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Rozanovs Psychopoetik - metonymische Mythe und Auflösung des Autors

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 165-197)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

3. Die melancholisch-paraphrene Psychopoetik Vasilij Rozanovs

3.3 Rozanovs Psychopoetik - metonymische Mythe und Auflösung des Autors

Стиль есть душа вещей.

Rozanov 1989b, 434.

- « Уединенное»?

Это плач писателя о своем писательстве.

Rozanov 1989b, 196.

Die Auffassung der russischen Moderne von der Welt als Kunstwerk spricht aus Rozanovs (1990, 248) Unterscheidung von westlichem und östlichem Leben.

Während dieses als lyrisch charakterisiert wird, gilt jenes als episch mit einer im- manenten Entwicklung hin zum Lyrischen. Analog dazu streicht der russische Schriftsteller (Rozanov 1990, 254) die Konzentration des westlichen

Christen-• «

tums auf die Predigt und ihre Überreste in Vortrag und Konzert gegen die östliche Einstellung auf die Liturgie als Kern des orthodoxen Gottesdienstes heraus: '*[״ .]

die Akathiste haben Rußland erzogen" («[״ .] акафисты воспитали Рос- сию»).132

Wie sieht nun die Psychopoetik der ,lyrischen* Kultur Rozanovs (1989a, 494) aus? Sie vollzieht zunächst eine äußerst bewußte Dekonstruktion des erhabenen Gegenstandes: Gegen Kants Maxime vom ״moralische[n] Gesetz in mir" und vom "gestimte[n] Himmel über mir", ja auch gegen Lermontovs diabolisch-stolze Anrufung des Sternenhimmels, tritt das Gespräch mit dem durch Diminutivsuffix familiarisierten "Sternchen",das sich nicht ü b e r , sondern v o r , auf g l e i c h e r H ö h e mit dem lyrischen Ich befindet:

Звездочка тусклая, звездочка бледная Все ты горишь предо мною одна.

Ты и больная, ты и дрожащая Вот-вот померкнешь совсем...

(в кл. Е.Л., - ходя гд е курят)

In Kants133 "bestirntem Himmel" noch erhabener Gegenstand ,,über” dem Be- trachter und Bild des Allgemein-Universellen, wird der Himmelskörper hier zur nivellierten Chiffre des Persönlich-Individuellen. Die in Klammem nachgestellte Ortsangabe vollzieht mit dem Gegensatz von Friedhof und Raucherecke die Wen- katachrese zwischen dem aufs Jenseitige und auf Dauer eingestellten Thanatos und dem Diesseitigen und Augenblicklichen des ,lebendigen’ Rauchvorgangs.

Das Momento mori tritt auch im begleitenden Moment des vergehenden Rauchs, zugleich dem gemeineuropäischen Beispiel des indexikalischen Zeichens,134 in

Spannung zur gesetzhaften Dauer, zur kosmischen Ordnung. Gegen alle Konven- tion erlangt der verlöschende Stem,135 da mit ihm statt mit dem Verstorbenen das Gespräch gesucht und gefunden wird, dem Anschein nach den Sinn einer Allegorie der Vergänglichkeit des Bestehenden. Da aber der Himmelskörper zugleich anthropomorph ('krank') entworfen ist, rückt er in die mythisch Sphäre astrologischer Überlieferung ein.136 So bildet das Verlöschen des Sterns letzten Endes eine realisierte Metonymie.

Der Lebensorientierung auf die flüchtige Gegenwart und dem Polyzentrismus der Perspektive entspricht die Sacheinstellung auf die Kleinigkeiten; Rozanov (1989, 424) selbst spricht vom "Fetischismus der Einzelheiten" («фетиш изм мелочей»), der sein Werk auszeichne. Es ist nicht die Bedeutung des wahrge- nommenen Gegenstandes sub specie aeternitatis, die das Gewicht der Wahr- nehmung ausmacht, sondern die an den Augenblick gebundene Wahrnehmung und ihr situativer Kontext. Ihr Ort sei nicht die Kirche, sondern die Kneipe ("ка- бак») (Rozanov 1989a, 341), und in ihr gebe es Gott nicht. Die überkommene Erhabenheit des wahrgenommenen Gegenstandes wird kraft der Einstellung auf die Wahrnehmung und ihre Wiedergabe abgelöst vom sublimen Charakter der

Darstellung.

