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Kleists allegorische Psychologie

Im Dokument Aage A. Hansen-Löve (Hrsg.) (Seite 123-129)

DIE AXIOLOGIE SYMBOLISCHER UND ALLEGORISCHER PSYCHOPOETIK UND IHRE DESTRUKTION IN DER

1. Zur Vorgeschichte einer Psychopoetik

1.2 Kleists allegorische Psychologie

Im selben Jahr, da Goethe sich mit den Gedanken einer Kulturpsychologie

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trug, trifft der Erzähler von Kleists Abhandlung Uber das Marionettentheater auf jenen Tänzer der Oper, der ihm die Bewegung der mechanischen Puppe zugleich

als Gang einer Maschine und als Psychotopos darstellt. Der maschinelle Vorgang der Puppenbewegung sei in seiner Mechanik allein von der Schwerkraft bestimmt, von eben jener universellen Größe der Physik, die (wie wir nicht ver- gessen sollten) Newton zum Grundprinzip der Mechanik erhoben hatte. Die Linie, welche der Schwerpunkt der Bewegung im Innern der Puppe beschreibt, sei nichts anderes als "der W eg d e r S e e le d e s T ä n z e r s " , und sie werde gefunden, indem "sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Puppe versetzt, d.h. mit anderen Worten, t a n z t " 8. Zu diesem Seelenpunkt der Marionette ver- hielten sich die Gliedmaßen der Puppe wie mechanische Pendel.9

Kleist nutzt hier die Ambiguität des deutschen Wortes "Seele"10, das sowohl geistige ,anima' als auch physischen 'nucleus' bedeuten kann. So spricht man etwa von der ,Seele' der Feder, eines Seils oder auch eines Gewehrlaufs.11 Kraft dieser Doppeldeutigkeit gelingt es dem Verfasser des Essays, die Distanz zwischen seelenbegabtem Künstler und seelenlosem Artefakt, letztlich also die von Kreator und Kreatur im Punkte der Gravität der Puppe zugleich zur Erscheinung zu bringen, zu vergegenwärtigen und zu vernichten. Es sei daran erinnert, daß Gra- vität auch der lateinische Ausdruck für Würde, und Gravidität der medizinische Ausdruck für die Schwangerschaft ist. Aus der Paarung von männlichem Künst- 1er oder Tänzer und weiblicher Marionette oder Puppe entsteht so die vorbewußte Würde der Kreation.12

Die Äquivalenz des Gangs der mechanischen Maschine und der Bewegung der menschlichen Psyche ermöglicht es in Kleists Dialog, die zur Bewegkraft, zur

"vis motrix" reduzierte Seele des Mechanismus gegen die menschliche "Ziererei"

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abzusetzen, gegen die Befindlichkeit der Seele a u ß e r h a l b des Schwerpunktes ihrer Bewegung. Diese Exzentrizität des menschlichen Verhaltens sei unvermeid- lieh "seit wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben"13. Der phylogeneti- sehe Bruch durch das reflexive Bewußtsein wird vom Erzähler noch um ein onto- genetisches Beispiel erweitert, in dem ein junger Mann infolge der Wahrnehmung von Anmut und Grazie seiner Bewegung im Spiegel eben dieser Grazie und An- mut verlustig geht. Das Spiegelbild des narzißtischen Betrachters verrückt in der reflexiven Rückbeugung das Bild an die Stelle des Ich. Dabei erlebt der nar- zißtische Jüngling nicht nur sein Spiegelbild, sondern er sieht sich als Abbild je- ner Statue aus dem Louvre, die einen Jüngling darstellt, welcher sich einen Split- ter aus dem Fuß zieht. Ja, er teilt sich, noch naiv in dieser Erfahrung, seinem Freunde mit. Des Erzählers Replik - "er sähe wohl Geister!" - treibt dem im Spie- gelstadium seiner epistemischen Unschuld Beraubten die Schamröte ins Gesicht;

er vermag die Bewegung nicht mehr zu reproduzieren, so oft er sich darum auch bemüht...14

Der französische Psychoanalytiker Jaques Lacan (И, 67) hat das ,Spiegel- stadium' zum einen als Inkongruenz zwischen den Horizonten von 'Innenwelt' und 'Umwelt' bestimmt. Zum anderen nötigt dieses Auseinandertreten von Innen*

und Außenwahrnehmung, diese Zerstückelung der Person in Leib und Körper zur Kompensation durch das zeitliche Geschehen der psychischen Vorwegnahme.

Zum dritten aber bestimmt es das zerlegte Subjekt dazu, ersatzweise eine Identität zu bilden, in welcher das Ich nur noch als Fiktion fungiert:

Das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend vom zerstückelten Bild des Körpers, in eine Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen können, und in einem Panzer, der aufgenom- men wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die uner- schöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen (récolements du moi) her- vor.

