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Rozanovs melancholisch paraphrene Psycho-Sem antik im Horizont aktueller Sinnbildung

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 159-165)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

3. Die melancholisch-paraphrene Psychopoetik Vasilij Rozanovs

3.2. Rozanovs melancholisch paraphrene Psycho-Sem antik im Horizont aktueller Sinnbildung

Настоящая тема в Росли одна: сон.

Rozanov 1989b, 192

Aufgrund der paraphrenen Grunddisposition der Persönlichkeit ist die psycho- _ _ ■ • poetische Bedeutungswelt von Rozanovs literarischen Äußerungen äußerst inho- mögen. Ein jeder Versuch, die Vielfalt der Bedeutungseinheiten seiner Äußerun- gen auf ein kohärentes psychosemantisches System zu beziehen, ist von vomher- ein zum Scheitern verurteilt. Aus dieser Systemfeme folgt keineswegs die Belie- bigkeit der Bedeutungseinheiten. Sie erlangen ihre Spezifik, ihre Geltung, und ihren Wert freilich nicht durch ihre Stelle in einem geschlossenen, vorgegebenen und vom Diskurs abstrahierbaren Bedeutungssystem, sondern aus ihrem okka- sionellen Zusammenhang in der jeweiligen Äußerung und aus ihrer Neigung zur indexikalischen Semiose. Daher gründen die Erscheinungen ungeachtet ihres unsystematischen Charakters auch weniger auf Gegenständlichkeit als auf Bezüg- lichkeit. Ein Phänomen wird dann weniger durch seine systematischen Eigen- schäften und Kennzeichen als vielmehr durch seine situativen Relationen definiert.

Die Bedeutungseinheiten haben eine geringe symbolische Tragkraft und neigen statt zur Bildung von Tropen wie dem Symbol oder der Metapher zur Metonymie.

Ein beträchtlicher Anteil der Texte Rozanovs ist denn auch durch die realisierte Metonymie,115 insbesondere die realisierte Genealogie charakterisiert: «Связь пола с Богом - большая, чем связь ума с Богом, даж е чем связь совести с

Богом [...]» (Rozanov 1970,50).

Eine besondere Form metonymischer Bedeutungsbeziehung ist die Eigentums- bestimmung. Bei Rozanov (1989a, 438) verlieren die Dinge ihre in sich geschlos- sene Identität - gerade als Besitz des jeweils anderen werden sie uns zugäng- lieh:116

«״ .да потому, что ее - это принадлежит мне».

«А его - это принадлежит м не»,- думает девушка.

Durch diese Stärkung des kontextuell Relationalen, der Okkurenz, kann auch die Relevanz des Azkidentellen gegenüber dem Essentiellen gestärkt werden.

Dem Prinzip der Paraphrenie getreu ist im Widerspruch zum Positivismus bei Rozanov der empirischen Wirklichkeit der Erfahrung die des Phantastischen, des Traums gleichgestellt; zwischen Bedeutungseinheiten, die auf innerer und äußerer Wahrnehmung gründen, gibt es weder einen grundsätzlichen kategorialen noch einen axiomatischen Unterschied. So kann die Welt ganz anders als im litera- rischen Realismus denn auch allen Ernstes als wahrsagender Zauber erscheinen.

Die Bedeutungseinheiten der Geisteswissenschaft (historischer Zyklus) und der

Naturwissenschaft geraten im paraphrenen Horizont mit den Bedeutungselemen- ten der Magie auf ein und dieselbe Ebene:117

Мир живет великими заворожениями.

Мир вообще есть ворожба.

И «круги» истории, и эпициклы планет.

Die Psycho-Semantik Rozanovs zehrt nicht allein von der synchronischen Okku- renz ihrer Elemente, sondern auch von ihrem sprachlich-genealogischen Bezug,118 von einer Bedeutungsgeschichte, die zum Mythischen neigt. Dabei wird die aktuelle Bedeutung sehr oft der traditierten ausdrücklich oder unausdrücklich ent- gegengesetzt. So erhebt Rozanov (1911,464f.) zum Element der Psyche weder ־ wie die griechische, lateinische und slavische Tradition ־ die Luft ('ттѵеица'),119 noch - der germanischen gleich ־ das Wasser ('See-le’)120 sondern das Feuer ("огонь"). Allerdings wird die Seele ihrerseits relational negativ (metonymisch) über den politischen (situativen) Typus des "Liberalen" bestimmt:121 «Либерал

«к услугам», но не душа. Душа - именно не либерал, а энтузиазм, вера.

