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Sinn- und Wertentwurf in der Psychoanalyse Jungs

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 143-148)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

2. Axiomatik und Semiotik von Psychoanalyse und Psychopoetik 1 Sinn• und Wertentwurf in der Psychoanalyse Freuds

2.2 Sinn- und Wertentwurf in der Psychoanalyse Jungs

Die Kantianische Bestimmung des Ästhetischen als des "zweckfreien Wohlge- fallens" schreibt Freud (1958, 77) an Hand des Witzes um in die gegen K. Fi- scher gerichtete Korrektur des "Zwecks in sich" zur Befriedigung von Lust: Die witzige Tätigkeit habe "sich unverkennbar das Ziel gesteckt [...], Lust beim Hörer hervorzumfen." Allerdings wird ihr durch das konkurrierende Realitätsprinzip ein folgenreicher Triebaufschub auferlegt. Freud läßt keinen Zweifel daran, daß für ihn dasselbe für alle ästhetische Tätigkeit gilt. Künstlerische Tätigkeit ist eine alle- gorische Ersatzhandlung, deren verschobener Sinn durch kundige Lesart zu ent- schlüsseln ist

2.2 Sinn- und Wertentwurf in der Psychoanalyse Jungs

Die Archetypik von C.G. Jung wird hier als Beispiel einer symbolischen Psy- chologie und Axiologie und daher auch als Paradigma einer Psychopoetik des Symbols herangezogen. Ihr Ziel ist der Allegorik entgegengesetzt, insofern sie die Strukturhomologie zwischen Seele und Welt voraussetzt. Es ist alles andere denn Zufall, daß Jung (1969, 381) wie Goethe das Auge, und sei's im Vergleich, zum zentralen Organ der Seele erhebt: "Das Bewußtsein ist wie ein Auge, das fernste Räume in sich faßt, das psychische Nicht-Ich aber ist das, was diesen Raum un- räumlich erfüllt." Grundkategorien dieser symbolischen Psychologie sind Identität undTotalität.

Im Prolog seiner Selbstdarstellung führt er (Jung 1979, 10) die Totalität als Orientierungsgröße der Persönlichkeit ein :

Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbe- wußten. Alles, was im Unbewußten liegt, will Ereignis werden, und auch die Persönlichkeit will sich aus ihren unbewußten Bedingungen entfalten und sich als Ganzheit erleben.

Auch der axiomatische Hinweis auf das Kriterium des Erzählenswerten enthüllt bei Jung (1979,11) den bewußten Anschluß an Goethes zum ,geflügelten Wort’75 gewordenen Diktum aus dem Chorus mysticus des Faust von der Gleich- nishaftigkeit des Vergänglichen: "Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die vergängliche einbrach."76

Der Schweizer Psychoanalytiker hat die Bedeutung des Wertes für die Psycho- logie als geradezu konstitutiv herausgehoben77 und die axiomatische Kategorie auf den von Rudolf Otto (1917) übernommenen theologischen Begriff des

"Numinosen" gegründet, welcher die Erfahrung des Kreatürlichen in den Mo­

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menten des Übermächtigen (majestas), des Erhabenen (augustum) und des Schau- ervollen (tremendum), des Unheimlichen und des "Ganz Anderen" ergreift. Der Wert, welcher für Freud gerade die Differenz zwischen unterbewußter Intention und realer Handlung ausmacht, bildet für den Psychologen als emotionale Brücke das Bindeglied zwischen Erlebnis und Leben:

Wenn auch die Formen der Archetypen zu seinem gewissen Grad auswechselbar sind, so bleibt doch ihre Numinosität eine Tatsache und bildet den Wert eines archetypischen Geschehens. Diesen emo- tionalen Wert muß man während des ganzen intellektuellen Vorgangs der Trauminterpretation im Auge behalten. Man übersieht ihn nur zu leicht, weil Denken und Fühlen einander diametral entgegengesetzt sind, so dass das Denken fast automatisch die Gefühlswerte abdrängt.

Die Psychologie ist die einzige Wissenschaft, die den Wertfaktor (das heisst das Gefühl) in Rechnung stellen muss, weil dieser das Binde- glied zwischen psychischen Ereignissen und dem Leben ist.

