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G oethes und Kleists K unstpsychologien als gegensätzliche Entwürfe

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 129-139)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

1. Zur Vorgeschichte einer Psychopoetik

1.3 G oethes und Kleists K unstpsychologien als gegensätzliche Entwürfe

der Seele, welche nur durch Übertragung aufzuheben ist. Der kreative Akt des mit Bewußtsein ausgestatteten Kreators bedarf einer außerhalb seiner selbst gelegenen Instanz ohne Bewußtheit, hier eines Artefakts, an dem sich die Bewegung reflexi- onslos, "ohne Ziererei‘ vorführen läßt.

1.3 G oethes und Kleists K unstpsychologien als gegensätzliche Entwürfe

Die beiden hier genannten Entwürfe lassen sich als gegensätzliche Modelle der Psychologie und zugleich auch der Psychopoetik lesen. Wo Goethe, der sich im Einklang mit dem Kosmos zu erleben suchte, vita activa und vita contemplativa als sich wechselseitig ergänzende Kräfte ansah und sie im eigenen Leben trotz al- 1er äußeren und inneren Widerstände aufs innigste zu verbinden trachtete, schlie- ßen sich bei Kleist aktives und betrachtendes Leben ebenso aus wie anmutige Schönheit und reflexive Bewußtheit39 Von der Unmöglichkeit der Präsentation des Selbst, vom radikalen Entzug der Präsenz legt das Ende seines Lebens erschütterndes Zeugnis ab.

Die materielle Welt bestimmt für den Autor des Prinzen von Homburg den Künstler zu einem Maschinisten, der eine Apparatur in Gang setzt. Wo für Goethe Kunstausübung angewandte Psychologie, wo eine jede Poetik daher auch Psychopoetik, wo der Künstler solchermaßen unweigerlich Psychologe ist, zer- stört für Kleist wie jegliche andere Reflexion so auch eine psychologische jede Schönheit, unterdrückt der Psychologe den Künstler, zersetzt jegliche Psycho- poetik die Poetik.

Wie schon seine Forderung nach einer ”lichtvolle[n] Darstellung des Bestehen- den" verrät, sucht Goethe psychophysische Kongruenzen. So postuliert er eine Homologie zwischen der Morphologie der Wolken, dem Pflanzenbau, der Ordnung der Gesteine, ja zwischen Weltseele und individuellem Geist. Seine Far- benlehre gründet auf der wahmehmungspsychologischen These vom homogenen Charakter der Farbwahmehmung im Auge und der Qualität des Lichtes. Die Farbe entsteht demnach aus "Wirkung und Gegenwirkung" (WA 64, XXXIII) des Auges, welches nach Totalität40 und Harmonie verlangt.41 Das prometheische Begehren, sich und sein Schreiben in Einklang mit dem Kosmos zu bringen, ver- langt eine hohe Kompatibilität von Wort und Tat: Jede Handlung, auch die Schreibhandlung wird als Nachweis des Allgemeinen im Besonderen vollführt.

Auf der Grundlage dieser Ersetzbarkeit konstituiert Goethe eine Psy-chologie des symbolischen Handelns, eine Psychologie des Symbols,42 eine symbolische Psychologie, die auf Gleichheit angelegt ist. In ihr gibt es keinen Raum für Alterität, nicht einmal für eine Andersartigkeit des Traums: "Im Traum erscheinen uns die Gegenstände wie am vollen Tage" (WA 64, XXXII).

Da die mythische Einheit von Wort und Tat verloren ist, da auch das Primat

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des Wortes zugunsten der Dominanz der Tat verworfen wird, ist Goethe zufolge auch die Sprache bestimmt von der symbolischen Struktur. So wird im Para- graphen 751 der Farbenlehre (WA II, 1: 303) die Struktur der Sprache selbst symbolisch genannt:

Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbo- lisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, son- dem nur im Widerscheine ausdrücke. Dieses ist besonders der Fall, wenn von Wesen die Rede ist, welche an die Erfahrung nur heran- treten und die man mehr Thätigkeiten als Gegenstände nennen kann, dergleichen im Reich der Naturlehre immerfort in Bewegung sind. Sie lassen sich nicht festhalten, und doch soll man von ihnen reden. Man sucht daher alle Arten von Formeln auf, um ihnen wenigstens gleich- nisweisebeizukommen.