Gerade für den paraphrenen standpunkt- und kontextabhängigen Sinn des scheinbar Nebensächlichen fordert der Schriftsteller deutliches ästhetisches Profil.

Das gilt auch für das Wissen Das nicht in sich Werthafte muß sich prägnant ein- und ausprägen (Rozanov 1989a, 333):

Tó знание ценно, которое острой иголкой прочертило по душе. Вялые знания - безценны. I (на поданной почтовой квитанции).

Es ist die Wahrnehmung des Ich, welche das Wahrgenommene konstituiert;

dies spricht vor allem aus der Physiologie der literarischen Vorlieben. Er könne, räumt Rozanov (1989a, 344) ein, den Literaturwissenchaftler Semen Afanas'evič Vengerov nicht ausstehen, weil der dick und schwarz sei "wie eine dickleibige Schabe" ("как брюхатый таракан"). Das wahrgenommene Flüchtige kann sich vermöge des Gedächtnisses durchaus dem ihm gegenüberstehenden Ewigen ver- binden (Rozanov 1989a,451): «Вечнаяпамять.Х отьмимолетновстретились - но вечная память ей.» Die Dauer liegt aber nicht in der Begegnung selbst, sondem im Gedenken des wahmehmenden Ich sowie im Aussprechen des Gedenkens durch das erinnernde Ich. Dieses oft ausdrückliche Nebeneinander von wahmehmendem (erlebendem) und sprechendem (erzählendem) Ich begrün- det den perspektivischen, den narrativen Charakter von Rozanovs Miniaturen.

Kraft der mythischen Metonymie erlangen sie eine mythenähnliche Erzählstruk- tur, die sich von der kollektiven Mythe durch ihre pointiert individuelle Art von Wahrnehmung und Ausdruck abhebt.

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166 Rainer Grübel

In der Gattungsbezeichnung Embryonen erlangt sich eine physiologisierende Einstellung zur Sprache Geltung, die inkarnierte Gedanken nicht vergleichsweise (rhetorisch) "wie" neuentstandene Lebewesen aufführt, sondern ihnen den tat- sächlichen Rang physiologischer Erscheinungen sowie eine vom Er-Zeuger zu- nehmend unabhängige Aktivität einräumt.137 Ähnliche Sprengkraft entfaltet die Gattungsbezeichnung О павш ие листья (Gefallene Blätter)־, beide haben als Zeichen einen indexikalischen Charakter. Dieser Ausdruck umfaßt die archaische, Natur und Kultur gleichermaßen ergreifende Vieldeutigkeit des Wortes 'Blatt'.

• •

Uber die Scheidung von Kultur und Natur verweist er zurück in die archaische Vor-Welt des in der slavischen Mythik herausragenden Lebensbaumes,138 des Arbor Vitae, als dessen 'Früchte' die Blätter auf diesen Baum verweisen. Der (implizite) Autor verhält sich dem Menschen der Frühgeschichte gleich als Sammler, welcher die abgefallenen Blätter in seinen "Korb" ("корзина") legt;

"Korb" ist denn auch der Titel der aus "Blättern" gebildeten Zyklen.

Im engeren Umkreis der slavischen Mythik bezieht sich der Gattungsname Gefallene Blätter wohl auf das Motiv des Orakelbaumes. Wie man von den Bäu- men und insbesondere vom Fallen der Blätter auch auf künftige Ereignisse schlie- ßen konnte, so vermag der Sammler der gefallenen Blätter - dem Schamanen gleich - Künftiges aus dem Blätterfall zu 'lesen'. Zabylin (1880, 183) überliefert zwei weissagende Sprüche der Weißrussen, deren einer eher positiv vom frühen Blätterfall auf einen bis zur Mitte "leichten, wenn auch unbeständigen Winter"

("zimâ [...] lòhkaja, pluchatlíwaja") vorausweist, während der andere vom Nicht- Abfallen des Laubes an einem Baum in negativer Wertigkeit der Störung des ve- getativen Zyklus auf den Tod vieler Menschen im Sommer schließen läßt. So ist das Bild auch im Igorlied gebraucht: «[...] а древо не бологомъ листвие

1 -IO

срони»). Aus der Sicht des 20. Jahrhunderts bilden die О павш ие листья ein Modell der Physiologisierung der Kultur und ihrer psychischen Produkte.