Die Einstellung von Jungs Psychologie auf Identität und ihre Bindung an Totalität kommt in den besonderen Verhältnissen zwischen den Kategorien, besser sollten wir sagen: zwischen den Archetypen des "Selbst" und des "Manda- la" zum Ausdruck. Das Bewußte und das Unbewußte umschließend, kann das Selbst nicht zu völliger Bewußtheit gelangen, weil eben das seiner Quantität nach unbestimmbare Unbewußte "mit zur Totalität des Selbst gehört" (Jung 1974, 196). Auch in der Topographie der Psyche nimmt das Selbst als Zentrum der Totalität von Bewußtem und Unbewußtem (Jung 1976b, 59) einen besonderen Raum ein. Der Freudschen Dezentrizität des Traums wird so die Konzentrik des Selbst konfrontiert. Der potenzierte Symbolismus Jungs wird greifbar, wenn er das Mandala, das Symbol der psychischen Totalität, als Bild der Zentralität und Teleologie des Selbst faßt und somit das Symbol eines Symbols konstituiert.

Des Gegensatzes zwischen Jung und Freud manifestiert sich auch an ihrem Umgang mit der Zahlensymbolik. Wo Freud wie in der topischen Figur der Psyche (Es - Ich - Über-Ich) der Dreizahl den Vorrang verleiht, stellt Jung (1973,

182) die Vierzahl ("Quaternität") in den Vordergrund:

Die Quatemität ist ein Archetypus der sozusagen universell vor- kommt. Sie ist die logische Voraussetzung für jedes Ganzheitsurteil.

Wenn man ein solches Urteil fällen will, so muß dieses einen vier- fachen Aspekt haben [...] Darum gibt es auch vier psychologische Aspekte der psychischen Orientierung, über die hinaus nichts Grund- sätzliches mehr auszusagen ist.

Dabei lassen sich die vier psychischen Funktionen Jungs - Empfindung, Denken, Fühlen, Intuition - durchaus mit den oben aufgeführten vier psychischen Grund- Operationen bei Goethe vergleichen.

Jung (1965, 96) grenzt nun die intellektuelle gegen die psychische Rezeption von Erscheinungen gerade aufgrund der Differenz von Semantik und Axiomatik

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gegeneinander ab. Die psychische Rezeption allein eröffne den Zugang zur Tota*

lität der Erscheinung:

[.š.] das psychische Phänomen wird als Ganzes durch den Intellekt nicht erfaßt, denn es besteht nicht nur aus Si nn, sondern auch aus W ert, welch letzterer auf der Intensität der begleitenden Gefühlstöne beruht.

Wert ist bei Jung zum einen als kometarische Größe eine Kategorie der Konti- guität, zum anderen aber bildet sie ganz entscheidend eine Kategorie des Grades;

wir erinnern uns an Goethes Begriff der "Steigerung". Amplifikation und Grada*

tion sind denn auch die axiomadschen Grundverfahren der symbolisierenden Praxis. Allerdings trübt die Einheit des Symbolischen hier der Hinweis auf den begleitenden Charakter der Gefühlsnuancen, auf denen für Jung der W en der psychischen Phänomene aufzuruhen scheint. An anderer Stelle hat er denn auch (Jung 1965, 53) in einer Weise zur Axiomatik der Archetypen Stellung bezogen, die uns sogleich an Kleists Allegorie des Marionettentheaters erinnert:

Der Archetypus ist an sich weder gut noch böse. Er ist ein moralisch indifferentes Numen, welches erst durch den Zusammenstoß mit dem Bewußtsein zu dem einen oder anderen oder zu einer gegensätzlichen Zweiheit wird. Diese Entscheidung zum Guten oder Bösen wird wissentlich oder unwissentlich von der menschlichen Einstellung her- beigeführt.

Der Unterschied zu Kleist besteht nun darin, daß don die Vorbewußtheit des Ani- malischen unrettbar verloren war, während Jungs Psychologie die Präsentation des Archetypischen im Selbst postuliert. Auf die Funktion einer kollektiven "fa*

cultas praeformandi" eingeschränkt und verglichen mit dem Achsensystem eines Kristalls, welches die Kristallbildung vorprägt, ohne selbst über materielle Quali*

tat zu verfügen, erlangt der Archetypus (Jung 1976a, 95) den Charakter eines axiomatisch-teleologischen Paradigmas.

Jung (1965, 97f.) hebt von den subjektiven und wandelbaren psychischen Werten nun invariante objektive Werte ab, zu denen er neben den ethischen und religiösen auch die ästhetischen rechnet:

Ich spreche hier von der subjektiven Gefühlsbetonung, die dem [...]

mehr oder weniger periodischen Wechsel unterworfen ist. Es gibt nun aber auch objektive Werte, die auf dem allgemeinen consensus beruhen, wie z.B. moralische, ästhetische und religiöse Werte, d.h.

allgemein anerkannte Ideale oder gefühlsbetonte kollektive Vorstel- lungen (Lévy Bruhls "representations collectives"78). Die subjektiven Gefühlsbetonungen resp. "Wertquantitäten" sind leicht festzustellen durch A n und Zahl der von ihnen bewirkten Konstellationen bzw.