Der gegen Newton opponierende Verfasser preist seine Chromatologie insbe- sondere dem Physiker mit dem Argument an, sie ermögliche es, "die Lehre von den Farben in der Reihe aller übrigen elementaren Erscheinungen vorzutragen und sich dabei einer übereinstimmenden Sprache, ja fast derselbigen Worte und Zeichen, wie unter den übrigen Rubriken, zu bedienen" (WA 64, ХХХѴП). Wir erinnern uns des Verfahrens rubrizierender Identifikation, wie es im Zusammen- hange der Kulturpsychologie von Goethe vorgeschlagen wurde. Hinzu tritt nun die Universalität des Zeichensystems, die kraft der gleichen Semiose, mit ein und denselben semiotischen Elementen von Physis und Psyche handeln und letztlich zu einer "vollkommene[n] Einheit des physischen Wissens"43 schreiten soll. Die Erscheinung der Polarität44 und das Verfahren der "Steigerung" bilden jene

"allgemeinenNaturformeln"45, vermittels derer auch andere Farben hervorgerufen werden können. Für die Steigerung verwendet Goethe (WA 64, 278 (Nr. 698)) nun auch das uns alarmierende Verbum "verdichten". Er entfaltet eine hierar- chische psychophysische Axiomatik, derzufolge der höchste Wert (er spricht von der "Würde"46) gerade der durch Steigerung und Mischung hervorgerufenen

"anmuthigere[n] Farbe" zukommt.

Die "ästhetische Wirkung" (WA 64, 336 (Nr 848)) der Farben beruht für den Weimarer Klassiker auf ihrer sinnlichen und sittlichen Wirkung. Die Kenntnis der Goetheschen Farbenpsychologie soll den Künstler befähigen, "unendlich schöne, mannigfaltige und zugleich wahre Erscheinungen darzustellen"47. Gegen alle Kontiguität, Konventionalität und Willkürlichkeit der als minderwertig einge- schätzten allegorischen Farbverwendung, etwa Grün für ,Hoffnung', setzt der Chromatologe am Beispiel des Purpurs für 'Majestät' die Kongruenz der symbo- lischen Farbe mit der Natur:

Einen solchen Gebrauch also, der mit der Natur völlig übereinträfe, könnte man den symbolischen nennen, indem die Farbe ihrer Wirk- ung gemäß angewendet würde, und das wahre Verhältniß sogleich die Bedeutung ausspräche.48

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Diese Identitätspsychologie49 ließe sich bis hinein in die letzten Verästelungen des Vorgangs der Preisauslobung verfolgen. Das Ausschreiben eines Preises ־ ein Paradigma axiomatischer Handlung - bringt ganz im Unterschied zur nicht manipulierten Lotterie mit Blick auf das Entscheidende die Interdependenz von Juror und Sieger mit sich. Der Sieger wird durch das Urteil des Richters zum Ge- winner, der Juror wird durch das Werk des Siegers zum Richter. So konstatiert Goethe im zuvor zitierten Brief an Schiller, daß "ihr [der Kulturstufung] vom Standpuncte der empirischen Psychologie, wo wir Poeten doch eigentlich zu Hause sind, recht gut beyzukommen" sei. Das heißt aber nichts anderes als daß Goethe und Schiller die Berufensten seien, die Preisfrage zu beantworten:

Schließlich sind das "Entwikkeln" und "verschieden scheinende[s] [sich] unter einerley Rubrik bringen" gerade die Verfahrensweisen des Natur- und Geistes- forschers Goethe; der Preisrichter richtet die Preisfrage unverfroren auf sein eigenes Verfahren zu.