Schließlich verweist Rozanov (1990. 454), der paraphrenen Vieldeutigkeit Tribut zollend, in seiner Spätschrift С верш ины тысячелетней пирамиды auf den "Райское дерево", jenes "gewaltige" ("громаднее") Gewächs, das, Meta- pher der Zarengewalt, im Verlaufe der beiden Revolutionen von 1917 durch den

«могильный гриб» ersetzt worden sei. Angesichts der Zeitumstände werden die Gefallenen Blätter auch zum Zeugnis einer verfallenen Kultur.

Die Titelfolge der Bücher bildet, als Syntagma betrachtet, ihrerseits eine т у - thenähnliche Fabula: Von den Embryonen als Beginn geht es über Flüchtiges als Mitte zum Tödlichen (Смертное) des Endes. Der Titel Мимолётное bezeichnet die Instabilität der (künstlerischen) Wahrnehmung und durch sie die Vergäng- lichkeit des aus solchen Wahrnehmungen zusammengesetzten Lebens. Schon Balmonts (1969, 281f.) Gedicht Я не знаю мудрости, годной д л я д р уги х...

errichtet aus der Diskrepanz von Erscheinung und Wesen eine unüberwindliche Kluft zwischen dem Wissen des lyrischen Ich und der anderen:

Die Axiologie 167 Я не знаю мудрости, годной для других,

Только мимолетности я влагаю в стих.

В каждой мимолетности вижу я миры, Полные изменчивой радужной игры.

Не кляните, мудрые. Что вам до меня?

Я ведь только облачко, полное огня.

Я ведь только облачко. Видите: плыву, И зову мечтателей... Вас я не зову!

(1902)

Über Bal'monts Trochäen weist Rozanovs Gattungsbezeichnung zurück auf Puš- kins (1949 II: 265) berühmtes, Anna Petrovna Kern anläßlich ihrer Abreise aus Trigorskij gewidmetes, jambisches Gelegenheitsgedicht: «Я помню чудное мгнопение: I Передо мной явился ты, I Как мимолетное виденье, I Как гений чистой красоты.» Beim Romantiker Vergleichseigenschaft für die рое- tische Vision, beim Symbolisten Qualität poetischen Sehens überhaupt, gerät das ,,Flüchtige" Rozanov zur Grundkategorie aller Wahrnehmung. Der Blick, der nur das ,Augenblickliche* erhaschen kann, liefert das Leben der Flüchtigkeit aus. Zu- gleich aber wahrt er die Sehkraft der Vision, verfügt er über die Assoziativität des Traumgesichts.

Der Textur nach verfaßt Rozanov in der Tat oft Traumprotokolle, die im Unter- schied zur naturalistischen Traumdarstellung, aus der Perspektive gerückt, deper- spektiviert sind140 und dadurch die Position des Erzählers erschüttern. So trägt ein Eintrag in Мимолетное folgende Beischrift: («с 5-го на 6-е марта, npoc- нувшись ночю - внезапно»)141. Der zugehörige Text lautet:

Этот затхлый запах фундаментов человечества...

Всегда потяну носом, сходя в "преисподняя" земли...

Господи! Как я люблю это подножие ног Твоих.

Das Folgeprinzip der drei abbrechenden Prosaeinheiten ist bestimmt von drei Re- kurrenzfiguren, einer lautlichen, einer syntaktischen und einer semantisch-axioma- tischen. Den paronomastischen Fügungen "затхлый" ־ "запах", "потяну ־

"преисподняя" - "подножие" stehen Genitivkonstniktionen entgegen: «за- пах фундаментов человечества», «<пре-исподняя> земли» und "подно- ж ие ног Твоих". Dabei ist bemerkenswert, daß diese Figuren jeweils ein und dieselben Elemente mit verschiedenen Folgen in unterschiedliche Zusammenhän- ge einfügen. Der Geruch wird identifiziert durch die immutierende Geruchsbe- Zeichnung "затхлый", tritt aber in eine metaphorische Spannung zum nachfol- genden Won "фундаментов" - gesteigert noch in der sekundären Metaphorisie- rung im zweiten Genitiv: "человечества". Im zweiten Fall - "Höllen der Erde" - schwindet die metaphorische Qualität der Fügung bereits, und ihr durch den Plu- ral gestützter Rest muß durch Anführungszeichen signalisiert werden. Die assozi-

