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Collegium Carolinum

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 136-141)

7. Zürcher Umfeld

7.1. Collegium Carolinum

Das Collegium Carolinum hatte sich während der Reformation aus der dem Chorherrenstift beim Grossmünster angegliederten Stiftsschule entwickelt.

Neben kleineren Lehrstellen gab es an der Schule vier «grosse Professuren», deren Inhaber Chorherren waren und in den Genuss einer entsprechenden Pfründe kamen. Zwei der Professuren waren der Theologie, eine der latei-nischen Sprache sowie der Philosophie und eine der griechischen Sprache gewidmet.6

Der Zürcher Arzt und Naturforscher Conrad Gessner arbeitete ab 1542 jahrelang ohne nennenswerte Entschädigung am Carolinum.7 Da er im Laufe der Zeit in finanzielle Not geriet, wurde seine Lehrstelle 1558 in eine Professur für Physik, Philosophie und Mathematik umgewandelt und als Kanonikat entsprechend dotiert. In der Folge wurde diese einzige Lehrstelle für Natur-wissenschaften in Zürich immer von einem Mediziner, häufig vom amtierenden Stadtarzt, besetzt. Bei Scheuchzers Rückkehr nach Zürich im Jahr 1694 war die Physikprofessur aufgeteilt zwischen den beiden Stadtärzten Johannes von Muralt und Salomon Hottinger.

Im Jahr 1710 erhielt Scheuchzer die vom Zürcher Rat versprochene Pro-fessur für Mathematik am Collegium Carolinum. Die Stelle war jedoch nur ein Lehrauftrag, keine gut bezahlte Chorherrenstelle. Da die begehrte Phy-sikprofessur üblicherweise auf Lebenszeit behalten wurde, musste Scheuchzer

4 Rütsche, Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche (1997).

5 Vgl. Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner (2002).

6 Vgl. Rütsche, Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche (1997), S. 48.

7 Vgl. Leu, Conrad Gessner (2016), S. 97.

bis zu seinem 61. Lebensjahr warten, bis er im Januar 1733, nach dem Tod von Johannes von Muralt, die Stelle einnehmen konnte.

Da das Collegium Carolinum primär der Ausbildung von Theologen diente, wurden die naturwissenschaftlich-mathematischen Disziplinen von den Schulbehörden als unnötiger, sogar als gefährlicher Ballast angesehen.

Scheuchzer kritisierte diese veralteten Unterrichtsmethoden aufs Schärfste. Er arbeitete an einer Reform des offiziellen Bildungswesens und propagierte die Behandlung der Naturgeschichte im Rahmen des theologisch ausgerichteten Lehrplans. Zusammen mit Obmann Johann Heinrich Bodmer und Johann Caspar Escher beklagte sich Scheuchzer an der Frühlingssynode 1709 über die zunehmende Bildungsmisere an den Schulen. Das Zürcher Schulwesen diene nicht mehr wie im 16. Jahrhundert als Bildungsstätte für Begabte. Die Schü-ler würden nur noch «Systeme» auswendig Schü-lernen und unnütze Schulfragen behandeln. Sie sollten sich stattdessen die Sprachen gründlich aneignen und diese gebrauchen, um die eigentliche christliche Botschaft erfassen zu können.

Ausserdem müssten die zukünftigen Politiker besser auf den Staatsdienst vorbereitet werden. Die Studenten sollten Geschichte, Geografie und Ethik studieren, dafür in den theologischen Fächern entlastet werden. Zudem wurde vorgeschlagen, als neues Fach das Naturrecht nach Pufendorfs De officiis Abb. 15: Ausschnitt aus Matthaeus Merian, La ville de Zurich, en Suisse (1642).

einzuführen.8 Antistes Anton Klingler und Teile der Geistlichkeit reagierten empört. Das Thema wurde abgetan, erst 1716 trat eine revidierte Schulord-nung in Kraft, die zwar das Meiste beim Alten beliess, jedoch den Ausbau der Privatkollegien erlaubte.9

Scheuchzer versuchte weiterhin der Ignoranz gegenüber den wichtigsten zeitgenössischen Forschungsergebnissen abzuhelfen. Als er im Jahr 1710 Pro-fessor für Mathematik geworden war, referierte er in seiner Antrittsvorlesung am 28. November 1710 über den Nutzen der Mathematik für die Theologie.10 Angesichts von Kirchenvertretern, die auf der Basis der Verbalinspirationslehre die naturkundliche Bibelforschung und das kopernikanische Weltbild ablehn-ten, sah er die Glaubwürdigkeit der Religion bedroht.11

Im protestantischen Zürich herrschte ein rigider, stark vom Prinzip der kirchlichen Autorität und von der konservativen Orthodoxie geprägter Geist vor. Im Schweizer Protestantismus erlebte diese Entwicklung ihren Höhepunkt in der Formula consensus ecclesiarum Helveticarum reformatarum von 1675, als alle reformierten Kantone ausser Neuenburg die Verbalinspirationslehre für verbindlich erklärten.12