Kleist dagegen geht es um die Erfahrung der Inkongruenz. Seine Psychologie gründet auf der unvermeidlichen, hier ins Räumliche übertragenen Differenz zwi- sehen dem Künstler und der künstlerischen Realisierung. Die Apparatur der Ma*

rionette können wir als den zugleich psychischen und physischen Mechanismus der Verschiebung erfassen, aber auch als Paradigma des künstlerischen Schaf*

fensprozesses. Der Wunsch zu tanzen wird nicht vom Körper des Künstlers realisiert, sondern von einer ihm heterogenen Maschine. Schnüre und Gelenke verhindern den Tanz des Schöpfers, ermöglichen aber das Ballett seines Geschöp- fes. Ja, selbst die Anlage des Essays noch gibt die Verschiebung als Grundver*

fahren zu erkennen. Statt der Sprachkunst erscheint das Puppenspiel, vom Puppenspiel handelt die Sprache. Sprachlich hat Kleist die Übertragung in seinem

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Aufsatz Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden verhandelt;

auf den darin herausgestellten Mechanismus des Überführens von Synchronizität in chronikalische Kontiguität (901) kann hier nur verwiesen werden. Er breitet insofeme noch ein Vorstadium der reifen Kleistschen Psychologie aus, als darin

"eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen der physischen und der mora- lischen Welt" festgehalten wird.50

Man wird nicht irregehen, wenn man die Ästhetik und Erkenntnistheorie des frühen Kleist in engem Zusammenhange mit Schillers Kunsttheorie sieht. Ja, der Fortgang der Kleistschen Kunstauffassung läßt sich als zunehmende Lösung von

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Schillers Theoremen darstellen. Im Aufsatz Uber naive und sentimentalische Dichtung hat der Klassiker das Naive als ”Kindlichkeit" in einem Zusammenhang charakterisiert, "wo sie nicht mehr erwartet wird (493)" und als , als 'Natur-Sein’, wo die Natur - wie bei den Griechen der Antike - noch nicht verloren ist. Diese Kunst ist die nichtreflexive Nachahmung der Natur Vorbehalten. Das Sentimen- talische dagegen reflektiere über den Eindruck, den der Gegenstand auf den Dichter mache, indem der Gegenstand auf eine Idee bezogen werde. Im

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mentalischen streiten Vorstellung und Empfindung von endlicher Wirklichkeit und der Unendlichkeit der Idee miteinander. Der Unterschied zum Sen timen- talischen, dem Zustand, in dem "die Natur [...] aus der Menschheit verschwunden ist, und wir sie nur außerhalb dieser, in der unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen" (504f.), tritt vor allem auch im Verhältnis der Signifikate zu den Signifikanten hervor:

Wenn dort [im Sentimentalischen] das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier [im Naiven] wie durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint. (500)

Der naive Ausdruck, welcher sich aus der naiven Vorstellung ergebe, bildet für Schiller denn auch "das wichtigste Bestandsstück der Grazie" (500).

Kleists Idee einer dezentrierten Befindlichkeit von Künstler und Subjekt des Kunstwerks berührt sich auffällig mit Lacans (II, 42) Bestimmung des Ortes des Erzeugers von Signifikanten. Der französische Tiefenpsychologe hebt hervor,

"der Platz, den ich als Subjekt des Signifikanten einnehme [sei nicht] konzen- trisch" mit demjenigen, den ich als Subjekt des Signifikats innehabe. Das Für- Sich-Sein des Sinns sei gerade nicht deckungsgleich mit seinem sprachlichen Ausdruck.

Aufschlußreich ist auch die Nähe von Bachtins (1979, 119) früher Architek- tonik der ästhetischen Tätigkeit zu Kleists Konzept des Marionettentheaters. Die Kategorie der "вненаходимость" des Autors gegenüber der Personnage in der Alteritätsästhetik des russischen Kulturphilosophen bezeichnet präzise den von Kleists Künstler geforderten Außenstandort des Mationettenspielers gegenüber der Gliederpuppe. Das Vermeiden der Spiegelung des Ich, der Wahrnehmung des dem Ich (vermeintlich) Identischen wird von dem Autor des Essays Автор и

герой в эстетической деятельности deutlich ausgearbeitet:

Поэтому только я, находясь вне бытия, могу принять и завер- шить его помимо смысла. Это абсолютно продуктивный, при- быльный акт моей активности. Но чтобы действительно быть продуктивным, обогощать бытие, этот акт долж ен быть сплошь надбытийственен. Я долж ен ценностно уйти весь из бытия, чтобы от м еня и от моего в бытии, продолжащем акту эстетического приятия и заверш ения, ничего и не осталось бы для меня самого ценного: нуж но очистить все поле предле- ж ащ его данного бытия для другого, направить свою актив- ность всю вперед себя (чтобы она не скашивалась бы на себя самого, стермясь и себя поставить в поле зрения, и себя охва- тить взором), и только тогда предстанет бытие как нужда- юіцееся, как слабое и хрупкое, как одинокий и безж ащ итны й ребенок, пассивное и свято наивное.

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Benjamins (1963, 203) Allegorie-Diskussion ist hier zu erwägen, insofern seine These über die "Wendung von Geschichte in Natur", die Scheidung des Geworden-Geistlichen vom Da-Seiend-Körperlichen der Puppe stützt. Auch das Moment des Sich-Verbergens (des Künstlers), der an seiner Statt die Marionette als Fragment des Geschehens den Blicken preisgibt und an die Stelle der barocken Ruine rückt, ist Benjamins (1963, 197f.) Studie zu entnehmen.

Merkwürdig nur, daß der scharfsichtige Theoretiker des barocken Trauerspiels die zeitgenössische Einsicht Cohens (1912, 305) in die Uneindeutigkeit, die

"Zweideutigkeit" und "Mehrdeutigkeit" der Allegorie so vehement verworfen hat.

Cohen hat diese Mehrdeutigkeit als "Reichtum der Verschwendung" gekenn- zeichnet und damit jene Erscheinung des ästhetischen Überschusses vorwegge- nommen, die für Bachtin Voraussetzung einer jeden ästhetischen Tätigkeit ist.

Es handelt sich in Kleists Marionetten-Aufsatz um eine Psychologie der Allegorie und zugleich um eine allegorische Psychologie.51 Symbolische

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chologie und Psychopoetik des Symbols gründen in Ähnlichkeit und stiften Identität, allegorische Psychologie und Psychopoetik der Allegorie beruhen auf Andersartigkeit und stiften Kontiguität. Diese Dichotomie ist in absichtsvoller Alternative zu Bachtins (1927) durch den methodischen Gegensatz von Intro- spektion und Observation gebildete Opposition von 'objektiver* und 'subjektiver' Psychologie formuliert und beruht auf der unterschiedlichen Art der personellen Modellierung des psychischen Materials.

Anstelle einer Einleitunghüt Fedor Dostoevskij im Д н е в н и к писателя (Tage- buch eines Schriftstellers) den Symbolcharakter der Weltauffassung Goethes in ihrem p s y c h o l o g i s c h e n Gehalt dargestellt. Er verweist auf die Wertschät- zung, deren sich das Sternbild des Großen Wagens bei Werther erfreut. Im letzten Schreiben an Lotte verabschiedet sich der Selbstmörder vor seinem Tode mit fol- genden Worten von dem Gestirn:

Ich trete an das Fenster, meine Beste! und sehe und sehe noch durch die stürmenden, vorüberfliegenden Wolken einzelne Sterne des ewi- gen Himmels! Nein, ihr werdet nicht fallen! der Ewige trägt euch an seinem Herzen, und mich. Ich sehe die Deichselsteme des Wagens, des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts mit dir ging, wie ich aus deinem Thore trat, stand er mir gegenüber. Mit welcher Trun- kenheit habe ich ihn oft angesehen! oft mit aufgehobenen Händen ihn zum Zeichen, zum heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen Selig- keit gemacht[...]

Der russische Realist fragt nun, worin für den deutschen Klassiker der besondere Wert der Gestirne bestanden habe. Seine Antwort bietet sich als Einspruch gegen das "Zerschlagen des menschlichen Antlitzes" («разбивать человеческого лика») im Rußland des aufkommenden Liberalismus dar:52

Тем, что он сознавал, созерцая их, что он вовсе не атом и не ничто перед ними, что вся эта бездна таинственных чудес

божиих вовсе не выше его мысли, не выше его сознания, не выше идеала красоты, заключенного в душе его, а стало быть, равна ему и роднит его с бесконечностью бытия... и что всё счастие чувствовать эту великую мысль, откровающую ему:

кто он? - он обязан лишь своему лику человеческому.

