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Geschwisterbeziehung im Wandel

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 89-93)

5. Der Bruder Johannes Scheuchzer

5.4. Geschwisterbeziehung im Wandel

Johannes Scheuchzer sah sich als gleichgestellten Partner in einer Arbeits-gemeinschaft mit seinem Bruder. Er betonte immer wieder aufs Neue, dass er sein Möglichstes tue, um die gemeinsamen Studien voranzutreiben. So schrieb er Johann Jakob, nachdem er etliche Bücher in Paris erworben hatte: «Vous voyez par la que je fay tout mon possible pour trouver des subsides propres pour nos êtudues.»56

Johann Jakob Scheuchzer hingegen war diesbezüglich zurückhaltender.

Er förderte und unterstützte wohl seinen jüngeren Bruder. So war er im Jahr 1706 darum bemüht, für die Promotionszeit von Johannes eine geeignete Unterkunft in Basel zu finden. Er bat deshalb Theodor Zwinger, Johannes in Kost und Logis zu nehmen und ihm helfend und beratend zur Seite zu stehen:

«Ich empfehle ihn [Johannes] daher als meinen Bruder, Freund und Schüler, damit Sie ihn beraten, ihm wohlwollend beistehen, ihn in Kost nehmen und damit seine Angelegenheit bald erledigt wird.»57

Johann Jakob sah in seinem jüngeren Bruder einen perfekten Assistenten und keinen ebenbürtigen Partner. Auch in der Wahrnehmung anderer Gelehr-ter scheint Johannes den Platz eines Gehilfen einzunehmen. Johann Friedrich Leopold, ein ehemaliger Schüler und fleissiger Korrespondenzpartner Johann Jakob Scheuchzers schrieb diesem, nachdem er von der Niederschrift der Natur-Historie des Schweitzerlandes erfahren hatte: «Alleine, wann wieder-umb betrachte, dass dieses viele Mühe, Zeit, und Unkosten erfordern werde, so fürchte immer, dass es diesem Werck eben so wie vielen andern dergleichen ergehen werde, nemblich dass der Auctor entweder darüber ermüde, oder sterbe. Wollte demnach Monsieur Doct. von Hertzen noch 10 solcher Assis-tenten oder Handlanger wünschen wie der Herr Bruder, damit demselben die Arbeit desto leichter würde.»58 Leopold bezeichnet Johannes Scheuchzer in der zitierten Briefpassage ausdrücklich als Assistenten oder Handlanger.

Nur beiläufig wurde Johannes in den Werken Johann Jakobs erwähnt, etwa seine tabellarisch aufgelisteten Höhenmessungen. Seine Abhandlung über die Heilquelle von Pfäfers hingegen blieb unerwähnt.

Ein Wandel in der Beziehung zwischen den zwei Brüdern zeichnet sich in den Jahren nach 1715 ab. Wie bereits erwähnt, war Johannes Scheuchzer

56 Johannes Scheuchzer an Johann Jakob Scheuchzer, 13. September 1710, ZBZ, Ms H 344, S. 188.

57 Johann Jakob Scheuchzer an Theodor Zwinger, 17. Januar 1706, in: Portmann, Die Kor-respondenz von Th. Zwinger III mit J. J. Scheuchzer (1964), S. 253.

58 Johann Friedrich Leopold an Johann Jakob Scheuchzer, 14. Dezember 1707, ZBZ, Ms H 297, S. 259.

oftmals auf Reisen im Ausland. Während seine ersten Berichterstattungen von grossem Enthusiasmus geprägt sind, sprechen die späteren Briefe eine andere Sprache. Die anfängliche Begeisterung war der Müdigkeit und Frustration gewichen.

Anfang 1715 verreiste Johannes Scheuchzer nach Italien. Die Reisegesell-schaft überquerte im Januar den Monte Ceneri und gelangte von Turin nach Padua. Nach einem kurzen Aufenthalt erreichte sie Ende Februar Venedig, wo sie sich mehrere Wochen aufhielt, um Anfang April über Padua und Bologna nach Rom und von dort nach Neapel zu reisen. Auf der Rückreise war ein weiterer, längerer Aufenthalt in Rom geplant, im Juli wollte man wieder zurück in der Schweiz sein.