Die Professoren und Pfarrer François Turrettini in Genf, Lukas Gernler in Basel und Kaspar Waser in Zürich hatten sich 1671 zusammengeschlossen, um die protestantische Orthodoxie gegen neue theologische Ideen, beispiels-weise den aufkommenden Pietismus, zu verteidigen. Die Redaktion der Schrift hatte Johann Heinrich Heidegger (1633–1711), Scheuchzers Theologielehrer und Pate, übernommen. Der Text verpflichtete die reformierten Schweizer Geistlichen auf das Glaubensbekenntnis, Christus sei nur für die Auserwählten gestorben. Die Formula consensus bestätigte die calvinistische Rechtgläubigkeit und diente der Disziplinierung der Schweizer Pfarrer, um die Zersplitterung der christlichen Lehre zu verhindern.

Die in der Formula consensus festgeschriebenen theologischen Lehrsätze beanspruchten die alleinige Auslegung der Bibel und bestanden auf dem Gegensatz von menschlicher Vernunfterkenntnis und der Offenbarungs-erkenntnis. Damit stand die Formel als Zeichen für die Unvereinbarkeit von Naturerkenntnis und Heiliger Schrift als Wissensquellen. Ohne Kenntnisse der Bibel sei das Buch der Natur nicht zu lesen. Konsequenz davon war die Zensurierung zahlreicher Bücher und die Bestrafung, Ausweisung und Ver-folgung vermeintlich Ungläubiger.

8 Vgl. Kempe/Maissen, Die Collegia der Insulaner (2002), S. 259.

9 Ebd.

10 Scheuchzer, De matheseos usu in theologia (1711).

11 Vgl. Müsch, Geheiligte Naturwissenschaft (2000), S. 32.

12 Vgl. Gisler, Göttliche Natur? (2000), S. 41.

Die staatliche Zensurbehörde Zürichs war aus einem Vertreter des Gros-sen und Kleinen Rates, dem Pfarrer am Grossmünster und Professoren des Carolinums zusammengesetzt.13 Sie überwachte streng die Reinhaltung der orthodoxen Lehre, zu der auch die aristotelische Naturphilosophie gehörte.

Dies lässt sich besonders im Streit um die Anerkennung des Kopernikanis-mus in Zürich darlegen. Das heliozentrische Weltbild des Kopernikus galt im 17. Jahrhundert in Zürich als Irrlehre, das wissenschaftliche Denken der Antike und vor allem die das aristotelische Denken fortführende geozentrische Kosmologie des Ptolemäus hingegen als Dogma. Deshalb gerieten Gelehrte, die sich für den Kopernikanismus aussprachen, in den Verdacht der Ketzerei.

Scheuchzer proklamierte in der erwähnten Antrittsvorlesung am 28. November 1710, dass man bei der Bibelexegese nicht auf die Naturwis-senschaften verzichten könne. Zugleich verband er sein Ansinnen mit einem Bekenntnis zur Lehre des Kopernikus. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit den Lehrkräften der Naturwissenschaft am Carolinum. Der amtierende Physikprofessor Salomon Hottinger hielt zwei Monate später einen Vortrag zur Widerlegung des Kopernikanismus, der unter dem Titel Liber naturae ex psalmo 19,5 propositus publiziert wurde.14 Der jüngere Bruder Scheuchzers, Johannes, setzte sich ebenfalls für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus ein und bat den Zürcher Rat um Nachsicht: «[…] man möchte die Copernica-ner milter tractiren, so seye ihr hypothesis heüt zutag in der ganzen gelehrten Welt, unter Papisten, Lutheranern und Reformirte, nit nur von Mathematicis und Philosophis, sondern auch Theologis recipiert, es seye mir deroselben Unschuld auch selb in Ansehung H. Schrift bekannt […].»15

Auch in seinem persönlichen Umgang ging Scheuchzer einer Auseinan-dersetzung mit dem Klerus nicht mehr aus dem Weg. Als Mathematiklehrer am Carolinum war er berechtigt, an den Konventssitzungen der Chorherren teilzunehmen. Dort provozierte Scheuchzer mit seiner Bekleidung, denn er weigerte sich, bei den Versammlungen die übliche Halskrause zu tragen. Diese absichtliche Missachtung der symbolischen Ordnung war mit dem Standes-bewusstsein der meisten Chorherren unverträglich. Am 9. September 1712 schrieb der Zürcher Landschreiber Hans Kaspar Gwerb an den Landvogt Heinrich Füssli in Regensberg: «Vorgestern kam Herr Dr. Sch. [Scheuchzer]

mit dem glatten Kragen und dem Degen in ein Convent; die Herren Chor-herren wolltend disen Habit nit leiden sondern ihne ausstellen. Er aber blibe drinnen und zanketend ein Stund lang mit einanderen; entlich hebtend sie

13 Vgl. Müsch, Geheiligte Naturwissenschaft (2000), S. 41.

14 Vgl. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 177.

15 Johannes Scheuchzer (vermutlich an Johann I. Bernoulli), [undatiert], zitiert in Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 178.

das Convent auf, ohne Berührung der Geschäften.»16 Die Chorherren hatten Scheuchzer vergeblich zum Gehen aufgefordert, bis nach einer längeren Aus-einandersetzung die Versammlung aufgehoben wurde.

