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Der Bereich der Belletristik umfaßt eine Vielzahl literarischer Gattungen und Textsorten, von denen in der vorliegenden Untersuchung zwei herausgehoben und untersucht werden sollen, die sich in Hinblick auf Narration und Deixis an entgegengesetzten Polen befinden: die Erzählung und das Schauspiel.

In der Erzählung erwartet man das Höchstmaß an narrativen Elementen von allen schriftlichen Textsorten überhaupt42, das Höchstmaß an deiktischen Bezügen innerhalb der Literatur darf man dagegen beim Schauspiel erwarten, da es zwar geschrieben, aber auf der Bühne aufgeführt und der Text gespro- chen wird.

Ein Drama, eine zur Aufführung verfaßte, in sich abgeschlossene Hand- lung, besteht aus einem oder mehreren Akten (Bildern), die wiederum mehre- re Szenen und Auftritte umfassen. Es handelt sich also um eine komplexe Textsorte, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist.

Ich halte es für sinnvoll, Szenen, die in sich geschlossene, überschaubare Einheiten sind, als gebundene Textsorten anzusehen und auf den A/T-Ge- brauch hin zu analysieren.

Da im Drama die Figuren miteinander kommunizieren und üblicherweise miteinander sprechen, bietet sich ein Vergleich von fiktionalen und realen, umgangssprachlichen Dialogen, wie Zemskaja und Kapanadze sie 1978 auf- gezeichnet haben, an.

Dabei muß man aber einige Faktoren berücksichtigen, die in der Struktur von Dramen begründet sind und von vornherein Unterschiede zwischen dra- matischem und realem Sprechen erkennen lassen.

1.2 Dramatische und reale Rede

Der dramatischen und der standardumgangssprachlichen Rede gemeinsam ist die Gebundenheit der Sprecher an die Hier-und-Jetzt-Origo, in dem einen Fall

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die fiktive, im anderen die reale. Insbesondere bei der Zeit findet eine

Uberla-Definition zu Erzählung und dem Textcorpus s. Teil IV.

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78 TEIL 3: DIALOG - GESCHRIEBEN UND GESPROCHEN

gerung von Realität und Fiktion statt, ״der realen zeitlichen Deixis der auffüh- renden Schauspieler und der rezipierenden Zuschauer entspricht die fiktive zeitliche Deixis der dargestellten Geschichte“ (Pfister 1977, 327).

Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Redevorkommen liegt darin, daß bei der dramatischen Rede noch das Publikum hinzukommt, jede Replik also zwei Adressaten(-gruppen) hat (vgl. Pfister 1977, 149). Vor allem der Zuschauer soll über die fiktiven Abläufe informiert und für ihn eine Handlung dargestellt werden. Dazu dient die Spannung als dramatisches Auf- bauprinzip des Werkes: ״ Es ist in jedem Augenblick des Dramas schon etwas geschehen, und es steht noch etwas aus, das aus dem Vorhergehenden gefol- gert und vorbereitet wird“ (Pütz 1977, 11). Daher sind für das Drama Ankün- digungen (Weissagung, Schwur, Intrige, Vorahnung, Drohung usw.) und Rückgriffe (Erinnerung, Erzählen der Vorgeschichte) typisch, die in einem Alltagsdialog nicht unbedingt Vorkommen müssen.

Dazu kommt, daß natürlich jede (reale) Person mehr oder weniger durch ihre Sprache, ihren Stil, die Wortwahl und auch die Inhalte ihrer Äußerungen etwas von sich zu erkennen gibt, im Drama jedoch werden die Figuren mittels ihrer Rede charakterisiert und stellen sich in ihrem sprachlichen Verhalten selbst dar (vgl. Pfister 1977, 156).

Der Dramatiker muß, um eine Figur zu charakterisieren, auch deren innere Bewußtseinsvorgänge sprachlich darstellen, ihre Gefühle, Befürchtun- gen, Vorhaben usw., also sozusagen das Innere eines Helden ,nach außen keh- ren‘, was in einem realen Gespräch unter Bekannten nur selten der Fall sein dürfte.

Gerade diese genannten Elemente müßten sich in einer unterschiedlichen Verwendung von A/T-Bedeutungen im fiktiven und realen Gespräch nieder- schlagen.

Wie wir gesehen haben, ist eine umgangssprachliche Rede kein reales Pendant zur dramatischen Rede, wie etwa ein mündlich gehaltenes wissen- schaftliches Referat das Pendant zum schriftlichen Referat ist. Will man beide trotz dieses Vorbehalts miteinander vergleichen, so muß man aus Dramen solche Einheiten (Szenen) auswählen, die realen Gesprächen am meisten ähneln.

1.3 Textcorpora

Da in Dramen in der Regel die Erzählerposition, die eine Handlung schildert, wie man es aus narrativen Texten kennt, nicht besetzt ist, ist die dialogische Figurenrede die ״sprachliche Grundform“ (Pfister 1977, 23), dabei kann der

Ka p it e l 1 : Ein f ü h r u n g 79

Dialog gleichzeitig Handlung sein mit Sprechakten wie Versprechen,

Drohun-• Drohun-•

gen, Überredungen usw.