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mechanismus, der die metaphorische Qualität des Substantivs "подножие"

mittels der figura etymologica mit "ног" vernichtet. Der bildliche Fuß ist gleich- sam auf den wirklichen Fuß herabgekommen und steigt nun als unterste Gliedma- ße unerwartet auf zum Liebesobjekt.142 Wie im Ikonoklasmus wird die symboli- sehe Energie durch werthaften Deszensus vernichtet, um kraft der Bild- (zer)störung die nichtbildliche Proprie-Bedeutung im Wertaufstieg sublim darzu- stellen.

Die dritte Figur weist eine gegenläufige Bedeutungs- und Wertsequenz auf:

Der Geruch der verrotteten Grundlagen der Menschheit, der im zweiten Teil zum Höllengestank absinkt, wird im dritten Teil kraft der Gestaltung des Menschen

"nach seinem Bilde" sogleich zum Wohlgeruch der Füße des Herrn.143 Man denke hier nicht nur an die rituelle Fußwaschung und das Fußküssen bei Lukas (7,38); der zentrale Ort des Neuen Testaments, an welchem der unmetaphorische Zusammenhang zwischen Erde und Gottes Fuß hergestellt wird, ist gerade ein Redeverbot, nämlich das Gebot der Bergpredigt, nicht auf die Erde zu schwören:

33. Ihr habet weiter gehöret, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid thun und sollst Gott deinen Eid halten.

34. Ich aber sage euch, daß ihr allerdings nicht schwören so llt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl;

35. Noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs Stadt.

Der protokollierte Traum beschwört nun auf seine Weise die Erde; der Sprecher scheint - den Höllengestank in der Nase - gar im Begriff, sie zu verfluchen. So gesehen, durchbricht der Text das Schweigegebot. Wie die Ikone das Bildverbot, so umgeht unsere Miniatur die Verletzung des Gebotes, indem sie den Fuß des Herrn nicht bildhaft-metaphorisch, sondern geruchhaft real, gleichsam materiell als Fuß der Füße apostrophiert. Die Nähe der Wahrnehmung, die in der tradierten religiösen Axiomatik skandalöse Parallelisierung der Erde mit dem Fußgeruch Gottes gründet nicht im Sehen des Sehers, sondern im Riechen des Riechers.144 Diese Travestie des Gebetes gipfelt in der Engführung von paronomastischem, tropischem und syntaktischem Verfahren, in der traumhaften Realisierung der Fußmetapher. Religiöse Sinnbezirke, literarische Allusion - etwa danteske Höllen- fahrt ־ und neurotische Befindlichkeit werden von einer psychopoetischen Verfahrensweise getragen, die religiöse, ästhetische und epistemische Werte am- bivalent werden läßt. Dem Text liegt solchermaßen eine allegorische Verfahrens- weise voraus, die vom Textgeschehen widerrufen wird. Wieder weist die Minia- tur über die Allegorie zurück in die Mythe.

Rozanovs Abkehr von Symbol und Allegorie läßt sich auch an zwei Beispielen der Tabuverletzung und ihrem Verhältnis zu den Prätexten vorführen. Ein jüngst erst aus dem Nachlaß veröffentlichtes Stück aus Мимолетное (Rozanov 1989b, 190f.) führt die Bezeichnung für das männliche Glied einmal in Gestalt der

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Antonomasie als Namen eines Gasthofes an und ein zweites Mal als Bezeichnung einer griechischen Münze. Beide Teile des Prosatextes haben die Gundstruktur des Memorabile, ja es liegt der W en des Memorierens gerade im Verletzen des Tabus. So appelliert der Schreiber jener Zeilen ausdrücklich an den Zensor, die Gegenwärtigkeit des Wahrheitsgehaltes der Namensbehauptung nicht zum Kriterium für die Zulässigkeit des Textes zu nehmen; der Name des Hotels kann sich im Gegensatz zur Erinnerung an das Vorkommnis gewissermaßen gleichfalls ,verflüchtigt* haben...