Die Umkehrung der Spiegelwirkung führt E.Th.A. Hoffmanns Erzählung Prinzessin Brambilla vor. Von Callots satirischen Blättern zur Commedia dell’

arte angeregt und daher im Untertitel auch Ein Capriccio nach Jakob Callot ge- nannt, entfaltet dieses Prosastück im Maskenspiel zum Römischen Karneval die Spaltung der Person zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Der Schauspieler Giglio will statt der Schauspielerin Giacinta die sagenhaft reiche äthiopische Prinzessin Brambilla freien, sie wiederum an seiner statt den assyrischen Prinzen Cornelio.

Durch den Mord an seinem Doppelgänger, dem Schauspieler, befreit sich Giglio von seiner Gespaltenheit, sieht sich nun freilich als Prinz Comelio an. Mit dem

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Blick in den Spiegel des Urdarsees ist der König Ophioch von seiner Melancholie und seine Gemahlin Liris von ihrer Albernheit geheilt. Giglio und Giacinta aber erkennen im wieder klar gewordenen Spiegel des Urdasees ihre Identität und werden vom Wahn der Alterität erlöst. Die Romantik konstruiert die Versöhnung der unversöhnlichen Gegensätze...

Eine beachtenswerte moderne russische Darstellung der Spiegelsituation bildet Boris Pil'njaks Selbstanalyse in dem Sammelband К ак мы пиш ем. Hier ist der Spiegel der Ort der Verdoppelung des Ich, welches sich selber kraft der Phantasie alsein Anderes erleben kann:15

Детство. В проходной комнате висит на сте не зеркало, в кото- рое я умещаюсь вместе с моим конем. Я - иль Руслан или Остап (самое оскорбительное ־ назвать меня Фарлафом!). Мно- гими часами каж ды й день ־ месяцами ־ я сиж у на моем коне, обтянутом "курой жеребенка, [...] - перед зеркалом. [...] я р а з г о в а р и в а ю сам с со б о ю , ־ я переделываю под зеркало не только Руслана и Остапа, но и все диканьские вечера, но и пампасов. Я махаю руками, я мчусь на моем коне, я кричу, я грожусь. [.״ ] Я знаю, что тогда перед зеркалом ־ я н а с л а ж - д а л с я , и до сих пор помню, что сидеть перед зеркалом мне б ы л о ־ н е о б х о д и м о .16

Der Tänzer trägt bei Kleist nun die Erzählung von einem Fechtkampf gegen einen Bären bei, der "Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte", alle Finten seines Gegners, alles So-Tun-Als-Ob einfach ignoriert. Das vorbewußte Sein scheidet das Vor-Gespiegelte als irrelevant und nichtexistent aus. Grazie, die dem reflexiven Bewußtsein solchermaßen verwehrt ist, erscheint entweder im bewußtlosen Gliedermann oder aber in der Allwissenheit, im "unendlichen Be- wußtsein" (eines) Gottes.

Ganz im Gegensatz zu Schillers17 Aufsatz Über A nm ut und Würde erwächst

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Grazie bei Kleist nicht aus der Sittlichkeit des Verhaltens, wird Ästhetik nicht in der Einheit mit Ethik und Wahrheit18 begründet, steht der ästhetische W en nicht in Kongruenz mit dem ethischen und epistemischen. Obgleich auch der Weimarer Dichter, Ästhetiker und Historiker die Seele als "das bewegende Prinzip" der Anmut und diese als "Grund von der Schönheit der Bewegung" kenntlich macht, ergibt sich doch ein Unterschied ums Ganze, da für Schiller "Anmut (...) eine Schönheit [ist], die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekt selbst hervorgebracht wird".19 Diese Begründung des Schönen im Subjekt gibt Kleist auf. Wo die Frühromantiker das Erhabene gegen die klassische Ausgrenzung aus der Kultur entfesseln, verlagert der Autor der Schrift Über das Marionettentheater die ästhetische Qualität der Anmut ins Vor-Geistige, ja ins Unbewußte.

Zwar hat Kleist den Gegensatz von Anmut und Ziererei gewiß just in Schillers20 Schrift angetroffen, doch war dem Weimarer das Affektierte, das un- mäßige Nachäffen die unerläßliche Bedingung für den Umschlag des einen ins

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andere: "so wird aus der affectierten Anmuth Z i e r e r e y Unüberhörbar

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widerspricht der Autor der Psycho-Asthetik des Marionettentheaters den Passa- gen der Abhandlung über Anm ut und Würde, in welchen der Anmut der ethische Charakter des Willentlichen im Felde der Entscheidungsfreiheit zugebilligt ist:

W i l l k ü r l i c h e n Bewegungen allein kann also Anmut zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck m o r a - l i s c h e r Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmut erhebet. Könnte sich die Begierde mit Anmut, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmut und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zum Ausdruck zu dienen. [Meine kurs. Herv.]