Es ist aufschlußreich, daß Dostoevskij (1972-1990, XXI: 66) in den Полписьма

«одного лица» überschriebenen Passagen des Д н е в н и к писателя seine psy- chologischen Beispiele, die Ersetzung der Realität durch Fiktion gerade "аллего- рия" nennt.

Eine frühe Analogie zu Goethes symbolischer Psychologie ist für die russische Kultur in Lomonosovs Affektenlehre der Rhetorik vorgezeichnet. Während aber Lomonosov den Klassizismus gleichsam noch aus der Barockkultur herausschält, hat Goethe das klassische Modell einer Korrespondenz-Psychologie im Vorfeld der Romantik formuliert. Von Goethe läßt sich eine Linie ziehen zur Völker- psychologie Wundts und zur Kunstphilosophie Solov'evs, eine andere zur jener Psychologie Herbans und Lotzes, welche die Einheit der psychischen Vorgänge ins Bild der Monade faßt, und wieder eine andere zur Archetypik Jungs. Dabei unterscheiden sich alle Präformationen einer symbolischen Psychologie ebenso von dem Gedankengebäude Jungs wie die Vorformen einer allegorischen Psy- chologie vom Bauwerk Freuds: Sie sind Versuche der Konstruktion von Subjek- tivität, denen nun im zwanzigsten Jahrhundert Entwürfe ihrer Dekonstruktion gegenübertreten.

Gogol’s Erzählung Портрет (1835, 1842) bietet das wohl prägnanteste frühe russische Gegenstück zu Kleists Entwurf einer allegorischen Kunstpsychologie.53 In diesem dritten Werk aus dem Zyklus der Petersburger Erzählungen wird durch magischen künstlerischen Animismus die negat i ve di abol i s che Lebenskraft des Porträtierten auf die bildnerische Darstellung seiner A u g e n übertragen:

«Они просто глядели, глядели с самого портрета, как будто разрушая его гармонию своею странною живостью».54 Die Aktivität dieser Augen geht über das Betrachten hinaus; in einer Formulierung, welche metaphorische Ausdrücke intensiven Sehens realisiert, wird diese dämonische Aktivität der bildnerischen Gegenstände zur Sprache gebracht: «Два страшные глаза прямо вперлись в него, как бы готовясь сожрать его [...]». Die ,lebendige Natur' dieser Augen ruft ein unangenehmes Gefühl hervor und hat einen negativen Einfluß auf den Betrachter; kraft der teuflischen Augen des dargestellten Wu- cherers wirkt das Bildnis seinerseits auf magische Weise über das Gesicht des Betrachters auf dessen Psyche ein (1960, III: 162): «(...] эти глаза вонзались ему в душу и производили в ней тревогу непостижимую.». Die Seile und Schnüre der Marionetten sind hier durch die Lichtstrahlen ersetzt, die von den dargestellten Augen in das Auge des Betrachters laufen. Gerade die Beleuchtung des Gesichts des zu Porträtierenden war ja auch schon beim Malen äußerst wichtig, der Künstler zeigt sich überrascht, «[...] как хорошо осветилось его

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лицо» (1960, ПІ: 161), und ist besorgt, daß "die glückliche Beleuchtung nicht geschwunden" sei («не изчезло счастливое освещение»). Der Pinsel wird zum «дьявольским оружием» (1960, III: 167). An anderer Stelle ist die Rede davon, daß der Künstler des Lichtes der Sonne bedarf (1960, ІП: 106).