Die russische Vulgärbezeichnung für den Penis wird im ersten Fall auf zweier- lei Weise kaschiert. Einmal ist sie zu einem vorgeblichen Fremdwort verschoben, das die Familienmitglieder nicht verstehen (sollen); zum anderen wird die Schriftfolge um den Anfangsbuchstaben kupiert oder ־ wenn man so will - 'be- schnitten'.145 Im zweiten Fall tritt das tatsächliche griechische Fremdwort

"npiaTToç" ("männliches Glied") als Name einer Münze auf, die der Schriftsteller und Numismatiker Rozanov dem Historiker und Numismatiker Aleksej Konstan- tinovič Markov gezeigt hat. (Freud würde hier ganz ohne Zweifel von einer Ersatzhandlung sprechen.)

Auf den tabuisierten Gegenstand wird jedoch insgesamt d r e i m a l verwiesen und gerade im zweiten, im mittleren Fall wird er nicht genannt, sondern para- phrasiert: «И опять называет». Das der zivilisierten Familie vorgeblich "fremde Wort" ist dem Kutscher ebenso geläufig wie der schönen Hellenin, die im Vergleich mit der Tänzerin Isadora Duncan aktualisiert ist. Die vielsinnige (Wert-) Achse, um die das Bahnhofsgespräch mit dem Kutscher, die Unterhaltung der Numismatiker und der Wortwechsel zwischen der schönen Griechin und ihrem Herrn kreisen, ist der nicht schriftsprachliche Ausdruck "Вот вы и подите"; er bringt die Reaktion auf das Brechen des Tabus zum Ausdruck. In der vulgären Sprache (z.B. der Kutscher) mahnt er zur Vorsicht, im 1hohen' Dialog der Numis- matiker dagegen ist er Ausdruck des Erstaunens. So kommt die Warnung vor dem schrecklichen, dem erhabenen Gegenstand, zur Deckung mit dem Entzücken der Verschreckten. Da das Tabuwort ausgesprochen wird, ereignet sich die Sublimation ereignet nicht vor dem Redegeschehen wie in Freuds allegorischen Übertragungen,1 6 sondern in der Darstellung selbst.

Die Unbefangenheit der Rede, welche die Nennung des Geschlechtsorgans nicht zur Zote verkommen läßt, verbindet für den sentimentalischen Sprecher Russen und Griechen in der "heiligen Einfalt der Seele",147 Sie liegt damit nicht i n , sondern zugleich v o r und n a c h dem allegorischen Spiegelstadium Kleists, v o r und n a c h der Zensur Freuds. Auch steigt sie nicht auf oder ab zu Goethes symbolischer Schau des Allgemeinen im Besonderen oder zur Unerreichbarkeit der Archetypen bei Jung. Was russische Hellenisten wie Solov'ev und Vjačeslav Ivanov in der stilistisch hohen Sprache von Theologie und Ästhetik nachzuweisen suchten, führt Rozanov gewissermaßen am Alltagsgespräch mit den Kutschern

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vor:

Еще бы русские не эллины. Настоящие эллины. Выхожу из вокзала в Рыбинске и говорю в толпу ж адно ж дущ их

«ездока» извощиков:

— Какая здесь лучшая гостиница в городе?

— .уева.

Прямо испугался. Оглядываюсь, не слышали ли дети и жена, но они иностранных слов не понимают.

—Тише, дурак. Я спрашиваю, где же мне с семьей остано- витсься в лучшей гостинице. И багаж большой.

— Да только одна хорошая г остиница. И опять называет. На главной площади. Чуть ли не против «гимназии, клуба» и всехвластей.

Так и въехали.

Показываю монету Маркову: маленький рачок («креветка», - он назвал).

— Приапус.

Я замер.

— Город Приапус, в Мидии, в Малой Азии.

Вот вы и подите.148

— Откуда - ты, — спрашивают гречанку ІІ־го века до Р.Х.

— Я из Приапуса, господин мой, отвечала эллинка, прелест- ная, как Дункан.

Но только для нее это было «по-русски», а не по-иностранно- му. Значение слова, имя ц е л о г о г о р о д а , конечно она пони- мала.

Таким образом, эллины в святой простоте души совпадали с рыбинскими извоіциками. Конечно, это немцам и в голову не приходило, и они со своими претензиями (в 30-х годах ХІХ-го века) «быть эллинами» русскому «в пояс не годятся».

