstellen, in den anschlies-senden Diskussionen weiterführende Ideen entwickeln. Dieser Austausch war wichtig für Scheuchzers Schaffen und entsprach seiner Vorstellung von wissen-schaftlicher Arbeit. Denn Wissenschaft, insbesondere disziplinübergreifende, konnte nicht in der Einsamkeit der Studierstube, sondern nur im Austausch mit anderen Gelehrten entstehen. Seine Positionierung im Zürcher Umfeld war

66 Vgl. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 163.

67 Vgl. Weisz, Die politische Erziehung im alten Zürich (1940), S. 133.

jedoch nicht frei von Konflikten. Scheuchzers kritische Haltung gegenüber den Unterrichtsmethoden am Collegium Carolinum, wo er als Mathematiklehrer tätig war, und sein Bekenntnis zum Kopernikanismus machten viele Chorher-ren zu seinen Feinden. Wie die Anekdoten des Landschreibers Hans Kaspar Gwerb veranschaulichen, ging Scheuchzer der Auseinandersetzung mit dem Klerus nicht aus dem Weg. Dazu kam sein politisches Engagement während der Bürgerbewegung im Jahr 1713. Diese Konflikte führten dazu, dass er die gut bezahlte Physikprofessur erst kurz vor seinem Tod erhielt.

8. «Ungelehrte» Helfer

Im letzten Kapitel wird beleuchtet, welche Bedeutung die Hilfe der «Ungelehr-ten» für Scheuchzers wissenschaftliche Arbeit hatte. Der deutsche Theologe und Naturwissenschaftler Jacob Christian Schäffer (1718–1790) formulierte deren Aufgabe treffend mit folgenden Worten: «Der Gelehrte muss sammeln, beobachten, nachsehen, prüfen, beschreiben, bestimmen, auseinander setzen, in Ordnung bringen. Der Ungelehrte muss aufsuchen, dem Gelehrten zutra-gen, und in die Hände liefern.»1 Die Aufgabe des «Ungelehrten» lag ihm zufolge darin, dem Gelehrten das für die Forschung relevante «Rohmaterial»

zu beschaffen.

Für Scheuchzer waren Personen wichtig, die eine Tätigkeit in der Natur ausübten und weit herumkamen. «Ungelehrte» Wissensträger wie Bergarbei-ter, Bauern oder Jäger traten zunehmend als Informanten der Naturforscher in Erscheinung.2 Sie waren Lieferanten von Sammlungsobjekten und teilten ihr Wissen über die Natur mit.3 Bauern konnten beispielsweise Auskunft über die Heilkraft einer Pflanze erteilen, ein Wissen, das von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurde. Bergarbeiter informierten über Versteinerungen, auf die sie während ihrer täglichen Arbeit stiessen.

Bauern, Bergarbeiter und Jäger arbeiten in der Natur, beobachten sie tag-täglich und können ihre Zeichen lesen. Das Wissen dieser «klug- einfältigen Leuthe», welche die vor ihrer Nase liegende «Natur-schrift deutlich und glüklich lesen»,4 wurde von Scheuchzer hoch geschätzt. Er betonte, dass die Naturforscher, «von solchen ehrlichen Leuthen mehr lehrnen / als von den gelehrtesten Professoren auf den Hohen Schulen».5

Zudem hielt sich dieser Personenkreis oftmals auch in abgelegenen Gegen-den auf, die für die Gelehrten schwierig zu erreichen waren. Scheuchzer sah gerade in dieser «Entlegenheit der zu erforschenden Dinge»6 die Schwierigkeit seiner Forschungen. Auch deshalb galten diese «Ungelehrten» als unverzicht-bare Informationslieferanten.

1 Schaeffer, Erläuterte Vorschläge zur Ausbesserung und Förderung der Naturwissenschaft (1764), S. 19, zitiert in Ruhland, Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz (2017), S. 29.

2 Vgl. Flubacher, Alpen-Tiere (2013), S. 136.

3 Nicht berücksichtigt in dieser Untersuchung wird die Rolle der ortsansässigen Geistlichen.

Sie waren die «Wissensträger» ihrer Gemeinde und dienten als wichtige Mittelspersonen zwischen den Naturforschern und der lokalen Bevölkerung. Vgl. Flubacher, Alpen-Tiere (2013), S. 355.

4 Scheuchzer, Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands (1706–1708), S. 9.

5 Ebd.

6 Scheuchzer, Natur-Geschichte, Bd. 2 (1746), S. 208.

In seinem Einladungs-Brief zu Erforschung natürlicher Wunderen, so sich im Schweitzer-Land befinden von 1699 bemerkt Scheuchzer, dass die Beschrei-bung der gesamtschweizerischen Naturgeschichte ohne die Hilfe zahlreicher Personen nicht zu bewältigen sei.7 Die gründliche Erforschung erfordere die Mitarbeit von Gelehrten, kuriosen und erfahrenen Männern. Doch er forderte nicht nur die «in allen Ständen gelehrten Männer» zur Mitarbeit auf, sondern auch explizit die «Spezial-Liebhaber der Jagden, ja auch alle, auch gemeinste Leut, so mit der Natur viel umgehen und durch sie ihre Nahrung suchen, als da sind Fischer, Hirten, Sennen, Einwohner der Alpen, Baursleut, Kräuter- und Wurzengraberen».8 Um auch den «Ungelehrten» gerecht zu werden, hatte Scheuchzer den Einladungsbrief und den Fragebogen nicht nur in lateinischer, sondern auch in deutscher Sprache verfasst.

Im ersten Teil dieses Kapitels wird die Rolle der «Ungelehrten» als Informanten vor Ort aufgezeigt. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der besonderen Bedeutung der Bauern und Jäger, die im Zusammenhang mit Scheuchzers geoklimatischer Theorie steht. Abschliessend wird ein Blick auf zwei Illustrationen in Scheuchzers Publikationen geworfen, auf denen der

«Ungelehrte» in Erscheinung tritt.

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 150-156)