• Keine Ergebnisse gefunden

Duale oder triadische Typologie der psychopathologischen Grundstörungen

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 197-200)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

1. Duale oder triadische Typologie der psychopathologischen Grundstörungen

1.1. Psychopathologische Grundtypen

Freud unterscheidet zunächst prinzipiell zwischen zwei Grundformen der Psychopathien, deren Beziehung zueinander in der Entwicklung der Psychoana- lyse immer wieder neu definiert wurde: Es sind dies die Neurosen und Psychosen. Beide psychopathologischen Typen, wie sie Freund etwa in der hierfür maßgeblichen Schrift "Neurose und Psychose" (Freud XIII, 387-391) beschreibt, wurzeln in fundamentalen Störungen innerhalb des psychischen Apparats und zwischen diesem und der Realität. Und beiden gemeinsam ist das Bestreben nach (Selbst-)Heilung und Restitution eines Urzustandes - eine Tendenz, die auch die diesen Grundstörungen homologen Kunsttypen charak- terisiert. Hervorgehoben sei hier gleich einleitend, daß die Korrelation zwischen der psychoanalytischen Typologie der Grundstörungen und jener der Hauptrich- tungen der Moderne in der Kunst weitgehend auf das Ausgangsmodell des klassischen Freudismus orientiert ist, der somit nicht so sehr als psychopoetisches Meta-System, sondern vielmehr als Teil des epistemologischen Systems der Moderne (hier im engeren Sinne bezogen auf die Periode 1890-1930) verstanden wird.

Aage A. Hansen-Löve 196

Die restitutio ad integrum als Ziel der Kunst - besonders der Moderne (Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit) - findet ihre Entsprechung im Repara- tionstrieb der Neurotik u n d Psychotik, die beide einen Urzustand der Einheit von Es und Ich, Psyche und Realität rückgewinnen wollen - dies freilich durch R e g r e ß. In der Kunst wird der Regreß - zum P r o g r e ß umgedeutet, der D e f e k t zum ästhetischen E f f e k t , der Mangel zur Fülle. Im Gegensatz zu den Psychopathien ist die Kunst auch für Freud die "nicht-zwanghafte, nicht- neurotische Form der Ersatzbefriedigung: der Zauber der ästhetischen Schöpfung rührt nicht von der Wiederkehr des Verdrängten her", sondern von einer Ver- söhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip (P. Ricceur 1974,1720•1

Wenn also Neurose und Psychose nach Freud Ausdruck der "Rebellion des Es gegen die Außenwelt" sind - also eine Unfähigkeit, sich der realen Not, der Аѵаукл, dem Realitätsprinzip anzupassen (XIII, 365; ibid., 47) - so geht es der Kunst (in der Moderne) um den Anspruch, das Realitätsprinzip aufzuheben, während den prämodemen Richtungen (allen voran dem Realismus2) die Unter- Ordnung unter das Realitätsprinzip - unter das Diktat einer Sprache der Unfreiheit und Notwendigkeit - zum Vorwurf gemacht wird.3

Sind also die Psychopathien zugleich Ausdruck eines Scheitems (als Krank- heit) wie Versuche der Selbstheilung (als Fehltherapien) - so versteht der moderne Künstler seine Rebellion als Destruktionsakt, der selbst schon künstle- risch funktioniert, ohne daß dabei - wie bei Freud immer wieder explizit und implizit - ein N o r m a l z u s t a n d (Aquilibrium, Anpassung, Korn- • •

promißfähigkeit, Elastizität etc.) als Ziel der Heilung angesehen würde: Im

״normalen Verhalten" (XIII, 365) strebt der Mensch weder nach Verleugnung der Realität (wie in der Neurose) noch nach ihrer Veränderung bzw. totalen Ersetzung (wie in der Psychose) ־ sondern nach einer maßvollen Vereinigung beider Ten- denzen. Die Moderne dagegen tendierte ־ analytisch wie sie nun war ־ nach der Isolierung beider Varianten der Rebellion und einer größtmöglichen Radikalität ihrer Realisierung.