Ясное небо только над русскими и греками.

(прош у цензора не придираться к назва- н и ю гостиницы, проверив название по те* леграф у и л и почте; было это лет 7 назад)

Sicherlich ist hier der Bezug auf das Altertum auch darin von Gewicht, daß dem griechischen Ausdruck wie der griechische Figur ־ vor allem im russischen Hellenismus ־ ein hoher Stil- und Bedeutungswert zukam. Rozanov taucht in diese überkommene Wertsphäre jedoch den im Russischen vulgären Ausdruck, und erhöht so dessen Annehmbarkeit und durch sie auch die des bezeichneten Organs.149

Als intertextuelle Bezugsgrundlage, als sprachliche ,Genealogie* diente dieser offenkundig noch im 20. Jahrhundert skandalöse Einfuhr der russischen Bezeich- nung des Phallus in die russische Literatur mit großer Wahrscheinlichkeit eine Passage aus dem zweiten von Dostoevskijs (1972-1990, XXI: 108f.) Малень­

ки е картинки. In dieser Prosaminiatur aus dem Tagebuch eines Schriftstellers wird berichtet, wie in der russischen Sprache das übrigens ungenannte, doch viel- fach durch Euphemismen ersetzte russische Wort "хуй" als alleiniger, aber sechsmal wiederkehrender Ausdruck ein ganzes Gespräch zwischen mehreren Personen der Unterklasse füllt. An eine Betrachtung über die neue Mode der Petersburger Gärten schließt die Frage an, weshalb es in der Stadt Peters an Sonntagen soviel "trauriger" ("грустнее") sei als an Werktagen. Sie wird mit ei- nem Raisonnement beantwortet, das in die karnevalistische Darstellung eines Dialogs betrunkener Arbeiter übergeht:

Гуляки из рабочего люда мне не мешают, и я к ним, остав- шись теперь в Петербурге, совсем привык, хотя прежде тер- петь не мог, даже до ненависти. Они ходят по праздникам пьяные, иногда толпами, давят и натыкаются на людей - не от буянства, а так, потому что пьяному нельзя не натыкаться и не давить; сквернословят вслух, несмотря на целые толпы детей и ж енщ ин, мимо которых проходят, - не от нахальства, а так, потому что пьяному и нельзя иметь другого языка, кроме сквернословного. Именно это язык, целый язык, я в этом убедился недавно, язык самый удобный и оригинальный, самый приспособленный к пьяному или даже лишь к хмель- ному состоянию, так что он совершенно не мог не явиться, и если б его совсем не было - il faudrait l'inventer. Я вовсе не шутя говорю. Рассудите. Известно, что в хмелю первым делом свя- зан и туго ворочается язы к во рту, наплыв же мыслей и ощущений у хмельного, или у всякого не как стелька пьяного человека, почти удесятеряется. А потому естественно требу- ется, чтобы был отыскан такой язык, который мог бы удо- влетворять этим обоим, противоположным друг другу состо- яниям. Язык этот уже спокон веку отыскан и принят во всей Руси. Э го просто-запросто название одного нелексиконного существительного, так что весь этот язы к состоит из одного только слова, чрезвычайно удобно произносимого.

Durchaus auf der Höhe der Sprachwissenschaft seiner Zeit, bietet das Tagebuch des Schriftstellers eine Einleitung in einen genau abgesteckten Bereich des russischen Argot. Sie nutzt den besonderen psychophysischen Zustand der Sprecher geschickt zur dreifachen Motivation des Sprachgeschehens. Die physio- logische Erschwerung der Artikulation durch den Alkohol gerät in einen vom Schriftsteller ausdrücklich gemachten Gegensatz zum gesteigerten gedanklichen und emotionalen Mitteilungsbedürfnis.