Darüber hinaus gibt es aber Szenentypen, mit denen der fehlende Er- zähler ersetzt wird und die typische Formen der Ankündigung und / oder des Rückgriffs43 darstellen: den Monolog, das Beiseitesprechen, die Publikumsan- rede, den Prolog (vgl. Pütz 1977, 123). Szenen, in denen diese Elemente vor- kommen, untersuche ich nicht, da sie sich nicht für einen Vergleich mit realen Dialogen eignen.

Stattdessen gehören zum Textkorpus Szenen mit Dialogpassagen, die die Struktur einer Konversation aufweisen. Auch hier können narrative Elemente oder Ankündigungen Vorkommen, aber sie werden nicht von vornherein erwartet.

Desgleichen werden auch keine Dialoge der Разговорная Речь unter der Überschrift Из воспоминания... (Zemskaja / Kapanadze 1978) analysiert, da man bei diesen ebenfalls mit großen narrativen Teilen rechnen muß. Auch Telefongespräche, Mikrodialoge und Erzählungen (рассказы) werden nicht in das Korpus TS Gespräch (hier kurz für ,TS Umgangssprachlicher Dialog‘) aufgenommen.

Das Korpus umfaßt zwei aufgezeichnete Dialoge (Разговор в гостинице und О музыке и театре), die insgesamt 492 A/T-Formen beinhalten.

Zum Korpus TS Theaterdialog gehören sechs Szenen44 aus drei moder- nen Schauspielen von É. Radzinskij, E. Kaplinskaja und S. Alešin, die Ende der 60er und in den 70er Jahren geschrieben wurden (Zemskaja / Kapanadze haben in dieser Zeit die umgangssprachlichen Dialoge aufgezeichnet).

Sie behandeln keine historischen Stoffe, bei denen sich die Sprache der Figuren an alte Sprachnormen anlehnen könnte (Historisierungen in Archais- men). Die Figuren sprechen auch nicht in metrischen Bindungen, ihre Sprache ist nicht poetisch verdichtet mit überreichen Metaphern und Symbolen und es sind keine surrealistischen, skurrilen Szenen, wie man sie z.B. in Slub (Die Trauung) des polnischen Dramatikers W. Gombrowicz findet, in der die Hauptfigur einen Traum gestaltet und der Traum die Figur.

Die Erzählelemente sind um so größer, je offener die gesamte Zeitstruktur im Drama ist, wenn z.B. eine Handlung über mehrere Jahre spielt, sie ja aber nur in einigen Szenen dargestellt werden kann (vgl. Pfister

1977,334f0-In einigen Szenen treten zuweilen auch mehr als zwei Figuren auf und nehmen an der Unterhaltung teil; dieses wird in der Literatur ebenfalls als Dialog bezeichnet (Duolog - Polylog). Auch in einem der RR-Dialoge sprechen drei Personen miteinander.

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Weiterhin sind die Szenen des Korpus, wie schon erwähnt, frei von Mo- nologen, Beiseitesprechen und Publikumsanrede. Vielmehr handelt es sich bei den Dialogen um weitgehend ,natürlich‘ erscheinende Gespräche.

Abschließend sei noch angemerkt, daß ich von den zwei Textschichten im Drama nur den sogenannten Haupttext untersuche, also die gesprochenen Repliken der Dramenfiguren, nicht aber den Nebentext, die nichtgesprochenen Segmente, zu denen Titel, Epigraphie, Widmungsschrift, Vorwort, Personen- Verzeichnis, Akt- und Szenenmarkierung, Bühnenanweisung zur Szenerie und Aktion und die Markierung des jeweiligen Sprechers einer Replik gehören.

Die Anzahl der zu untersuchenden A/T-Formen beträgt 607.

1.4 TS Theaterdialog und TS Gespräch

Wenn man die Szenen- und die umgangssprachlichen Dialoge liest, fallen einem einige gravierende Unterschiede zwischen beiden Dialogtypen auf.

Die Dramenrepliken sind stark an der Standardschriftsprache orientiert, insbesondere im syntaktischen Bereich. Die Разговорная Речь-Texte weisen an einigen Stellen viele Ellipsen und von der Schriftsprache entfernte Satz- A/T-Verteilung auswirkt. Auf diesen Faktor wird in den folgenden Kapiteln bei der statistischen Auswertung noch hingewiesen werden.

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Ka p it e l l : Ein f ü h r u n g 8 1

Zum Vergleich führe ich einige Repliken aus den Theaterdialogen an, aus denen erkennbar wird, daß die Dramatiker die umgangssprachliche Rede ,glätten‘, d.h. sie von redundanten Mitteln weitgehend befreien, auf bestimm- te lexikalische Ausdrücke wie угу, вот что, ...־то usw. verzichten und eine

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Kapitel 2: A/T-Gebrauch im Vergleich