Anders als im Modell des Realismus, findet die Wirkung des Kunstwerks hier nicht mimetisch-symbolisch, über die Ähnlichkeit mit den dargestellten Gegen- ständen statt, sondern magisch-allegorisch.56 Das Material der Realität wird erst in psychisches umgeformt, um dann erneut materielle Gestalt zu erlangen:

Видно было, как всё извлеченное из внешнего мира, худож- ник заключил сперва себе в душу и уже оттуда, из душевного родника устремил его одной согласной, торжественной пес-

нью. (1960, III: 138)

An anderer Stelle ist vom "чистилище"57 der künstlerischen Seele die Rede, in dem alles "презренное" seines verachtenswerten Charakters beraubt wird und es daher keine niedere Erscheinung gibt. Allegorien eröffnen die Möglichkeit radika- 1er Umdeutung und Unwertung.

Nicht dem Entwurf eines symbolischen Zeichens, sondern dem Modell der magischen Übertragung von Eigenarten und Wirkkräften des dargestellten Gegen- standes auf die Darstellung58 und der Darstellung auf den Betrachter59 folgt diese romantische Erzählung. Das Bild wird im ganz ursprünglichen Sinne so zum Medium des Wucherers wie die Puppe zum Tänzer des Puppenspielers. Der Be- trachter kann sich der Wirkung des Portraits so wenig entziehen wie die Puppe der Mechanik61 des Drahtpuppenspiels. Die psychologische Dimension dieser Erzählung tritt in einer Vorlage noch unverhüllter hervor, nämlich in E.T.A.

Hoffmanns Roman Der Magnetiseur, der seinerseits durch den Mesmerismus auf Freud vorausweist. Die psychische Einwirkung wird nun nicht mehr durch die Mechanik von Drähten und Schnüren, sondern durch die Anziehungskraft des Magneten erzielt.62

Diese allegorische Vorstellung psychischer Vorgänge hat ihre antike Wurzel wohl in der medizinisch-ästhetischen Kategorie der Katharsis. Sie ist ־ wie die Reinigung überhaupt - ursprünglich mit dem Element des Wassers verbunden. Es ist hier nicht der Ort, der Frage im Detail nachzugehen, ob die mesmerischen Vorstellungen der Magnetisierung ihrer Genesis nach mit der Katharsis zusam- menhängen. Dies liegt allerdings zum einen nahe durch die Darstellung des kat- hartischen Schlafs der Selbstschau, in welchen der Ledermensch in Johann Paul Richter Fragment des Romans Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komi- sehe Geschichte durch Magnetismus versetzt wird. Zum ändern aber ist es wahrscheinlich durch den Umstand, daß in der mesmerischen Praxis gern Gebrauch gemacht wird von dem Eintauchen des Menschen in eine galvanisie- rende Wanne.63

Zeitgleich mit der Entstehung von Gogol's Porträt und parallel zu seiner Arbeit

an Русские ночи skizzierte Fürst Odoevskij (1975, 200) eine Наука ин- стинкта, die gleichfalls ein dichotomisches Konzept der Seele entwirft. Neben dem im Laufe der kulturellen Entwicklung an Gewicht stets zunehmenden ,разум' geite es, den ursprünglichen, sich im Sinne des Mesmerismus in magnetischen Zuständen, also mechanisch manifestierenden Instinkt zu berücksichtigen. Hier sieht der Autor übrigens eine legitime Aufgabe der Russen als Nordländer:

Наука инстинкта должна явиться у русских.

Природа севера заставляет жителей его обращаться в самих себя и тем побеждать прируду; такова роль в человечестве се- верных жителей.

Für Odoevskij kommt es nun darauf an, Verstand und Vernunft, die einander wechselseitig abwertenden «две природы» des Menschen,64 so zur Synthese zu bringen, daß der Verstand zum Instinkt zurückgeführt wird. Diese Konzeption, die auch in der um 1840 entstandenen Erzählung Salamandra zur Erscheinung kommt,65 schließt die Vorstellung ein, daß "die poetischen Urbilder der Seele nur

während ihres instinktiven Zustandes erscheinen [.״[" )»]״.] первообразы поэ- тические являются душе лишь во время ее институального состояния [.״ ] (201)». Unter Berufung auf den englischen Philosophen Francis Hutcheson, einen Vorläufer des Utilitarismus, spricht Odoevskij geradezu von einem "mora- lischen Instinkt" des Menschen, der Grundlage von Wissen und Gefühl, die durch die "мнения" der Menschen, ihre Vorurteile also, beeinträchtigt würde.