Der Rausch ist es auch, welcher - hier noch unausdrücklich - als Ausnahme- situation die Sprachregeln des (Arbeits-) Alltags feiertäglich außer Kraft setzt und einer Rede Raum gewährt, die, statt begrifflicher Schärfe, der kontextabhängigen Sinnfülle den ersten Platz zuweist. Dieser Rede im Rausch spricht Dostoevskij (1972-1990. XXI: 117) nun ausdrücklich den ethischen Wert der "Keuschheit"

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Rainer Griibel 172

("целомудренность") zu.150 Neben die Ambiguität der Einwon-Äußerung tritt damit jene Mehnonigkeit, die Bachtin (1964) gerade in seinem Buch über

Dostoevskij dargestellt hat. Mit großer Kunstfertigkeit beschreibt der russische Realist im erzählenden Text die Bedeutungsumgebungen, das Milieu der

« •

Äußerungen, die sie begleitenden Gesten sowie die von dem stets gleichen Wort zum Ausdruck gebrachten Sinngebungen. Ohne diese Darstellung des Gemeinten sowie der begleitenden Gestik und Mimik müßte der Sinn des Ein-Wort-Ge- sprächs unverständlich bleiben.151 Im folgenden Zitat sind Periphrasen des Sinns durch Unterstreichung kenntlich gemacht; Doppelunterstreichung kennzeichnet

• •

die Umschreibung des Tabuworts selbst, punktierte Unterstreichung die Uber- schneidung der Dialogwiedergabe im engeren Sinne mit der Kennzeichnung der Körpersprache. Allein der n i c h t unterstrichene Teil bildet so das weder situative noch charakterisierende noch periphrastische Gerüst der Gesprächswiedergabe:

173 Die Axiologie

самое запрещенное при дамах существительное, что, впрочем, ясно и точно оОозначало... ^<Чего орешь, г л о т к у дерешь!»

Итак, не проговоря ни единого другого слова, они повторили это одно только излюбленное ими словечко шесть раз кряду, один за другим, и д о н я л и дрѵг дрѵга вполне. Это־ факт, которому я 0ыл свидетелем.

Dieser Essay bildet eines der großen realistischen Beispiele jenes mehrtonigen grotesken Wortes, dessen burleskes Leben Bachtin (1990, 407-480, bes. 459) in seinem Buch über Rabelais beispielhaft analysiert und dargestellt hat. Der bench- tende Schriftsteller tabuisiert bei Dostoevskij ganz im Gegensatz zum Autor der Renaissance eben den volkssprachlichen Ausdruck, dessen Abwesenheit die vie- len umfangreichen Euphemismen und die sie stützenden Beschreibungen im Text motiviert, ihre Lektüre dem Leser nicht langwierig erscheinen läßt und zugleich die Psychopoetik des Textes bestimmt. Der russische volkstümliche Ausdruck für das männliche Glied152 ist in der zitierten Textpartie stets präsent, aber nie ausge- sprachen. Die Ersatzausdrücke gestatten es, statt des direkten Wortes virtuos metasprachliche Ausdrücke einzuführen, die das Aussprechen des einsilbigen Wortes zum Gegenstand einer vielsilbigen Darstellung erheben. Vehement hat Dostoevskij (1972-1990, XXI: 117) sich gegen die Unterstellung zur Wehr gesetzt, die Anspielung auf das tabuisierte W on und den von ihm bezeichnete Gegenstand hätten die Darstellung eingegeben. Sehr geschickt spielt er den Vor- wurf dem ironisch als ’,Lehrer" apostrophierten Kritiker zurück:

А знаете что, учитель? Мне־то вот и каж ется, что вы нарочно подхватили у меня о н е м , именно чтоб сделать и ваш фелье- тон занимательнее (а то что интенсивность-то!), может быть, даже позавидовали моему успеху в Зарядье? Это очень и очень мож ет быть. Не стали бы вы так копаться и размазывать и столько раз поминать об этом; мало того что поминали и размазывали, даже нюхали...

Dostoevskijs Invektive gipfelt im Hinweis auf das Riechen, auf jene kontakthal- tige Wahmehmungsart, die in der Hochkultur mit besonderer Ideosynkrasie be- dacht,153 bei Rozanov, wie bereits gezeigt, ins Zentrum der Apperzeption rücken sollte.

Das stetige Vermeiden des im dargestellten Dialog sechsmal ausgesprochenen Vulgärwortes durch den wiedergebenden Text entspringt kulturhistorisch dem werthaften Zusammenstoß zwischen der inoffiziellen Sprachkultur des Volkes, vor allem ihrer Vorstellung von in sich nicht abgeschlossenen, in dauerhafter Veränderung begriffenen, sich auswölbenden und ineinander eindringenden Lei- bem mit der offiziellen, vom Sprecher des Textes vertretenen Kultur- und Sprach- norm eines glatten, 'unanstößigen' Körpers, dessen Herrschaft Bachtin (1990, 354-357) auf die Geschichte der Neuzeit befristet hat.

