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ZUR ENTSTEHUNG DER BEWUSSTSEINSKUNST IN DER RUSSISCHEN ERZÄHLPROSA

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 32-48)

Karamzin - Bestužev-Marlinskij - Puškin

Zur Entstehung der psychologischen Prosa in Rußland seien drei Thesen vorge- tragen:

1. Die Tradition der russischen Bewußtseinskunst setzt schon oder erst (wie man will) mit PuSkins Prosa ein.

2. In der Entwicklung der Prosa PuSkins von den Fragmenten der zwanziger Jah- re über die Povesti Belkina (geschrieben 1830) bis zur Pikovaja dama (1833) ist in nuce der Weg vorgezeichnet, den ab der Mitte der vierziger Jahre die psycho- logische Prosa des russischen Realismus gehen wird.

3. In den Belkin-Erzählungen und in der Pikovaja Doma entwickelt Puškin Ver- fahren der indirekten Bewußtseinsdarstellung, einer Psychologie in absentia, die vorausweist auf die Bewußtseinskunst der großen Realisten Tolstoj und Dostoev- skij.

Vorweg ist zu klären: was heißt Bewußtseinskunst1 im Rahmen der realisti- sehen Poetik? Wann ist man im Realismus ein guter Psychologe?

Auch archaische Erzählformen wie etwa der vorsentimentalistische Roman des 17. und 18. Jahrhunderts kamen nicht ganz ohne Bewußtsein aus. Nur war das Seelenleben der Helden reduziert auf typologisch vorgegebene Befindlichkeiten, die, knapp benannt, eine klare und überschaubare Struktur der Psyche anzcigten.

Zudem waren die ohne großen Aufwand explizierten Bewußtseinssituationen und Gefühlsbefindlichkeiten nicht eigentlich Gegenstand der Narration, sondern fun- gierten nur als Motivierung von Rede- und Tathandlungen, als Motivierung, die die Ereignisse lediglich in günstigen Fällen einigermaßen plausibel begründete.

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts verlagert sich das Ereignis, Kernstück der Nar- ration, von außen nach innen. Handlung wird Bewußtseinshandlung, und diese erschöpft sich nicht mehr in der bloßen Motivierung der Rede- oder Tathandlung.

Das Exotische und Phantastische, unabdingbare Ingredienzen der narrativen Welt des 18. Jahrhunderts, werden zu Qualitäten der neugewonnenen Innenwelt. An die Stelle ferner Weltregionen, die man im stoffreichen Roman des 17. und 18.

Jahrhundert bereiste, und phantastischer Begebenheiten, die den Helden in immer neuer Variation erwarteten, tritt die exotische und phantastische Landschaft der Seele, die es zu explorieren gilt.

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Für die realistische Poetik eines Dostoevskij oder Tolstoj läßt sich eine Reihe von Normen der Bewußtseinsdarstellung konstatieren:

1. Die fundamentale Norm ist lebensweltliche Plausibilität. Sie gilt freilich für beide Komponenten, die im vorsentimentalistischen Roman als motivierende und motivierte auseinanderfielen, für Bewußtsein wie Handlung. Nicht nur muß das Bewußtsein die Rede- und Tathandlung begründen, die Rede und die Tat haben ihrerseits das Denken, Fühlen und Wollen plausibel zu machen.

2. Die eigene Seele ist für das Subjekt nicht das Bekannte, Vertraute, das einer fremden Außenwelt gegenübersteht. Der Mensch ist nicht mehr Herr seines Be- wußtseins, weder im Sinne der Beherrschung noch auch nur so, daß er die zer- klüftete Landschaft seiner Seele überschaute. In der Selbstexploration beginnt sich das Ich vielmehr als das Fremde, das Andere zu begreifen, vor dem es durchaus erschrecken kann. In unterschiedlicher thematischer Einkleidung haben die Be- gegnung des Subjekts mit seinem fremden Ich Dostoevskij in der Erzählung vom Doppelgänger (Dvojnik, 1846) und Tolstoj in der quasi-autobiographischen Trilogie, vor allem in Detstvo (1852), inszeniert

3. Bewußtsein ist keine statische Anhäufung fixierbarer Charakterzüge, Emotio- nen und Wertungshaltungen. Es ist topologisch strukturiert, bildet einen Raum, den antinomische Pole bestimmen, und es entfaltet sich prozessual aber nicht li- near, sondern in einer oszillierenden Bewegung, die aus der wechselnden Feld- stärke zwischen den Polen resultiert. Die Prozessualität des Bewußtseins hat vor allem Tolstojs dialektika duši modelliert, die Bipolantät des Seelenraums ist cha- rakteristisch für die Psychopoetik Dostoevskijs.

