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TEIL IV: ERZÄHLUNG

Kapitel 3: Sekundärliteratur

Kein Funktionalstil ist so ausgiebig untersucht und in so zahlreichen Arbeiten kommentiert worden wie der wissenschaftliche Stil.

Allein in der russischsprachigen linguistischen Literatur findet man eine Fülle von Veröffentlichungen zu verschiedenen sprachlichen und außersprach- liehen Erscheinungen dieses Stils63, insbesondere zur Syntax und Lexik. Aber auch zur Morphologie und damit zu Verbformen und zu Fragen der wissen- schaftlichen Textsorten gibt es Untersuchungen.

Für die vorliegende Untersuchung ist die Literatur zu den beiden letztge- nannten Punkten interessant.

3.1 Literatur zu Textsorten und Verbformen

Bei der Untersuchung des wissenschaftlichen Stils sind die Linguisten sich darüber einig, daß typische wissenschaftliche Texte bestimmte sprachliche Elemente aufweisen, die nicht auf eine Sprache, z.B. das Russische, be- schränkt sind, sondern in vielen Sprachen anzutreffen sind, z.B. der Nominal- stil (Genitivketten, präpositionale Wendungen anstelle von Nebensätzen, dese- mantisierte Verben), eine bestimmte Auswahl der Lexik usw.

Lapteva (1985, 114) stellt dabei fest, daß die Merkmale des Wissenschaft- liehen Stils die Textsorten einerseits ״ stabilisieren“, die Formen dieser Text- sorten aber andererseits nicht kodifiziert sind wie etwa bei den administrativen Textsorten.

So zeigen z.B. Mets / Mitrofanova / Odincova (1981) die für den wissen- schaftlichen Stil typischen Redetypen Beschreibung, Argumentation, Beweis- führung und den seltener vertretenen Erzähltyp anhand von Beispielen, näm- lieh Teiltexten, auf (92ff.) und erläutern, wie diese Teiltexte normalerweise aufgebaut sind (96ff.). Sie betonen aber dabei, daß ein konkreter wissen- schaftlicher Text immer eine Kombination von Teiltexten verschiedener Redetypen darstellt (93).

63 z.B. Cvilling 1979, 1980, 1985, 1989; Kožina 1972; Lapteva 1985; Lariochina 1979;

Mets 1979; Mets / Mitrofanova / Odincova 1981; Percbejnos 1982; Senkevič 1976;

Trojanskaja 1976, 1978

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Die Autoren gehen nicht auf die Frage ein, in welchen Textsorten wie häufig oder wo plaziert diese Redetypen Vorkommen, weisen aber darauf hin, daß ihr Auftreten vom Inhalt des jeweiligen Textes, dem ж ан р und dem Autor abhängt.

Zu diesen Faktoren hat M.N. Kožina bereits 1972 eine große statistische Untersuchung anhand umfangreichen Textmaterials durchgeführt und ver- öffentlicht (О речевой системности научного стиля сравнительно с некото- рыми другими, П ермь), in der sie verschiedene Textsorten des wissen- schaftlichen Stils auf ihren Gebrauch von Tempus- und anderen Verbformen, Substantiven, Adjektiven, Personalpronomen und auch syntaktischen Erschei- nungen analysiert. Sie betrachtet bei den Verbformen nicht nur die Morpholo- gie, sondern auch die Funktionen wie das atemporale und das Historische Prä- sens, den Bezug zum Sprechmoment und ihr Auftreten in verschiedenen Redetypen.

Kožinas Untersuchung zeigt, daß innerhalb des wissenschaftlichen Stils große Unterschiede im Verbformgebrauch auftreten, und zwar von Textsorte zu Textsorte (монография, учебник, статья), innerhalb eines Fachgebiets von Autor zu Autor oder zwischen wissenschaftlichen und populärwissen- schaftlichen Texten und insbesondere innerhalb einer Textsorte auch von Fachgebiet zu Fachgebiet (Chemie, Physik, Geographie usw.).

Im folgenden möchte ich ihre Untersuchungsergebnisse zum Tempus- und Aspektgebrauch in wissenschaftlichen Textsorten kurz darstellen.

3.2 Tempus- und Aspektgebrauch in wissenschaftlichen Texten nach Kožina 1972

Zunächst muß vorausgeschickt werden, daß Kožina bei der Tempusanalyse alle Verbformen mit Tempusmorphem berücksichtigt, also auch aspektlose Verben wie die Formen von быть, modale Hilfsverben wie должен, auch un- persönliche Konstruktionen mit можно, надо usw. In die Aspektuntersuchung bezieht sie auch tempuslose Verbformen wie den Infinitiv in autonomer und syntaktisch untergeordneter Position (надо учесть) mit ein. Außerdem betrachtet sie die Aspekt- und Tempusformen getrennt voneinander, stellt keine Korrelation der beiden Vorkommen auf, die möglicherweise Unter- schiede des A/T-Gebrauchs in verschiedenen Textsorten zeigen könnte, wel- che aber bei dieser getrennten Betrachtung nicht sichtbar werden. Doch da Kožina nicht nur die Formen, sondern auch ihre Funktionen (atemporal, deik- tisch usw.) berücksichtigt, sind ihre Untersuchungsergebnisse für die vorlie- gende Untersuchung sehr wertvoll.