Schon die erste Etappe der Reise gestaltete sich äusserst beschwerlich.

Johannes klagt in einem Brief an den Bruder über die grosse Kälte. Es habe so viel Schnee gelegen, dass selbst die Pferde Mühe hatten weiterzukommen.

Überdies koste die Reise unglaublich viel Geld und er befürchte, dass man aus ihr nicht den erhofften Nutzen werde ziehen können. Doch trotz aller Widrigkeiten höre er nicht auf «d’observer tout ce qui est digne de remarque

& qui peut servir à l’eclaircissement de l’Histoire Naturelle».59

Im weiteren Verlauf wurde Johannes’ Stimmung nicht besser, ganz im Gegenteil, seine Klagen verstärken sich: «Nous voicy à Rome, où nous arrivâmes hier au midy, depuis Bologne nous étions 11 jours en voyage en vivant le plus miserablement du Monde, ainsy que j’ay perdu absolument tout le gout pour les voyages, ayant contracté en chemin une Maladie tres facheuse qui me tourmente furieusement.»60

In Rom verschlimmerte sich der gesundheitliche Zustand von Johannes Scheuchzer, sodass er sich ausserstande sah, die Reise bis nach Neapel fort-zusetzen. Deshalb hatte er beschlossen, nach seiner Genesung vorzeitig nach Zürich zurückzukehren. Froh über seine Entscheidung, schrieb er seinem Bruder: «Je revien: Monsieur! est il possible, que je souffre toujours, sans pouvoir jouir une seule fois de tranquillité et de felicité? mes Malheurs que j’ay souffert pendant ce voyage sont sans nombres, et sans fin, mais les consolations, qui legitimementer devroient suivrer seront plus tôt ameres que douces, puisqu’avec tout je n’ay pu profiter rien […] je vous prie tres instamment de ne me plus precher n’y de patience n y d’autre vertu semblable, car tout c’est fini, et je n’en veu plus avoir.»61

Die Briefstelle markiert den Beginn einer Veränderung der Beziehung zwi-schen den beiden Brüdern. Mit deutlichen Worten macht Johannes klar, dass er

59 Johannes Scheuchzer an Johann Jakob Scheuchzer, Februar 1715, ZBZ, Ms H 344, S. 275.

60 Johannes Scheuchzer an Johann Jakob Scheuchzer, 6. April 1715, ZBZ, Ms H 344, S. 283.

61 Johannes Scheuchzer an Johann Jakob Scheuchzer, 26. April 1715, ZBZ, Ms H 344, S. 290.

endgültig genug habe. Er habe auf der Reise nur gelitten, keinen Moment der Ruhe genossen und rein gar nichts profitiert. Zugleich bittet er Johann Jakob inständig darum, weder Geduld noch andere Tugenden mehr zu predigen.

Johannes Scheuchzer begann sich in der Folge von seinem Bruder zu lösen und in der Forschung einen eigenen Weg einzuschlagen. Mit der Publikation seines Werkes über die Gräserkunde, Agrostographia sive graminum, juncorum, cyperoidum eisque affinium historiae, im Jahr 1719 gelang es ihm schliesslich, eine Nische in der Naturgeschichtsschreibung zu besetzen, die von seinem Bruder nicht beansprucht worden war.

Ohne Zweifel etablierte sich Johannes Scheuchzer mit diesem Werk in der scientific community, denn es erntete grosses Lob. Albrecht von Haller, der es mit Zusätzen im Jahr 1775 neu herausgab, urteilte in seiner Bibliotheca botanica, es sei ein Werk ungeheuren Fleisses und habe immer noch nicht sei-nesgleichen. Johannes Scheuchzer habe alle Arten dieser schwierigen Klasse eingehend beschrieben, viele abgezeichnet, die Merkmale erspäht und eine neue Geschichte geschaffen. Manche Arten habe der Verfasser selber in Graubünden und in der Umgebung von Zürich entdeckt, andere von Freunden, selbst aus Ostindien, erhalten. Andere habe er so klar umrissen, dass man sie jetzt kenne.