Die Neurose erwächst aus einem Konflikt zwischen dem Ich und seinem Es (XIII, 397); die Psychose ist aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in der Beziehung zwischen Ich und Außenwelt. (XIII, 397). "Übertragungsneuro- sen [die reinsten Formen des Neurotischen] entstehen dadurch, daß das Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung befördern will, oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus der Verdrängung.” (XIII, 388).

Das Ich sitzt für Freud zwischen allen Sesseln; es will gleichzeitig zwei Herren dienen - den Erfordernissen der Außenwelt (repräsentiert durch Über-Ich und Wahmehmungsapparat, die beide dem Realitätsprinzip gehorchen) und jenen des Es, das dem Lustprinzip und seiner ungehinderten Wunsch- und Trieberfüllung nachstrebt. Zu beachten ist hier das Prinzip der Gleichzeitigkeit in dieser

funda-mentalen Konfliktdefinition - ein Prinzip, das wir bei Vygotskij als "dvojstven- nost’" - und in der Avantgarde als "Kontrastprinzip" ("princip kontrasta") wieder- finden werden.4 Im übertragenen Sinne könnte man auch von einer fundamen- talen "double bind"-Situation des Ich sprechen, was für G. Bateson und P. Watz- lawick direkt zur schizophrenen Störung führt (allgemein dazu Goeppert 1973, 48ff.).5

Gemeinsame Ursache beider Grundstörungen ist "die Versagung, die Nichter- füllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche durch Außenwelt bzw. Über-Ich" (Freud XIII, 390). Der Neurotiker bleibt der Außenwelt (bzw.

dem Gewissensdruck des Über-Ich) treu und versucht das "Es zu knebeln"; oder aber das Bewußtsein wird "vom Es überwältigt" (wie der Psychotiker) und

"daher von der Realität losgerissen" (ibid.).

Während sich der Neurotiker gegen eine Persönlichkeits- bzw Ichspaltung wehrt und daher gegen die vom Verdrängten stammenden Symptome (also gegen die Femwirkungen des Es) kämpft, geht der Psychotiker viel weiter, indem er

"nun nicht nur die Annahme neuer Wahrnehmungen verweigert [wie dies der Neurotiker tut], es wird auch der Innenwelt, welche die Außenwelt als ihr Abbild bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung) entzogen; das Ich schafft sich selbst- herrlich eine neue Außen - und Innenwelt [...] diese neue Welt ist im Sinne der

Wunschregungen des Es aufgebaut." (XIII, 389). w

Wichtig ist hier die leicht übersehbare Formulierung Freuds "im Sinne von":

Die psychotische Ersatzrealität (bzw. der Realitätsersatz), die also nicht mehr der Kontrolle durch den Wahrnehmungsapparat und des Bewußtseins unterliegt, reproduziert das Es und seine "Wunschregungen" dem Typus nach und zwar an genau der Stelle bzw. in dem Rahmen, wo normalerweise die kontrollierte Reali- tät der Außen- und Innenwelt stand. Während im Traum der gleiche Prozeß abläuft, steht der Psychotiker tatsächlich auf der Ebene der Tagwelt, gegen die er seine Antiwelt - als Triumph einer psychischen über eine von außen kommende Realität - stellt.

Während der Neurotiker unter dem Druck des Realitätseinflusses erkrankt

« •

(genauer: psychisch regrediert), leidet der Psychotiker unter dem Uberschuß des Es, was zu einem massiven 1,Realitätsverlust" führt (Freud, "Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose", XIII, 363ff.). Freilich ist auch bei der Neurose eine

"Lockerung des Verhältnisses zur Realität" zu bemerken (XIII, 364) - als Folge einer "Reaktion gegen die Verdrängung und im Mißglücken derselben. Verlustig geht eben jenes Realitätsstück, dessen "Anforderung" die Triebverdrängung ausgelöst hat. Dieses Stück der Realität wird somit als Auslöser und als Symptom

־ im Freundschen Sinne ־ s y m b o l i s c h wirksam ("symbolträchtig"), wie hier zu ergänzen wäre. Die "Reparation" ist auch Ziel der Psychose: der Ausgleich des Realitätsverlustes geht aber nicht aufkosten des Es (Neurotik) - sondern eben

"auf einem mehr selbstherrlichen Weg, durch Schöpfung einer neuen Realität"

(XIII, 365).