Auch die folgende Anekdote aus einem Brief von Gwerb an Füssli dokumentiert Scheuchzers Konflikt mit den Chorherren: «Herr Dr. Sch.

[Scheuchzer] hatte eine weisse Krähen, die kame ihme Samstag aus und auf Herren Baptistens Tach. Herr Dr. stige ohne Schuhe auf das Tach, lockte und erwütschte sie, entschlipfte und kamme bis zum Cännel, konnte aber mit dem Fuss an denselben anheben, wieder aufstehen und sich salviren und behielte die Krähen immer in der Hand. Man sagt, wenn er todt gefallen were, so hettend die Chorherren der Krähen ein Leibding geordnet.»17

Im Herbst 1713 verstarb der amtierende Physikprofessor und Antiko-pernikaner Salomon Hottinger. Damit war der Platz einer der beiden Inhaber des Lehrstuhls für Physik frei geworden. Ratsherr Hirzel hatte daraufhin vor-geschlagen, dass nun Scheuchzer «zu einem Adjuncto» von Johannes von Mur-alt, dem zweiten Lehrstuhlinhaber, aufsteigen könne.18 Doch eine ordentliche Professur am Carolinum wurde Scheuchzer weiterhin verwehrt, da Johannes von Muralt nun alleiniger Inhaber des Physiklehrstuhls blieb.

Auslöser eines weiteren Konflikts mit den orthodoxen Kräften in Zürich war Scheuchzers Vorhaben, einen mathematisch-physikalischen Kommentar des alttestamentarischen Buchs Hiobs zu veröffentlichen. In seinem Manu-skript hatte Scheuchzer abermals das kosmologische Modell von Kopernikus begünstigt. Die Zensoren, denen das Druckmanuskript vorgelegt worden war, ordneten an, dass neben anderen Stellen besonders die Bezüge zum Kopernikanismus herausgestrichen werden mussten.19 Scheuchzer kam dieser Forderung geschickt und unvollständig nach. Das Buch erschien 1721 unter dem Titel Jobi physica sacra: Oder Hiobs Natur-Wissenschafft vergliechen mit der heutigen in Zürich.

Zwischenzeitlich hatte Scheuchzer einen naturwissenschaftlichen Kom-mentar der gesamten Bibel in Angriff genommen. Er suchte nun nach Mög-lichkeiten, die Zensur zu umgehen. Zürich war für eine Veröffentlichung keine Option mehr, da Druckern, die unzensierte Werke druckten, gedroht wurde.

Als Ausweg bot sich an, die Kupfer-Bibel im Ausland zu publizieren. 1724

16 Hans Kaspar Gwerb an Heinrich Füssli, 9. September 1712, zitiert in Siegfried, Die beiden Scheuchzer (1800), S. 21.

17 Hans Kaspar Gwerb an Heinrich Füssli, 3. November 1713, zitiert in Siegfried, Die beiden Scheuchzer (1800), S. 22.

18 Vgl. Siegfried, Die beiden Scheuchzer (1800), S. 24.

19 Vgl. Zur Auseinandersetzung mit der Zensurbehörde Müsch, Geheiligte Naturwissenschaft (2000), S. 41–45; Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung (2003), S. 177–182.

nahm Scheuchzer Kontakt mit dem kaiserlichen Hofkupferstecher Johann Andreas Pfeffel in Augsburg auf, der sich bereit erklärte, das Werk zu ver-legen.20 Trotz der Entscheidung, die Kupfer-Bibel in Augsburg verlegen und drucken zu lassen, entging diese nicht der behördlichen Kontrolle. Scheuch-zer war es jedoch gelungen, die ersten Bögen ungeprüft nach Augsburg zu schicken. Diese enthielten den Kommentar zur ersten Tafel der Kupfer-Bibel, in dem Scheuchzer das kosmologische Modell nach den «Grund-Sätzen des Copernici» als eine nunmehr unbestreitbare «mathematische Gewissheit»

bezeichnet.21

Als Scheuchzer im Januar 1733 die lang ersehnte Physikprofessur am Carolinum erhielt, wurde damit zugleich auch der Kopernikanismus in Zürich offiziell anerkannt.

Im Dokument Johann Jakob Scheuchzer (Seite 136-141)