Was noch bei dem Systematiker Tournefort ein wirres Durcheinander gewesen sei, habe er sorgfältig nach Klassen, Gattungen und Arten aufgeteilt und etwa 400 Grasarten beschrieben.62

Carl von Linné gab den Brüdern Scheuchzer zu Ehren einer Familie der Juncagineceae den Namen Scheuchzeria.

5.5. Zusammenfassung

Nach dem Tod des Vaters hatte Johann Jakob Scheuchzer die väterliche Rolle übernommen und Johannes erzogen und unterrichtet. Dieser war nun nicht mehr nur der jüngere Bruder, sondern er war auch zu einem Schüler geworden.

Sicherlich nahm er eine besondere Stellung in der Schülerschaft ein, was sich unter anderem darin zeigt, dass Johann Jakob ihn als Begleiter auf den Alpen-reisen explizit nennt, wohingegen die übrigen Schüler unerwähnt bleiben.

Johann Jakob war es gelungen, Johannes für Medizin und Naturwissen-schaften zu begeistern. Geschickt lenkte er dessen beruflichen Werdegang in die richtigen Bahnen und konnte somit zu Recht auf einen wertvollen Mitarbeiter hoffen. Seine Bemühungen waren nicht umsonst, der junge Johannes teilte die Interessen seines Bruders und half bereitwillig. Gemeinsam entwickelten

62 Vgl. Balmer, Die Naturwissenschaften in Zürich im 18. Jahrhundert (1983), S. 31.

sie auf dem Gebiet der Sintfluttheorie neue Gedanken und Konzepte. Zudem begünstigte ihre gemeinsame Betätigung in der Bürgerbibliothek die Zusam-menarbeit. Zweifellos war Johannes ein bedeutender Mitarbeiter Johann Jakob Scheuchzers, wobei er unterschiedliche Funktionen übernahm. Zum einen war er aufgrund seiner zahlreichen Auslandaufenthalte zu einem wichtigen Lieferanten ausländischer Naturalien geworden. Zum anderen fungierte er als Vertreter seines Bruders und pflegte bestehende Beziehungen zu Gelehrten oder knüpfte neue Kontakte.

Obwohl beide Brüder in der Gelehrtenwelt als forschendes Geschwister-paar wahrgenommen wurden, blieb Johannes immer im Schatten von Johann Jakob. Die Analyse des Briefwechsels zwischen ihnen zeigt, dass Johann Jakob in seinem Bruder einen Assistenten sah. Johannes hingegen sah sich zumindest in frühen Jahren als gleichgestellter Partner in einer Arbeitsgemeinschaft. Er war immer darum bemüht, «viribus conjunctis»,63 in gemeinsamer Arbeit, neue Theorien zu entwickeln. Doch nach 1715 begann sich die Beziehung zwischen den beiden zu verändern und Johannes emanzipierte sich zusehends von seinem älteren Bruder. Zermürbt von den vielen Auslandsaufenthalten und seinen gescheiterten Versuchen, eine Professur in Bologna oder Padua zu erhalten, begann er eigene Wege in der Naturgeschichtsschreibung zu beschreiten. Mit der Publikation seines Werkes über die Gräserkunde Agrostographia (1719) gelang es ihm schliesslich, sich in der Gelehrtenwelt zu etablieren. Bezeichnend für die Ablösung von seinem Bruder Johann Jakob ist der Umstand, dass der Briefwechsel zwischen den beiden im Jahr 1717 zum Erliegen kam.

63 Vgl. Johannes Scheuchzer an Johann Jakob Scheuchzer, 19. August 1710, ZBZ, Ms H 344, S. 180.

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 89-93)