Душа - безумие, огонь. Душ а - воин: а ходит пусть он «в сапогах», сшитых либералом.» Doch ist die hitzige Feuersglut keineswegs der dauerhafte Zustand der Psyche; in der paraphren alternativen Schreckensvorstellung vom

"Gefrieren" ("озноб") der Seele verschafft sich ein prozessualer, geradezu metamorphotischer Seelen-Entwurf Ausdruck.123 Die Seele geht auf in der wechselhaften Befindlichkeit ihres Augenblicks.

Auch die Liebe wird von Rozanov elementarisiert und damit zugleich materiali- siert (genauer: physiologisiert). Wie bei der Seele ersetzt der Autor die geläufige Bestimmung durch eine ihr entgegengesetzte; die Liebe sei am angemessensten im Element der Luft vergegenwärtigt (Rozanov 1989a, 339): «Любовь вовсе не огонь (часто определяют), любовь - воздух. Без нее - нет дыхания, а при ней «душится легко». Kulturhistorisch betrachtet, vertauscht Rozanov gerade- zu die elementare Zuordnung von Liebe und Seele. Die angemessene Bestimmung der semantischer Einheiten ist daher nicht nur auf kontextuelle Akzidenz, sondern auch auf konfrontative Diachronie zu richten.

Die paraphrene Rozanovsche Semantik verknüpft mittels der realisierten Metonymie sehr oft abstrakte Erscheinungen mit konkreten, physiologischen.

Dabei wird anders als bei Goethe nicht das Allgemeine im Besonderen symbo- lisch versinnlicht, es spricht sich vielmehr die Überzeugung aus, alles Ideelle sei durch den Realbereich selbst dem Materiellen indexikalisch verschwistert. In ei- nem seiner letzten Briefe an Ė. F. Gollerbach antwortete Rozanov (1989b, 521) am 26. Oktober 1918 auf die Frage, bis zum welchem Extrem man Rußland lieben müßte: «Мы должны любить ее до снаоборот нашему мнению>,

<убеждению>, голове. Сердце, сердце, вот оно любовь к родине - ч р е в н а я » . Heimatliebe124 gerät hier ־ gleichsam der 'Genealogie' des Wortes

"родина" folgend ־ zur physiologischen Bindung des Kindes an den

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bauch; Leitbild dieser genealogischen Metonymie ist die Nabelschnur. Diese Physiologisierung der Liebe zielte bei Rozanov anders als bei Freud keineswegs nur auf Sexualität, sie umfaßte auch Eros und Agape.

Als anderes Beispiel für die metonymische Materialisierung geistiger Erschei- nungen kann die Physiologie des Leseprozesses dienen. Die mythische Vorstel- lung vom Textessen realisiert Rozanov (1989a, 343) mittels der Metonymie Autor - W erk:125 «Пушкин... я его ел. У ж е знаешь страницу, сцену: и перечтешь вновь; но это - ела. Вошло в меня, беж ит в крови, освежает мозг, чистит душу от грехов.» Die visuelle Rezeption wird hier zu einer Form des körperlichen Hineintretens der anderen Person in das Ich, eine Form zumal, die - einerseits dem leiblichen Verzehr gleich - das Leben aufrechterhält, andererseits aber auch eine kathartische Wirkung ausübt.126

Zusammen mit dem oben angeführte gegenläufigen Modell des Lesers als Ernährer kann der soeben besprochene Entwurf des Lesers als Ernährter zum Exempel für die paraphrene Verwendung von Bedeutungselementen bei Rozanov dienen. Eine Auflösung dieses Widerspruchs durch den Hinweis auf die m a t e - ri el l e (finanzielle) ernährende Leistung des kaufenden Lesers von Rozanovs Schriften und die geistige Nahrung des PuSkinschen Werks verschlägt nichts, da in dieser Physiologie des Essens das Geistige vom Materiellen nicht zu trennen ist.