4. Den realistischen Modellen des Bewußtseins entsprechen neue Modi seiner Darstellung. Die auktoriale Fixierung ist verpönt. Bewußtsein wird nur noch zu- gänglich in der Exploration durch den personalen Reflektor, dem der Erzähler, sei es als Ich- oder Er-Narrator, lediglich Artikulationshilfe leistet. Dominiert unter den personalen Techniken des frühen Realismus noch die erlebte Rede als zwei- stimmige Wiedergabe mehr oder weniger artikulierten personalen Bewußtseins- textes, so nimmt die Textinterferenz später mehr den Charakter der erlebten Wahr- nehmung an und radikalisiert sich schließlich zur totalen Konstitution der nar- rativen Welt aus dem Bewußtsein einer erzählten Figur. Die erste Phase, Bewußt- seinsdarstellung in erlebter Rede, wird am nachdrücklichsten von Dostoevskijs Dvojnik markiert, für die zweite Phase, die Objektivierung von Seelenzuständen in den fokussierten Gegenständen der Außenwelt, ist Tolstojs Anna Karenina ein Musterbeispiel, und die dritte Phase, die durchgängige Konstitution der Welt aus dem personalen Bewußtseinshorizont, ist im Spätwerk Cechovs erreicht2.

Die Vorgeschichte der realistischen Bewußtseinskunst soll nun an drei Statio- nen skizziert werden, an der sentimentalistischen Erzählung Karamzins, der ro- mantischen p o vest Bestužev-Marlinskijs und der Kurzprosa PuSkins. Für

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mentalismus und Romantik wollen wir uns dabei an jene Erzählungen halten, de- nen Puškin in den Povesti Belkina korrigierende Kontrafakturen entgegengesetzt hat. Deshalb soll auch der Standort, von dem der evolutionäre Wert der Psycho- logie Karamzins und Marlinskijs beurteilt wird, die implizite Poetik des Beikin- Zyklus sein.

Von PuSkins Warte aus zeichnet sich die Prosa Karamzins, jenes Autors, der als erster in Rußland das Herz, die Seele, das Gefühl für darstellungswürdig hielt, durch frappierende ,Gedankenlosigkeit' aus^. Betrachten wir nur NataT ja, bo- jarskaja doö', eine Liebes- und Entführungsgeschichte aus dem alten Rußland, der PuSkin in M etel’ eine elaborierte Kontrafaktur entgegensetzte. Obwohl sich Karamzin auf das Diktum eines Psychologen beruft, wonach ״die Beschreibung der täglichen Verrichtungen eines Menschen die getreueste Darstellung seines Herzens ist“ (описание дневных упражнений человека есть вернейшее изображение его сердца, S94), folgt er selbst einer ganz ändern Methode. An- statt das Innere am Äußeren aufscheinen zu lassen, bringt er die Seelenregungen der unschuldigen Schönen jeweils auf einen sentimentalen Begriff. So ״empfin- det“ (чувствовала) Natal’ja ״in ihrem Herzen“(B сердце своем, 60) oder ״in ih- rer Seele“(B душе своей, 62) einmal ״eine stille Freudeł<(THxyK> радость, 60) und ein anderes Mal ״eine gewisse Trauer, eine gewisse Sehnsucht“(HeK0r0py10 грусть, некоторую томность, 62). Die Heldin versteht nicht, wie der auktorial- allwissende Erzähler einräumt, ihre ״ Herzensregungen“(cepfle4Hb1e свои дви- ж ения, 64), begreift nicht, was sie wünscht, wonach sie sich sehnt, dafür weiß der Erzähler den ״ Mangel in ihrer 8ее1е“(недостаток в [ее] душе) um so be- redter mit seinem empfindsamen Vokabularium zu bezeichnen.