Der Verzicht auf die Fesseln dieses Vermeinens böte die Chance, die verschie- denen Stimmen zu einer allgemeinen Harmonie zu führen (204), in der auch die leitende Funktion der Musik als Kunst zum Ausdruck kommt.

Der russische Romantiker sieht nicht zufällig im "иносказание" keineswegs Erfindungen der Dichter, eher schon «сокровеннейшие тайны физической части вселенной», in Wahrheit aber Zeugnisse, «действительные предания»

(207f.). Als Medium der allegorischen Beziehungen zwischen Mensch und Welt dient Odoevskij anders als Kleist nicht die Mechanik der Schnüre und Drähte,

sondern die Physiologie des Pulses.66

Ganz im Sinne einer Kunstpsychologie des Symbols hat Florenskij in seiner die Kunst des frühen Mittelalters zum Paradigma erhebenden Schrift Иконостас die allegorische Kunstauffassung abgewiesen. Zwar nimmt die Überlegung des Natur- und Geisteswissenschaftlers von der Ikonenmalerei ihren Ausgang, doch greift sie auf die gesamte künstlerische Tätigkeit aus. Florenskij behauptet auf- grund einer Metaphysik der Malfläche für die Ikone als Inbegriff der Malerei eine Kongruenz der äußeren Bewegung der Künstler mit ihrer seelischen Dynamik, welche die dezentralisierte (allegorische) Bewegung der Kleistschen Marionette folgerichtig als Irreführung und Fälschung verwerfen muß (1985,259):

М ожно ли себе представить чтобы десятками и сотнями лет ты сячи и десятки тысячи художников целую жизнь делали

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движ ения, своим ритмом не сходящие с ритмом их души?

Явно: л и б о изобразительная плоскость способна извести из себя только ритмы определенного типа, выражающие ее дина- мику, и тогда победит художника индивидуально или исто- рически, и он делается не тем, 4t ó он есть по всему духовному строению; либо, напротив, художник [...I настоит на своем собственном ритме, тогда он вынужден будет отыскать себе н о в у ю плоскость [...] соответствующую своими ритмами его ритмами.

Es liegt in der Logik seiner symbolischen Kunstauffassung, daß der Geistliche in einer Stellungnahme zum Puppentheater der Efimovs die Illusion theatralischen Spiels als mißlingenden Betrug abgewehrt und das Puppentheater als Erweckung

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einer "geistigen Harmonie" («духовная гармония») durch die Öffnung des We- ges zurück in die Kindheit und damit in den Garten Eden zum Beispiel eines künftigen Theaters erhoben hat. Wie die Ikone als Fenster in den Himmel, so öff- net sich das Puppentheater für Florenskij (1983, 386) als Blick in die Kindheit:

«Сияющий в лучах закатного солнца, театр открывается окном в вечно ж ивое детство.»

Das allegorische Konzept einer Psychologie und Psychotechnik wird noch einmal in Platonovs (1984-1985, I: 175f.) Erzählung Эфирный тракт venvor- fen. Der Ingenieur Matissen hat eine elektromagnetische Apparatur entwickelt, welche so auf das Gehirn der Menschen ein wirkt, daß es materielle Körper unmit- telbar beherrschen kann. Wie Kleists Tänzer der Puppe durch die Mechanik der Drähte, Schnüre und Gelenke die gewünschten Bewegungen auferlegt, soll gut

Das allegorische Konzept einer Psychologie und Psychotechnik wird noch einmal in Platonovs (1984-1985, I: 175f.) Erzählung Эфирный тракт venvor- fen. Der Ingenieur Matissen hat eine elektromagnetische Apparatur entwickelt, welche so auf das Gehirn der Menschen ein wirkt, daß es materielle Körper unmit- telbar beherrschen kann. Wie Kleists Tänzer der Puppe durch die Mechanik der Drähte, Schnüre und Gelenke die gewünschten Bewegungen auferlegt, soll gut

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