Störungssymptome.79

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In Übereinstimmung mit dieser Differenzierung wird dann auch den psychologi- sehen und literaturwissenschaftlichen Wertungen literarischer Kunstwerke ein

Die Axiologie 145 verschiedenartiger Charakter verliehen:

Die psychologische Betrachtung des literarischen Kunstwerkes un- terscheidet sich durch ihre spezifische Einstellung von der literatur- wissenschaftlichen Weise. Die für die letztere ausschlaggebenden Werte und Tatsachen können für erstere sozusagen belanglos sein; ja, Werke von höchst zweifelhaftem literarischem Wert erscheinen oft dem Psychologen als besonders interessant.

Diese Eröffnung des Abschnitts Das Werk aus C.G. Jungs (1965, 31) Aufsatz Psychologie und Dichtung könnte eine bündige Scheidung zwischen literaturwis*

senschaftlicher und psychologischer Betrachtung der Literatur gerade mit Blick auf die Erscheinung der Werte nahelegen. Jung teilt dabei die literarischen Werke in zwei Gruppen ein, deren eine ־ er nennt sie psychologisch und verweist vor al- lem auf den Realismus - seiner Auffassung nach aus Texten besteht, welche sich aus sich selbst heraus erklären, während die anderen, "visionär" genannten - wir könnten hier an die (russische) Moderne denken -, gerade infolge ihrer Fremd- artigkeit und Unverständlichkeit der psychologisierenden Deutung bedürften.

Jung (1965, 53) gerät freilich unversehens in einen Widerspruch mit seinerei- genen These vom heterogenen Charakter der Wertung, wenn er sagt "Das große Werk ist wie ein Traum, der trotz aller Offenkundigkeit sich selbst nicht deutet und auch niemals eindeutig ist." Im Hintergrund scheint unausgesprochen eine Werthierarchie zu wirken, welche die universalen Grundvorstellungen - Jung (1965,98) nennt sie kollektiv * gegenüber den individuellen Anschauungen favo- risiert:

Kollektive Ideale haben häufig keine subjektive Gefühlsbetonung, behalten aber trotzdem ihren Gefühlswert. Letzterer läßt sich daher nicht durch subjektive Symptome nachweisen, wohl aber durch die solchen Kollektivvorstellungen anhaftenden Wertattribute einerseits und durch eine charakteristische Symbolik andererseits, ganz abgese- hen von der Suggestivwirkung.

In der großen Kunst ist für Jung ein Subjekt am Werk, welches das Individuum übersteigt. Die alte Vorstellung vom Künstler als Medium einer außerhalb von ihm wirkenden Macht tritt wieder in ihr Recht und räumt dem Schriftsteller ein Vermögen ein, welches die individuellen Voraussetzungen weit hinter sich läßt (Jung 1985, 53):

So erfüllt sich das seelische Bedürfnis des Volkes im Werke des Dichters, und darum bedeutet das Werk dem Dichter in Tat und Wahrheit mehr als sein persönliches Schicksal, ob er sich dessen nun bewußt sei oder nicht. Er ist in tiefstem Sinne Instrument und deshalb unterhalb seines Werkes, weshalb wir von ihm auch niemals eine Deutung seines eigenen Werkes erwarten dürfen.

Für den Literaturwissenschaftler hält Jung (1965,54) wie für den Psychologen eine Persona ־ oder wie wir zu sagen gewohnt sind: eine Rolle - bereit; sie reicht

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in die historische Tiefe der archaischen Kultur und gründet im nichtgenannten Begriff der Katharsis. Freuds Begriff der "Urszene" durch die Kategorie des

"Urerlebnisses" ersetzend, verlegt Jung in den Traum, was der Tagtraum mancher psychologischer und literarischer, vor allem aber auch psychopoetischer Interpreten sein dürfte:

[...] wenn einer vom weisen Lehrer träumt, so ist er entweder zu lehrhaft oder bedarf des Lehrers. Und beides ist subtil dasselbe, wessen einer nur dann inne wird, wenn er das Kunstwerk annähernd so auf sich wirken läßt, wie es auf den Dichter wirkte. Um seinen Sinn zu verstehen, muß man sich von ihm gestalten lassen, wie es den Dichter gestaltet hat. Und dann verstehen wir auch, was sein Urerlebnis war: er hat jene heilsame und erlösende seelische Tiefe berührt, wo noch kein Einzelner zur Einsamkeit des Bewußtseins sich abgesondert hat[״ .].