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Ka p it e l 3: Se k u n d ä r l it e r a t u r 139

Eine wesentliche Erkenntnis Kožinas ist die, daß sich im Aspektgebrauch kaum Unterschiede in den verschiedenen Fachgebieten und Textsorten der Naturwissenschaften zeigen (243), im Gegensatz zum Tempusvorkommen, das je nach Redetypen in den Texten variiert:

Der Anteil des Präsens liegt z.B. im Bereich der Physiologie bei 56%, in der Biologie, Geographie und Geologie bei 77-78%, in der Chemie sogar bei 82%, mit jeweils bis zu 10 Prozentpunkten Schwankung um den jeweiligen Mittelwert in den verschiedenen Textsorten (Kožina 1972, 21 Off., Tabelle 35, Periode III).

Ebenso findet man große Unterschiede im Präteritumgebrauch je nach Fachgebiet und Textsorte (von 12% in der Physik bis 40% in der Physiologie) und im Futurvorkommen (von 3% in der Geographie bis 22% in der Physik) (21 Off., ebd.).

Insgesamt gesehen ist der Präsensanteil dreimal so groß wie der des Prä- teritums. Zum Vergleich: In der Belletristik beträgt das Verhältnis von Prä- sens und Präteritum 1:8 (vgl. 157).

Bei der Funktionsanalvse der Tempora stellt Kožina fest, daß fast alle Präsensformen atemporal gebraucht werden (216), da in wissenschaftlichen Texten hauptsächlich auf Zustände, Eigenschaften, Gesetzmäßigkeiten refe- riert werde; eine deiktische Verwendung finde man nur selten. Allerdings zählt Kožina auch Formulierungen wie мы можем zu der atemporalen Präsensbedeutung, da man sie durch мож но ersetzen könne (217f.). Diese Wertung habe ich jedoch in der vorliegenden Untersuchung nicht übemom- men, solche Formulierungen können - je nach Kontext - auch deiktische (sta- tive) Bedeutung besitzen (Beispiele im folgenden Kapitel).

Formulierungen wie Он указывает, что ... oder Она говорит, что ..., die wir in ähnlicher Form bereits aus unserer Untersuchung der publizisti- sehen Textsorten kennen (s. Teil II), bezeichnet Kožina als настоящее реги- стрирующее / констатирующее (219).

Das Historische Präsens ist in wissenschaftlichen Texten nicht bekannt.

Erzählpassagen werden immer im Präteritum gehalten (über die Entwicklung der Forschung, biographische Stationen anderer Wissenschaftler usw.).

Das Präteritum wird nach Kožina entweder synonym zum atemporalen Präsens oder zum настоящее регистрирующее verwendet, z.B. Он полагал / сч и тал ... (222f.). Bei längeren Textstellen im Präteritum handelt es sich meistens um Erzählpassagen (= N-Präteritum) (211).

Die Futurformen treten entweder ebenfalls als Synonyme für atemporales Präsens auf (в общем случае мы берем / возьмем две близкие точки) oder

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in hypothetischen Kontexten mit если... то, oder in sog. ш тампы-оговорки wie заметим, что ..., обратимся к... usw. (224ff.).

Zusammenfassend kann man also sagen, daß die meisten Formen in ab- strakter, atemporaler Funktion eingesetzt werden, was nach Kožinas Mei- nung die inhaltlich-logische Struktur der wissenschaftlichen Texte unter- stützt.___________________________________________________________

Zum Aspektgebrauch im wissenschaftlichen Stil hat Kožinas Untersuchung ergeben, daß die Anteile von ipf. und pf. Aspekt (mit Infinitiven!) etwa bei 80% und 20% liegen (Belletristik: etwa 60% und 40%) (240).

Der hohe Prozentsatz beim ipf. Aspekt läßt sich zum einen mit dem häu- figen Präsensgebrauch erklären, zum anderen werden im wissenschaftlichen Stil typischerweise Verben verwendet, die ohnehin nur im ipf. Aspekt stehen, weil sie auf Zustände referieren, z.B. существовать, обладать (242).

Der pf. Aspekt wird meist bei Infinitiven und im Futur gebraucht, im Präteritum kommen pf. (in Erzählteilen) und ipf. Verbformen vor. Hierzu nennt Kožina jedoch leider keine Zahlen64.

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Es liegt noch eine Untersuchung von K. Savrančuk (1987) zum Tempusgebrauch in russ. und poln. linguistischen Texten vor. Sie untersucht auch Partizipien, die attributiv verwendet werden, was ich nicht für sinnvoll halte (читающий студент). Der Prozent- satz für Präsens würde ohne diese Attribute höher als die von ihr errechneten 67% lie- gen und sich den ca. 80% von Kožina angleichen.

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Kapitel 4: A/T-Gebrauch im Vergleich