Sehr oft ist bei Rozanov die paraphrene referentielle Bezüglichkeit in der rheto- risch-semantischen Figur der Verneinung, als negative Bestimmung der Dinge mit Blick auf ein konventionelles Wechselverhältnis nämlich, zum Ausdruck ge- bracht. So sieht er die Ehe nicht bestimmt durch die Eheschließung, sondern durch ihre Auflösung, die Ehescheidung. Dabei wird der Lebensbund, der schon der Sache nach Erscheinung des Bezugs (zwischen den Partnern) ist, gerade zur Aufhebung dieser konventionellen Relation verkehrt. Zugleich ist diese aus der herkömmlichen Relationalität gerückte Lebensform so weitgehend personalisiert, daß es scheint, als führe sie ein Eigendasein neben den durch sie verbundenen Personen: «Развод - регулятор брака, тела его, души его» (1989а, 438). Der Bedeutungskomplex 'Ehe' wird aufgesprengt und gibt statt des 'ewigen' Lebens- Bundes einen der Regulation im Augenblicklichen durch Auflösung bedürftigen leiblichen und seelischen Kem zu erkennen. Zwar setzt die Ehescheidung die Eheschließung logisch voraus; doch wird diese Voraussetzung hier nicht im Rahmen einer Dialektik, sondern im Horizont einer paraphrenen

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sehen) Dialogik eingeführi. Ungenannt liegt ihr die Äußerung voraus: ,Die Ehe ist der Regulator des menschlichen Zusammenlebens.'

Nach dem Muster der kreativen und damit kreatürlichen Bezüglichkeit und der Umkehrung des Konventionellen erscheint bei Rozanov (1970, 12) gerade das Bedeutungselement der Prostitution als für die Zeitgenossen skandalöses Modell des Sozialen; kraft des Ausdrucks ,,res publica" (mitgedacht ist 'publica', russisch:

,публичная женщ ина') werden die Menschen zu einer zugleich sozialen und asozialen Syntagmatik verbunden: «я принадлежу всем». Die realisierte Metonymie des ’Eigentum-Seins' wird zur genealogischen Grundlage des Sozial- wesens Staat erhoben: "rei publicae natae sunt ex feminis publicis".127 Auf diese Weise wird das herkömmlich Private ins Öffentliche gekehrt und das herkömm- lieh Dauerhafte ins täglich Wechselnde. Die Bezüglichkeit folgt dem Verfahren der axiomatischen Umkehrung überlieferter Verhältnisse; ganz im Gegensatz zur Überlieferung wird bei verschiedenwertigen gegensätzlichen Bezügen der kon- ventionell hochwertige ab- und der niederwertige aufgewertet: durch diese Ein- fuhr von Ambiguität und Ambivalenz beginnen die herkömmlichen Verhältnisse einen wilden Tanz.

Die spektakulärste semantische Paraphrenie der dargestellten Welt erfaßt Roza- nov (1911. 3) sicherlich in der Erscheinung der doppelten Geschlechtlichkeit:

Von der androgynen "Bärtigen Venus" ("Venus barbatus", «Бородатыя Вене- ры»;) reicht sie über die kastrierten Priester von Moloch und Astarte bis hin zu den jungfräulichen Aposteln Jakob, Johann (Sohn des Zebedäus) und Paulus.

Auch weist er auf Thekla hin, die nach dem Vernehmen der Paulinischen Predigt ihren Bräutigam verließ. Rozanov (1911, 27) entwirft die Semantik des Ge- schlechts zugleich axiomatisch als «прогрессія нисходящ ихъ и восходящихъ величинъ» und vertritt die Ansicht, es habe schon vor der Entstehung einer geordneten Welt, also vor der Bildung des Kosmos aus dem Chaos, neben der heterosexuellen Beziehung, neben der getrennten Sexualität auch die in einem Wesen vereinigte gegeben.