00064769

Zur psychopoetischen Typologie 197

Aage A. Hansen-Löve 198

1.2. Zu r . Typologie der Psychopathien als psychopoetische Modelle

Die klassische Opposition von Neurose und Psychose erfährt in der Entwick- lung der Psychoanalyse Freuds eine vielfältige Differenzierung. In dieser Darstel- lung sollen freilich die typologischen Invarianten aufkosten der Variablen einer therapieorientierten Psycho-Analytik herausgearbeitet werden.

Zum neurotischen Typus gehören alle Formen der Übertragungsneurosen, während zur psychotischen Grundstörung primär die Schizophrenien, die Amen- tia als eine akute halluzinatorische Verworrenheit gerechnet wird (Freud XIII, 389). Die Neurosen entwickeln sich somit in der Tagwelt, d.h. im überkontrol- lierten Raum der Pragmatik, des kommunikativen Geschehens; die Psychosen entfalten sich in einer realen Nachtwelt (als Träume) bzw. anstelle der Tagwelt - als Halluzinationen.

Zunehmend entwickelt Freud aber «och eine dritten - wenig ausgearbeiteten Typus der Grundstörungen: die^Melancholie (heute würde man sagen: Depres- sion) bzw. die narzißtische Neurose, in der ein Konflikt "zwischen Ich und Über- Ich" abgearbeitet wird (XIII, 390). Freilich werden bisweilen auch die narziß- tischen Störungen (Dementia praecox, Paranoia, Melancholie) zu den Psychosen gerechnet (XIII, 225) - jedenfalls was die Unmöglichkeit anlangt, ihrer analy- tisch-therapeutisch Herr zu werden.

Während in der analytischen Tiefenpsychologie Freuds ursprünglich die Neurosen als heilbar, und damit als eigentliche analysefähige Psychopathien galten, die Psychosen dagegen als unheilbar (womit ihnen bis zu einem gewissen Grad auch der Status als Psychopathie abgesprochen wurde - vgl. XIII, 198), galt in den synthetischen Richtungen der Tiefenpschologie geradezu das Gegen- teil: Höchstes Interesse (v.a. bei C.G. Jung) an den Psychosen - und eine zuneh- mende Relativierung der (v.a. kommunikationsbedingten und interaktiven) Struk- turen des Neurotischen. Noch im Spätwerk betont Freud die prominente Stellung

• «

der "Ubertragungsneurose" als das ,,eigentliche Studienobjekt der Psychoanalyse"

(XIII, 56).

Freud selbst äußert schließlich - halb ironisch ־ am Ende dieser Klassifizie- rungen, daß freilich "zunächst nicht zu sagen sei, ob wir wirklich neue Einsichten gewonnen oder nur unseren Formelschatz bereichert haben" (XIII, 390-391). In welchem Maße dies auch für die folgenden Überlegungen gilt, bleibe dahinge- stellt.

Vorwegnehmend sei folgende These aufgestellt: Die bei Freud (und nach ihm) differenzierten Grundstörungen werden typlogisch abstrahiert als Modelle inner- und intrapsychischer Korrelationen aufgefaßt und zu künstlerischen Modellen in Beziehung gesetzt - zu Modellen, die ihrerseits idealtypisch als Epochen bzw.

Perioden (Realismus, Moderne, Symbolismus, Futurismus etc.) aus der Kunst­

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 197-200)