Die implizite Kritik PuSkins sei an einem einzigen Motiv angedeutet. Die vom Frühlingstun der Täubchen inspirierte Natal’ja erblickt in der Kirche einen Un- bekannten, in den sie sich augenblicklich verliebt. Als ob er ein Defizit an Psy- chologie spürte, legt der Erzähler seinem Leser die kritische Frage in den Mund:

״ In einer Minute? [.״ ] Nach dem ersten Anblick und ohne von ihm auch nur ein Wort vernommen zu haben?” (В одну минуту? [...] Увидев в первый раз и не слыхав от него ни слова?, 66). Aber der Narrator berichtet nichts als die Wahrheit und warnt vor dem Zweifel an der Kraft ,jener wechselseitigen Anzie- hung, die zwei Herzen empfinden, die füreinander geschaffen sind“ (T0r0 взаимного влечения, которое чувствуют два сердца, друг для друга со- творенные, 66 f.). Hier setzt PuSkins Kontrafaktur ein. Seine MeteT ist eine psychologische Variation zur Liebe auf den ersten Blick (coup de foudre), einem Axiom der empfindsamen Liebeslehre des französischen 18. Jahrhunderts. Nicht daß PuSkin das Theorem destruierte, nein, er gibt ihm nur eine psychologische Begründung.

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Die zentrale Parömie der Geschichte (Sużenogo konem ne ob” edeš’), von den Eltern Mar ,ja Gavrilovnas auf den armen Fähnrich Vladimir gemünzt, bewahrhei- tet sich in der Dorfkirche von Żadrino. Vladimir, der vom Schneesturm in die Irre geführte Entführer, kommt zur Trauung zu spät. Inzwischen ist Burmin, die Gunst des Zufalls nutzend, mit der Braut, die ihm als nicht übel erscheint, vor den Traualtar getreten. Später wird er in übermäßiger Selbstbezichtigung, die - wie ih- re Prätexte belegen - nicht frei ist von raffiniertem Eroberungskalkül5, diesen Schritt als ״ unbegreifliche, unverzeihliche Windigkeit“(Hen0HHTHaH, непрости- тельная ветреность, 86^) bezeichnen. Als sie des fatalen Irrtums gewahr wird, ruft die Braut aus: ״Oh, nicht der Richtige, nicht der Richtige!” (Ай, не он! не он!, 86) und fällt in Ohnmacht. Die Eheleute scheinen also nicht gerade von au- genblicklicher Liebe getroffen zu sein. Burmin setzt dann auch seinen Weg durch den nächtlichen Schneesturm fort, und seine Frau legt sich, nach Hause zurückge- kehrt, krank ins Bett und ist wochenlang am Rande des Grabes. Dennoch hat der flüchtige Blick, den Mar’ja Gavrilovna und Buimin in der schlecht erleuchteten Kirche aufeinander geworfen haben, eine schicksalhafte Liebe entfacht. Das wird vom Autor auf vielfältige Weise angedeutet, in einem wahren Feuerwerk intratex- tueller Korrespondenzen, intertextueller Allusionen und ausgefalteter Wortmotive.

Im einzelnen kann das hier nicht ausgeführt werden. Es mag der Hinweis ge- nügen, daß sich der Autor indirekt auch in die Polemik zwischen Jean-Jacques Rousseau und Samuel Richardson über die Möglichkeit der Liebe auf den ersten Blick einmischt. In der Nouvelle Hélöise, die an anderer Stelle der Meter aus- drücklich aufgerufen wird, läßt Rousseau seine Helden von der Prädestination ih- rer Liebe und dem alles entscheidenden ersten Augenblick schreiben7. In einer Fußnote polemisiert Rousseau mit Richardson, der ganz zu Unrecht spotte über Zuneigungen, die gleich ״ beim ersten Anblick“ (dès la première vue) entstehen

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und auf ״ unerklärbaren Übereinstimmungen“ (conformités indéfinissables) ge- gründet sind. Womit aber motiviert PuSkin die Liebe auf den ersten Blick und die Überzeugung der Liebenden, daß sie ״füreinander geschaffen“ seien (друг для друга сотворенные), wie Karamzin - Rousseau folgend (faits l'un pour l'autre) - formulierte?