Der Schriftsteller (Rozanov 1911, 28) belegt diese Anschauung nicht durch den Verweis auf die naheliegende biologische Monözie, sondem auf das che- mische Analogon vom Wasser, das natürlicherweise durch die wechselseitige Anziehung und Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff gebildet werde. Wenn nun aber ein Teilchen Wasserstoff128 nicht mit dem Sauerstoff, sondern mit dem Wasserstoff kopuliere, wären wir bereit, es als Wesen mit eigener Individualität zu akzeptieren: «"чудо! живое! индивидуально-отличное! л и ц о !!"» (Her- vorhebung im Original). Gerade dort, wo dem Naturgesetz Einhalt geboten werde, beginne "дух" als "не־’природа"\ die hier im Unterschied zu Kleists Al- legorie "'не-механика'" ist. "Я" entsteht durch den Kampf mit "не-'я"', und es behauptet seine Besonderheit aus der stetigen Bestätigung seiner selbst als "не вы", als "не он я".129 Ganz im Sinne Nietzsches legitimiert sich das Ich nicht durch Moral konstituierende Befriedung, durch Schwäche offenbarende Ver- Schmelzung ('Harmonie') mit Anderem, sondern durch die Stärke begründende Vereinzelung und den Widerstreit gegen alles. Dieser Widerstand, diese Gegen- wehr fundiere mit der Person auch "дух" und "гений".

Das Geschlecht, der Sexus wird dergestalt nicht der beständigen Semantik der Anthropologie zugeschlagen, sondern der fluktuierenden Bedeutung, sie bildet in

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der Tat eine Art Newtonschen "Fluxus". Schon im Adam sei mit der aus ihm gebildeten Eva auch die Gebährfähigkeit enthalten gewesen. Dieser Adam-Eva habe "Männchen" ("самец") und "Weibchen" ("самка") maskulines und femini- nes Selbst enthalten. Dieses Beispiel erhellt auch die Ambiguität als Grundfigur der Rozanovschen Semantik. Im Pflanzensamen, im "зерно" sieht Rozanov (11, 191) noch "Samenlosigkeit" ("безсѣменность") gegeben, den Verzicht nämlich auf die Trennung von maskulinem Samen und weiblichem Ei. Während Mann und Frau durch die Bildung und das Leben im Zeichen des Samen bzw. der Eizelle (der Platonschen Vorstellung der Zerteilung des in zwei zerfallenen zuvor Geeinten getreu) eine Psychik aufweisen, die von Fülle, Vielfalt und "обосо- бленность" charakterisiert ist, sei eine Psychologie, die aus ewiger und unzer- störbarer Jungfräulichkeit erwachse, so fremdartig und ungewöhnlich, daß man sie sich gar nicht vorstellen könne. Gleichwohl sei mit dieser Psychologie zu rechnen: «Во всяком случае непремѣнно появится третья психика, - не муж ская и не женская». Sie werde allerdings eine Zerstörung des gegenwärti- gen Typs von Geschichte mit sich bringen, da die Kinderlosigkeit zugleich Zukunftslosigkeit beinhalte. An die Stelle von "rod" ("Geschlecht") würde dann der "Jünger", der "Schüler" ("ученик") treten. Die Pädagogik gerät so zur unge- schlechtlichen Folgestufe der Genealogie. Rozanov (1911, 199) führt diese ase- xuelle Psychologie auf das Mönchstum zurück, und er führt es zugleich ad absur- dum, wenn erein «царствобезсѣменныхъсвятыхъ» an den Schluß seiner Ab- handlung setzt. Hier tritt an die Stelle des Gegensatzes von verschiedenwenigem Bezug zum je Entgegengesetzten die Ambiguität der Selbstbezüglichkeit.

Die stabilen Bedeutungskeme in diesen schwankenden, nicht auf Systematik, sondern auf aktuelle Sinnbildung angelegten Bedeutungsgeflechten bilden My- then. Die Sinngröße "Person" ergibt sich nicht so sehr aus einer systematischen - Kombination von Merkmalen wie aus der narrativen Syntagmatik einer psy- chologisch-kosmologischen Mythe (Rozanov 1911, 29): «Когда міръ былъ сотворенъ, то онъ, конечно, былъ цѣлъ, "законченъ": но онъ былъ мато- вый. Богъ (боги) сказалъ: "дадимъ ему сверканіеѴ И сотворили боги - лицо.» Die Person entsteht nach Abschluß der Weltenschöpfung als ihre Ver- vollkommnung. Dabei hat Rozanov die Ambiguität des "Gesicht" und "Person"

bedeutenden russischen Ausdrucks "лицо" geschickt genutzt;130 wieder werden traditionelle Bezüge überkreuz verschoben: Die göttliche Qualität des Lichtes verbindet sich im "Leuchten" ("сияние") mit den Menschen, während Gott mit der Mehrzahl Geschlechtlichkeit erlangt:1 1 «Два Бога - мужская сторона Его,

и сторона - женская». Dem Gegensatz von matter und strahlender Welt

ent-• ent-•

spricht die Ästhetik des moralisch Negativen: «Порок живописен, а добро- детель так тускла» (1989а, 410).