2.3 Z u r Sem iotik d er Psychoanalyse und P sychopoetik

Roman Jakobsons (1974) Unterscheidung aphatischer Störungen kann auch einer Typologie der Semiotik psychopoetischer Erscheinungen zugrundegelegt werden. Allegorische Psychopoetik geht mit einer außergewöhnlichen Stärkung der Kontiguität und der komplementären Schwächungen der Similarität einher, symbolische Psychopoetik räumt umgekehrt der Ähnlichkeitsbeziehung auf Ko- sten der Nachbarschaftsbeziehung die Vorherrschaft ein. Allerdings wird dieses Abrücken vom Mittelmaß der Ausgewogenheit zwischen paradigmatischer und syntagmatischer Textkonstituierung hier nicht als 'Störung', sondern als Weg kreativer Umformung mit Blick auf etablierte Textpraktiken begriffen.

Sehr überzeugend hat der bedeutende Linguist (Jakobson 1974, 138) die Similaritätsstörung der Aphasie mit der Erscheinung der substituierenden *Identi- fikation' und die Kontiguitätsstörung mit der Freudschen ,Verdrängung' in Verbindung gebracht. Auch hat er völlig zurecht darauf verweisen, daß durch die engere Bindung zu den Tropen die Behandlung der Smilarität bislang weitgehen- den Vorzug bei der literaturpsychologischen Betrachtung genoß. Untersuchungen einer Veränderung der Kontiguität stellen noch stets ein Desiderat der Forschung dar.

Allerdings soll bei der weiteren Betrachtung gegenüber Jakobsons einliniger Verfahrensweise eine Differenzierung vorgenommen werden. Es wird sich als vorteilhaft erweisen, zwischen einer Similarität auf der Ebene der dargestellten Welt (z.B. "господин", "не красавец", "приезжий господин", "он", "при*

езжий", "Коллежский советник Павел Иванович Чичиков", "Чичиков"

als Bezeichnungen des Helden im Eingang der Toten Seelen) und einer Similarität auf der Textebene (z.B. der Reimwörter 'кровь ־ любовь') zu unterscheiden. Ent- sprechend gilt es zwischen der Kontiguität auf der Textebene, die unter anderem durch Konjunktionen, deiktische Ausdrücke und Relativpronomina hergestellt

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wird und der Nachbarschaft von Erscheinungen in der dargestellten Welt zu unterscheiden (z.B. räumliche Nähe, zeitliche Folge). Die Milieudarstellung reali- stischer Texte, die eine Figur aus ihrer Umgebung, einen Verbrecher aus seinem asozialen Umfeld begreiflich macht,80 gründet in der Kontiguität der dargestellten Welt.81 Narration neigt im Sinne der oratio prorsa zur Stiftung von textueller Kontiguität (z.B. ganz zu Beginn der Toten Seelen: "В ворота гости-ницы губерного города [...] въехала [...] бричка, в какой ездят хо-лостяки" oder

"Покамест слуги управлялись и возились, господин отправился в общую залу"), Poesie dagegen folgt dagegen schon im Vers dem Prinzip der textuellen Similari tat.

Aufschlußreich sind im psychopoetischen Sinne weniger die Fälle der Kon- gruenz von Similarität der dargestellten Welt und der Darstellung (reine Symbo- lik) oder Kontiguität der Darstellung und der dargestellten Welt (reine Allegorik),

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sondern die Überlagerung der Similarität durch Kontiguität (Gogol's Prosa) und vice versa (Platonovs Prosa) sowie die Inkongruenz zwischen der Dominanz der Kontiguität in der dargestellten Welt und der Vorherrschaft der Similarität in der Textpraxis (z.B. Nekrasovs Gedichte) oder die überwiegend symbolischen Dar- Stellung einer allegorischen Welt (Prosa Andrej Belyjs).

Einen Sonderfall bietet eine Ich- und Weltauffassung, welche den Unterschied von Similarität und Kontiguität zunichte zu machen trachtet. Er ist im Leben und Werk von Vasilij Rozanov gegeben und soll hier unter psychopoetischem und axiomatischem Gesichtspunkt betrachtet werden.

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