Die im Text nicht explizierte Motivierung wird, wie so oft in den Povestí Bel- kina, durch eine Allusion suggeriert. Das zentrale Sprichwort der Novelle spielt auf ein Vaudeville Nikołaj Chmel'nickijs an, das in den zwanziger Jahren in bei- den Hauptstädten häufig gespielt wurde. In Sużenogo konem ne ob"edeS', ili Nei chuda bez dobra erweist sich als der ״ Beschiedene“ nicht der sich wie immer verspätende Bräutigam, ״der langweiligste und schlaffeste junge Мапп“(самый скучный и самый вялый молодой человек, 123), sondern ein zufällig vorbei- reisender, im Kriege verwundeter Husarenoffizier, der in Abwesenheit der Herrer im Schloß der Braut alles auf den Kopf gestellt hat. Die Braut, ״das lebendigste und allerfröhlichste Mädchen“ (самая живая и превеселая девушка), ist, als

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sie zu Hause eintrifft, über den hübschen Bretteur alles andere als erbost und stellt fest, daß sie keinen ändern als diesen Frechling heiraten wird, den sie anstelle des verspäteten Bräutigams vorgefunden hat.

Wir beobachten hier eine für PuSkin typische Paradoxie der Intertextuaiität. In- dem PuSkin Motive des Vaudeville, einer apsychologischen Gattung, vergegen- wärtigt, gibt er seinen Figuren psychologisches Profil. Es scheint nämlich die Frechheit, die Windigkeit zu sein, die Burmin für Mar’ja Gavrilovna anziehend macht, und die Erzählung erweist im weiteren, daß die für die schicksalhafte Verbindung erforderliche conformité indéfínissable der Liebenden gerade auf ihrer beider vetrenost beruht.

Die Bewußtseinslage von Karamzins Natal’ja war einsinnig, die ausdrücklich biologisch motivierte Liebesbereitschaft der jungen Dame ausschließlich und vor- behaltlos auf das einmal fixierte Objekt gerichtet. Für PuSkins MaSa dagegen müssen wir widersprüchliche, unter anderm auch recht prosaische Seelenregun- gen konjizieren und - unter dem Schein übermäßiger Trauer über den seinen Kriegsverletzungen erlegenen glücklosen Entführer Vladimir - eine durchaus pa- radoxe Zuneigung zu dem grausamen Spieler Burmin, die freilich nicht nur dem Geschlecht, sondern auch dem Charakter gilt. Neben aller Empörung gegen den falschen Bräutigam, der sie zum freudlosen Leben einer jungfräulichen Witwe verurteilt hat, wird die junge Frau auch andere Gefühle hegen: unbezähmbare Neugier auf den geheimnisvollen Frechling, Sympathie, vielleicht uneingestande- ne, für den dreisten Usurpator und geheime Sehnsucht nach dem verwegenen Er- oberer, der sie im übrigen vor der Ehe mit dem nicht nur phantasie- sondern auch mittellosen Fähnrich bewahrt hat. Nur so jedenfalls ist zu erklären, daß sich Mar’ja Gavrilovna nach Vladimirs Tod den Anschein einer untröstlich trauernden und gedenkenden Artemisia gibt, jener legendären Witwe, die dem verschiedenen Gatten Mausolos ein berühmtes Grabmal errichtete, das Mausoleum. Gilt die sprichwörtliche Treue der Trauernden wirklich Vladimir, wie sie alle Welt glau- ben läßt? Kaschiert sie mit der zur Schau getragenen Trauer um Vladimir, den sie nur literarisch, den französischen Romanen folgend geliebt hat, nicht die verzeh- rende Sehnsucht nach dem windigen Ehemann? Ist es nicht Burmin, der ,windi- ge4 Gatte, der ihre Gedanken bewegt und schon ihre Liebe geweckt hat, eben die Gattenliebe der Artemisia?

Es ist hier nicht der Raum, das komplexe Psychogramm der Heldin, in das auch recht frivole und grausame Regungen eingehen, aus den vielfältigen Allusio- nen, so auf Rousseau, Petrarca und Pietro Aretino, weiter zu rekonstruieren. Es geht uns um die grundsätzliche Differenz zu Karamzins Personenkonstitution und die poetologische Kritik an den psychologisch wenig profilierten Figuren der sen- timentalistischen Erzählung. Eine ähnliche Differenz zeigt sich zwischen dem von Natal’ja verlassenen Vater und Samson Vyrin aus der Posthaltemovelle, die eine weitere Kontrafaktur zur Erzählung von der Bojarentochter bildet. Karamzins

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sorgter Bojar Matvej erwägt für einen Moment, ein Bösewicht könne die unschul- dige Tochter verführt haben und werde sie verlassen und ins Unglück stürzen.