Ganz im Gegensatz insbesondere zur russischen kulturgeschichtlichen Überlie- ferung sind für Rozanov (1911, 28) "Person" und "Individuum"

("индивиду-умъ") ein und dasselbe; sie beginnen mit der Absage an das Naturgesetz, mit der Störung der Einförmigkeit der Norm und der Beständigkeit des "allgemein Erwarteten" («всеобщего ожидаемого»). Das Wesen der Person legt der Den- ker in ein Ich, welches dem Ihr und dem Sie gegenübertritt, welches seinen posi- tiven Wert gerade in der Vereinzelung, in der Nichtvermischung, im Widerstand hat, während sein negativer Wert in der Schwäche, in der Nachgiebigkeit und dem Vermeiden von Streit gesehen wird, da diese Verhaltensweisen zur Befriedung mit den anderen, zur Verschmelzung mit ihnen führt. Der persönliche Wert des Ich steht (wie bei Nietzsche) der ethischen Wertigkeit der Moral diametral gegen- über; er bildet die Grundlage für «дух и гений» (Rozanov 1911,29).

Die Zeitbedeutung ist bei Rozanov (1989, 459) auf die Gegenwart des Momentanen zentriert, und sie findet ihre Bestimmung vor allem in der Negation des Ewigen, des außerhalb des Gegenwärtigen Seiendes. Zugleich steckt sie die Wertmarke ab für das Verhältnis von systematischer Bedeutung und okkasionel- lem Sinn: «Смысл - не в Вечном; смысл в Мгновениях.» Dabei treten Ewig- keit und Zeitlichkeit allerdings nicht als unversöhnliche Gegenpole auseinander, vielmehr ist das Ewige im Augenblicklichen inkarniert (Rozanov 1970, 10):

«Ж и ви каждый день гак, как бы ж и л всю ж изн ь именно для этого дня.» Ja, es gilt, einen jeden Tag zu verewigen ("увековечивать", 1989a, 459).

Die Psycho-Semantik dieser Zeitauffassung steht bei Rozanov ganz im Zeichen der Mythe des Essens vom Baum der Erkenntnis und der ihr entsprin- genden Sterblichkeit des Menschen. Hierher rührt auch die panische Angst vor dem Lebensende, der Horror finis. Die Endlichkeit des biologischen Lebens wird jedoch in ihrem Bezug auf die Gliederungsform des (Kunst-)Werks verschoben und erlangt dadurch neben dem negativen auch einen positiven Wert: "И вдруг такое: finis coronat opus!" ( Rozanov 1990,52)

Am Sinnelement des Todes erweist sich auch die Fragmentarisierung der Gemeinschaft zur psychischen Singularität des einzelnen. Gerade die Unübertrag- barkeit von der ersten auf die dritte Person, das Außer-Kraft Setzen der gramma- tischen 'shifter' enthüllt die Vereinzelung des Menschen (Rozanov 1989a, 402):

Да, вот в чем дело: для всего мира я тож е - «он умрет», и тож е - «ничего».

Каждый человек только для себя «я». Для всех он - «он». Вот великое соло. Как же при этом не зареветь с отчаянием.

Gerade die Sterblichkeit begründet kraft der Unübertragbarkeit vom Ich auf die anderen und vice versa auch den Rozanovschen (1989a, 462) Wahn der Verfug- barkeit über das eigenen Ende. Die Sinneinheit Tod tritt aus der Kategorie des Ereignisses über in die der Handlung: "Vielleicht haben die anderen nicht das Recht, s e l b s t zu sterben, ich aber habe das «М ожет быть, другие не имеют права умереть с а м и , но я имею право умереть с а м » . Diese Anmaßung gleicht freilich nur das fast barock anmutende Vanitas-Motiv für das Leben aus

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(Rozanov 1989a, 332): «Страшная пустота ж изни. О, как она ужасна״ .».

Der Tod wird zu einer ästhetischen Erscheinung des Erhabenen.

3.3 Rozanovs Psychopoetik - metonymische Mythe und Auflösung

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