Schillers (179f.) Entwurf der "schönen Seele", die im Affekt durch Widerstand gegen den Trieb - Freud spräche vom "Triebaufschub" - sich in eine "erhabene"

wandelt, die angesichts der Notwendigkeit des nur Natürlichen "ins Heroische"

übergeht, wird vom Verfasser im Prinzen Friedrich von Homburg auch theatra- lisch verworfen. Die Auflösung des Trauerspiels ist ein Traum; statt einem Hero- en gilt die Apotheose in der Eigen- wie auch der Fremdwahmehmung einem Träumenden:

VON HOMBURG Nein, sagt! Ist es ein Traum?

KOTTWITZ Ein Traum , was sonst?

Kleist entlehnt das Bildmaterial des Tänzers durchaus Schillers Diskurs, stellt dessen Gegensatzpaar vom "unbehülflichen" und "affectierten" Tänzer mit dem für Schiller wahrhaft anmutigen auf eine Stufe und ebnet so den ästhetischen Wertgegensatz völlig ein. Indem er den vermeintlich anmutigen Tänzer der Exzen- trik und damit eben auch der "Ziererei" überführt, zerstört er in letzter Konse-quenz den Freiheitsbegriff von Schillers Kunstpsychologie. 91 Sinnfälliger Aus- druck solcher Freiheitsberaubung sind die Schnüre, an denen die Marionetten

hängen.22

”Anmut" entwirft der Platons Drahtpuppengleichnis23 zugleich fortführende und umstülpende Essayist Kleist als ästhetischen Wert, welcher entweder durch U n b e w u ß t h e i t oder aber durch u n e n d l i c h e s W i s s e n begründet werde. "Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen, und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinandergrif- fen."24 Der griechische Philosoph25 hatte im Marionettengleichnis die Seele im Bilde eines Wunderwerks, der Drahtpuppe, dergestalt vorgeführt, daß die ver- schiedenen Seelen vorgänge das Durcheinander jener Drähte und Schnüre vorstel- len, die durch einander entgegenwirkende Betätigung zu entgegengesetzten Hand- lungen drangen und solchermaßen Tugend oder Laster hervorrufen. Diesen Platonischen Drähten, welche für die Leidenschaften (,,та лс(Ѳт!") stehen, wohnt nun insofern eine materielle Werthierarchie inne, als die einen von Gold, die ande-

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ihrem praktischen Wert den goldenen überlegen seien, solle der Mensch doch den Regungen der goldenen folgen, da sie "der besten Leitung"26 gehorchen: der Ver- nünftigkeit. Gerade aber weil das "goldene Element" nicht das stärkste sei, be- dürfe es als leitendes stetiger Unterstützung, damit die Tugend obsiege27.

In der Wertordnung Platons bildet das Gleichnis nach Krämer (1959, 147) ein Beispiel für die "Vertikalstruktur", insofern die Drähte die Verbindung des Men- sehen zu den Göttern eröffnen. Der "Хоугац<к" ist nun aber in Platons Staats- philosophie zugleich das allgemeinverbindliche Gesetz, "коіѵос ѵоцос". Die Vertikal Struktur der Drahtpuppe legt die Analogie von Gesetz und Handlungs-Ich zum Verhältnis von Über-Ich und Ich in der psychischen Topik Freuds nahe.2ii Kleist dagegen richtet sich auf das Verhältnis von Puppenspieler und Puppe, die im Freudschen Sinne als Inkarnationen von Ich und Es aufgefaßt werden können.

Platons Puppengleichnis ist auf Verlängerung, Erweiterung ('Übertragung') von Autorität eingestellt, Kleists Puppentheater dagegen auf ihren Ausschluß.

Nicht nur wird die psychische Mechanik, die bei Platon kraft der Vernunft dem moralischen Gesetz, der Idee also, zur Geltung verhilft, von Kleist in eine Dynamik übergeführt, welche dem Naturgesetz der Gravitation gehorcht, es tritt überdies die Reflexivität des menschlichen Bewußtseins, das Handeln im Wissen vom Selbstbild als jene Qualität hervor, welche den ästhetischen Wert der Er-A Q

scheinung stört. Dabei ist das Wissen von der tödlichen Wirkung der Reflexion im Bilde von Geometrie und Optik zur Erscheinung gebracht. Die Spur der geometrischen Linie führt in Kleists Essay freilich durch die Unendlichkeit, ist u n e n d l i c h e Spur. Der Hohlspiegel ist ein im Bilde gespiegelter Spiegel, ja, es sind geometrisches wie optisches Geschehen aus der Perspektive eines Erwar- tungshorizonts vorgeführt, in welchem das ursprünglich natürliche Ereignis p s y c h i s c h e Überraschung auslösen kann.30 Mit anderen Worten: Kleist ent- wirft keineswegs die rhetorischen Tropen einer schlichten Mathematik und Mechanik, sondern raffinierte psychologische Bilder natürlicher Vorgänge:

Doch so wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der ändern Seite einfindet oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Be- wußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.