Dann aber verwirft er diese Befürchtung sogleich, denn er weiß: seine Tochter kann keinen Bösewicht lieben. Warum aber hat sie sich nicht dem Vater offen- bart? Wer der Geliebte auch gewesen wäre, er hätte ihn als Sohn umarmt. Viel- leicht aber, so sagt sich der Vater, hat er, Matvej, die Strafe Gottes verdient. Er will sich ihr jedenfalls ohne Murren unterwerfen. Und er bittet seinen Gott, der Tochter in jedem Land ein barmherziger Vater zu sein. Mag er selbst auch im Kummer sterben, die Tochter soll glücklich werden. Wenn sie doch wenigstens eine Stunde vor seinem Tode zurückkäme. Aber wie es Gott gefällt. Inzwischen wird er, das Waisenkind im Alter, ein Vater für die Unglücklichen und mit Kum- mer Beladenen sein. Karamzins idealer Held führt uns vor Augen, welche Gedan- ken und Beweggründe wahrer, uneigennütziger Vaterliebe entspringen. PuSkin glaubte indes nicht an solche Seelenidylle. Nicht nur, daß sich Samson Vyrin der Tugend der Tochter weit weniger sicher ist. Er selbst verrät in seinem Schmerz ganz unväterliche Beweggründe. So etwa, wenn er der Tochter, die er sich nicht anders als in Sünde lebend vorstellen kann, das Grab wünscht. Und es spricht für sich, daß er sich nicht auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn verläßt, dessen II- lustrationen seine Stube schmücken, sondern, sich innerlich auf das Johanneische Bild des guten Hirten berufend, selbst auf den Weg nach Petersburg macht. Die Konfrontation mit Minskij, dem Wolf, und Dunja, dem verirrten Schäfchen, er- weist den guten Hirten aber in Wahrheit als den Dieb und Räuber. Und aus Vy- rins Verhalten können wir schließen, daß ihn nicht das befürchtete Unglück der Tochter umbringt, sondern ihr Glück, dessen Zeuge der ״ arme Aufseher“ (бед-

ный смотритель) in Petersburg werden mußte.

PuSkins Kontrafakturen implizieren folgende, hier in den Begriffen des Frag- ments O proze extrapolierte Kritik an Karamzins Psychologie: das Material des Sentimentalisten sind nicht ״Gedanken“, für PuSkin die ״erste Tugend“ der Prosa, sondern ״ glänzende Ausdrücke“ , die in die Hemisphäre der Poesie gehören. In der Tat besteht Karamzins Bewußtseinskunst nicht in der Inszenierung oder gar der Exploration psychischer Prozesse, sondern lediglich in der Benennung diskre- ter Seelenzustände, die jeweils zu einer einzigen emotionalen Lage homogenisiert sind. Statt Bewußtseinsdarstellung bietet Karamzin eher Fingerübungen im Wort- schätz der neuen Innerlichkeit. Und die Darstellung der empfindenden, Tränen vergießenden Helden dient weniger der präzisen Referenz als der Impression, dem Eindruck auf gleichgesinnte Herzen.

Ein Prätext der Romantik ist für PuSkin Aleksandr Bestužev-Marlinskijs Er- zählung Večerna bivake aus dem Jahr 1822. Sie hat für den Vys trel eines der bei- den Mottos geliefert und das Motiv der Verschiebung eines Duellschusses. Die

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Duellforderung ist bei dem Romantiker mit der rasenden Wut des verratenen Liebhabers auf den Verführerder Braut motiviert:

Бешенство и месть, как молния, запалили кровь мою. [...]

Знаете ли вы, друзья мои, что такое ж аж да крови и мести? Я испытал ее в эту ужаснейшую ночь! В тиши слышно было ки- пение крови в моих жилах [.״ ] Мне беспрестанно мечтались:

гром пистолета, огонь, кровь и трупы.8

Die Aufschiebung des Schusses ist freilich, wenig raffiniert, mit der schweren Verwundung des Gekränkten begründet. Aber zur Rache kommt es gar nicht. Ein Freund verhindert die Fortsetzung des Duells mit einer List, und das Schicksal bestraft die untreue Geliebte, die, von ihrem ehrlosen Verführer verlassen, in den Armen des Helden an Schwindsucht stirbt. Von vordergründigen Similaritäten zur Komparation aufgerufen, wird der Leser letztlich den Kontrast zwischen den Rächern aktualisieren. Während Marlinskijs Held, dem von der Frau seines Her- zens übel mitgespielt wurde, gleichwohl seine Rachepläne aufgibt und zur Ver- zeihung fähig ist, lebt der vom Grafen in Anwesenheit einer Dame geohrfeigte Širvio sechs Jahre ausschließlich seinen düsteren Rachegedanken. Und daß ihm seine Rache schließlich dennoch nicht gelingt, wird nicht mit äußeren Umständen, sondern mit einer Seelenschwäche begründet. Allusionen, innertextliche Verweise und entfaltete Wortmotive suggerieren für das Paradigma der nicht treffenden Schüsse folgende Beweggründe der Schützen. Der Graf, der, obwohl Meister- schütze, SiTvio zweimal aus nur 12 Schritt Entfernung zu verfehlen scheint, will den Gegner nicht erschießen. Sil’vio dagegen, der die Waffe sechsmal zum tödli- chen Schuß erhebt und für den Verzicht jeweils das Motiv diabolischer Verfeine- rung der Rache vortäuscht, kann den Grafen nicht erschießen. Diese Unfähigkeit zur Rache hat Dostoevskij interessiert. In den Zapiski iz podpol’ja entfaltet er, immer wieder auf PuSkins Novelle anspielend, das Psychogramm des schäumen- den Schwächlings, der schon darüber beglückt ist, daß man ihn einer Ohrfeige würdigt. Aus der Perspektive des Post-Textes erscheint der Möchte-gem-Rächer, der in Wirklichkeit nur Fliegen erschießt, als Prototyp des Kellerlochmenschen, der sich nicht damit abfinden kann, daß er nur Spatzen erschreckt.

PuSkins poetologische Kritik trifft auch im Falle Marlinskijs die wenig plausi- ble Motivation, die daher rührt, daß der Autor sich mehr um den schönen Aus- druck kümmert als um die ״Gedanken“, d.h. die thematischen Motive. Obwohl Marlinskij selbst vom Prosaiker die ״ Kenntnis nicht nur der Grammatik der Spra- che, sondern auch der Grammatik des Verstandes“ fordert9, verfallen seine Erzäh- lungen dem Verdikt des kritischen PuSkin, der ihm schreibt:

Твой Турнир напоминает Турниры W. Scotta. Брось этих нем- цев и обратись к нам православным; да полно тебе писать быс- трые повести с романтическими переходами - это хорошо для

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поэмы байронической. Роман требует болтовни■, высказывай всё на чисто.10

Das Bemühen, auch die Seelenregungen na Cisto zu explizieren, kennzeichnet PuSkins Prosa in ihrer ersten Phase, der Phase der Fragmente. Агар Petra Veli- kogo. Na uglu malen’ k o jploščadi und Gosti 5׳ ’ ezżalis1 na dače zeigen PuSkin auf der erfolglosen Suche nach der Form für einen russischen psychologischen Ro- man: Anna Achmatova hat in allen drei Bruchstücken Reminiszenzen an Ben- jamin Constants Adolphe nachgewiesen11, der, 1816 erschienen, als der erste

psychologisch-analytische Roman der französischen Literatur gilt und von PuSkin mehr als alle ändern Werke der zeitgenössischen französischen Literatur geschätzt wurde. Warum blieb PuSkin mit seinen eigenen Experimenten unzufrieden? Das Fragment war für ihn ja keine Gattung, sondern Zeuge eines Mißerfolgs. Gewiß zu Recht nennt Paul Debreczeny unter den Gründen für das Mißlingen des psy- chologischen Romans the great speed o f narration12. Ein einziger Satz (״ ** mußte sich bald von der Untreue seiner Frau überzeugen“) faßt tatsächlich eine Erfah-

psychologisch-analytische Roman der französischen Literatur gilt und von PuSkin mehr als alle ändern Werke der zeitgenössischen französischen Literatur geschätzt wurde. Warum blieb PuSkin mit seinen eigenen Experimenten unzufrieden? Das Fragment war für ihn ja keine Gattung, sondern Zeuge eines Mißerfolgs. Gewiß zu Recht nennt Paul Debreczeny unter den Gründen für das Mißlingen des psy- chologischen Romans the great speed o f narration12. Ein einziger Satz (״ ** mußte sich bald von der Untreue seiner Frau überzeugen“) faßt tatsächlich eine Erfah-

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