Das in den Text eingeführte Schriftsteller-Ich erhebt - ganz im Sinne einer In­

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stanz der sozialen Zensur - mit solchen negativwertigen Wörtern gegen das Rede- geschehen Einspruch, die dem moralischen Glossar der offiziellen Ethik entnom- men zu sein scheinen: 'Срамеж' und 'стыд' bilden die äußeren und inneren Sank- tionen für unanständiges Verhalten. Wider alle Erwartung hat dann auch Dosto- evskij (1972-1990, XXI: 116) in der Replik auf die Kritik seiner Darstellung gerade jenen Schichten im Unterschied zur "Keuschheit" des Volks Verkommen- heit nachgesagt, welche die Kultur des abgegrenzten glatten Körpers tragen:

Я даже имею дерзость утверждать, что эстетически и умствен- но развитые слои нашего общества несравненно развратнее в этом смысле нашего грубого и столь неразвитого простого народа.

Die Volkskultur kennt für ihre Rede weder Scham noch Schande - angesichts von Zeugung, Geburt und Tod, ist jedes Benennen dieser Vorgänge und ihrer Bestandteile legitim. Der innerkulturelle Konflikt wird nicht im hohen Diskurs, sondern im geradezu karnevalistischen Lachen der Arbeiter gelöst; der Berich- tende selbst hat zum siebten Mal (magische Zahl!) das inkriminierte Won ge- braucht und damit in der wiedergegebenen Wirklichkeit, nicht aber in öffentlicher Rede die Sagbarkeit des Tabuwortes demonstriert:

«Помилуйте!- закричал я им вдруг, ни с того ни с сего (я был в самой середине толпы ).- Всего только десять шагов прошли, а шесть раз (имя рек) повторили! Ведь это срамеж! Ну, не стыдно ли вам?» Все вдруг на меня уставились, как смотрят на нечто совсем неожиданное, и на м иг замолчали; я думал, выругают, но не выругали, а только молоденький паренек, пройдя уж е шагов десять, вдруг повернулся ко мне и на ходу закричал:

- А ты что ж е сам-то седьмой раз е г о поминаешь, коли на нас шесть разов насчитал?

Раздался взрыв хохота, и партия прошла, уж е не беспокоясь более обо мне.

Während bei Dostoevskij der Körperteil tabuisiert bleibt und Ersatzausdrücke den gemeinten Sinn wie auch das Redeverhalten situativ differenzieren, tritt bei Rozanov das Tabuwort im ersten und dritten Fall als gleichsetzender Name in Erscheinung. Läßt Dostoevskij noch in der Erwiderung auf seinen Kritiker die sozialpsychologische pragmatische Instanz ungenannt, welche zur Ersetzung des Tabuwortes durch euphemistische Ausdrücke nötigt, ist die Zensur bei Rozanov Gegenstand des kursiv gesetzten, die Redesituation kennzeichnenden Zusatzes, [)er Realist schaut in der unbefangenen Nennung des tabuierten Ausdruck sym- bolisch die "Unschuld" des ungebildeten Volkes. Seine paraphrasierende Psycho-

Während bei Dostoevskij der Körperteil tabuisiert bleibt und Ersatzausdrücke den gemeinten Sinn wie auch das Redeverhalten situativ differenzieren, tritt bei Rozanov das Tabuwort im ersten und dritten Fall als gleichsetzender Name in Erscheinung. Läßt Dostoevskij noch in der Erwiderung auf seinen Kritiker die sozialpsychologische pragmatische Instanz ungenannt, welche zur Ersetzung des Tabuwortes durch euphemistische Ausdrücke nötigt, ist die Zensur bei Rozanov Gegenstand des kursiv gesetzten, die Redesituation kennzeichnenden Zusatzes, [)er Realist schaut in der unbefangenen Nennung des tabuierten Ausdruck sym- bolisch die "Unschuld" des ungebildeten Volkes. Seine paraphrasierende Psycho-

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 165-197)