Das Bild der Gliederpuppe enthält nun auch das Modell einer mechanischen Telekinese, die anders als die parapsychologische rein physikalisch beschreibbar und im Sinne der Newtonschen Physik auch erklärbar ist. Die Verdoppelung (двоение) der Bewegungsinstanz in Puppenspieler und Puppe fügt sich in die Tradition des Doppelgängers und bildet so auch ein materielles Gegenstück zur

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Emanzipation des "Genies" aus dem Doppelgänger-Genium. Als ,Schauspiel ohne Rolle', als Theatrum ohne Persona bildet das Marionettenspiel ein echtes Simulacrum.32 Indem es ein unbelebtes Ding zu animieren trachtet, macht es die wahrgenommene Puppe doch zugleich irreflexiv. Das Marionettentheater steht darin dem epischen Theater diametral gegenüber; wo dieses durch das Heraus- treten des Schauspielers 'aus der Rolle’ die Reflexion über die dargestellte Person und ihre Handlung befördert, verleiht jenes den Bewegungen der Puppe reflexionsfreie ,Selbstverständlichkeit'.33

Fragen wir nach der Bedeutung des Wortes "Ziererei"34 in der Morgenröte des vorigen Jahrhunderts, so bietet ihre Umschreibung in Grimms Wörterbuch vor- treffliche und zugleich verräterische Hilfe:

gekünsteltes, gezwungenes, unnatürliches wesen in haltung und ge- bärden, im verhalten und benehmen, namentlich weibliche koketterie, in übertriebener gesellschaftlicher etikette, auch in unaufrichtiger gesinnung, im verkünstelten und überladenen sprachstil und ver- schrobenenkunstempfinden.

Der Gegensatz von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von natura und ars schält sich hier als Grundlage für Bedeutung und Wert des Ausdrucks "Ziererei" heraus.

Dem positiven naturbestimmten Gebaren tritt unversöhnlich seine negativwertige künstliche Deformation durch Unangemessenheit mit Blick auf die Regeln der Konvention oder Unaufrichtigkeit mit Blick auf die Moral gegenüber. Ganz deut- lieh ist das Natürliche wie bei Rousseau die Ausgangsform, deren Stelle als min- derwertige Alternative das Widernatürliche, Gekünstelte sich aneignet.

Nur am Rande sei vermerkt, daß die Hauptbedeutung des Sich-Zierens, der nach dem Zeitverständnis zumeist weibliche Widerstand gegen das zuvörderst männliche Begehren bei den Grimms unter den Schlagwörtem "Koketterie" und

"übertriebene gesellschaftliche Etikette" versteckt ist. In Gleichmanns35 Scherz- und Sitten-Gespräch aber las man schon 1756: "0! dacht ich: wüste sie, wie Stoltz verächtlich sei, I Sie zierte sich nicht so," und 1838 gibt Eiselein36 in seinen Sprichwörtern und Sinnreden ganz offen zum Besten: "Lustig ist das Freien I Ohne Zierereien".

Näher ist im Mozart-Jahr uns und näher war der Kunstpsychologie Kleists auf den ersten Blick ein dem Komponisten selbst vom Biographen Jahn37 in den Mund gelegtes Beispiel: "Ich will ohne Zierey nach meiner angeborenen Aufrich- tigkeit zur Sache selbst schreiten." Die Deformation und Inflation ergreift zunächst tatsächlich das Leibliche: "Eine natürliche Haltung des Leibes [...], ohne alle Künstelei und Ziererei".38 Es ist nicht das Begehren, welches die Ziererei auslöst, auch nicht das wahrgenommene Begehren, es ist die Reflexion über die Wahrnehmung der Reaktion auf das Begehren, welche das Sich-Zieren verant- wortet. Die Rechenschaft darüber, wie ich als Begehrte(r) wirke, motiviert jene Berechnung des Gebarens, welche die natürliche, die spontane Gegentat einer

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Kontrolle, mit Freud gesprochen, einer "Zensur" unterwirft. In die Kunst übertra- gen: Die vom Bewußtsein bedingte Ziererei des Künstlers bewirkt eine Exzentrik

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der Seele, welche nur durch Übertragung aufzuheben ist. Der kreative Akt des mit Bewußtsein ausgestatteten Kreators bedarf einer außerhalb seiner selbst gelegenen Instanz ohne Bewußtheit, hier eines Artefakts, an dem sich die Bewegung reflexi- onslos, "ohne Ziererei‘ vorführen läßt.

1.3 G oethes und Kleists K unstpsychologien als gegensätzliche

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