Teil 2 Ergebnisse der Aktenanalyse
4. Darstellung der Tat
6.3. Haftbefehl und Untersuchungshaft
6.4.2. Tatverdächtigenmerkmale bei Einstellung durch die Staatsanwaltschaft
6.4.2.3. Schichtzugehörigkeit
Kunz270bezeichnet die Schichtzugehörigkeit des Beschuldigten als eine Schlüsselkategorie, mit der die Weichen für die Verwendung alternativer Bagatellisierungskriterien gestellt werden. Er begründet dies damit, dass bei Taten von Unterschichtangehörigen häufig dann bagatellisiert wird, wenn ein Geständnis oder eine Schadenswiedergutmachung vorliegt. Bei Verfahren gegen Mittelschichtangehörige spielen diese Umstände keine Rolle. Das Verhalten der Unterschichtangehörigen könne als Demutsbezeugung gewertet werden, die dann eine Einstellung nach § 153 StPO begünstigt. Er schreibt somit der Schichtzugehörigkeit keine direkte, sondern eine indirekte Bagatellisierungsrelevanz zu.
268ähnlich Steinhilper: Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewalttaten, S. 247
269In der Regressionsanalyse konnte auf einem Signifikanzniveau von 99 % bestätigt werden, dass bei jüngeren TV weniger eingestellt wird. Dittmann/ Wernitznig: Strafverfolgung und Sanktionierung bei deutschen und ausländischen Jugendlichen und Heranwachsenden
270Kunz: Das Absehen von der Strafverfolgung bei Bagatelldelinquenz, KrimJ 1979, S. 44 f
Abb. 74
0 10 20 30
14 15 16 17 18 19 20
Alter Anzahl
Schlussbericht Beweisschwierigkeiten Schlussbericht bestritten
Abbildung 75 zeigt die Schichtzugehörigkeit der Tatverdächtigen bei den eingestellten Verfahren.
Abb. 75: Schichtzugehörigkeit bei eingestellten Verfahren
Die meisten Tatverdächtigen stammten aus der oberen Unterschicht, 66 %. Danach folgten diejenigen der unteren Mittelschicht mit 15 % und der unteren Unterschicht mit 13 %. Mit jeweils 3% waren die Tatverdächtigen der mittleren Mittelschicht und der Schicht der sozial Verachteten vertreten. Es entstand somit der Eindruck, dass bei der oberen Unterschicht die größte Chance der Einstellung bestand. Dies war jedoch falsch. Der Vergleich Einstellungen mit der Gesamtzahl der jeweiligen Schicht ergab ein ganz anderes Bild. Bei den sozial
Verachteten wurden 12,5 % der Verfahren eingestellt. Danach erfolgte ein konstanter Anstieg der Einstellungsquote. 27,8 % der Verfahren wurden bei den Tatverdächtigen der unteren Unterschicht und 39,4 % bei denen der oberen Unterschicht eingestellt. Bei den
Tatverdächtigen der unteren Mittelschicht betrug die Einstellungsquote 50 %. Es stammte ein Tatverdächtiger aus der mittleren Mittelschicht, auch hier wurde das Verfahren eingestellt.
Es ließ sich somit ein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Einstellung durch die Staatsanwaltschaft in der Art feststellen, dass mit steigender Schicht die Einstellungsquote stieg271.
Bei Berücksichtigung der Art der Einstellung und des Aussageverhaltens des Tatverdächtigen ergab sich ein etwas anderes Bild. Bei der Einstellung nach § 153 StPO waren lediglich Tatverdächtige der unteren Mittelschicht betroffen, die geständig waren und Diebesgut im
271ebenso Blankenburg/ Sessar/ Steffen: Die Schichtverteilung der Kriminalität, KrimJ 1975, S. 36
Abb. 75
Mittlere Mittelschicht 3% (N=1) Untere Mittelschicht
15% (N=6) Sozial verachtet
3% (N=1)
Untere Unterschicht 13% (N=5) Obere Unterschicht
66% (N=26)
Wert von 400 DM erbeutet hatten. Die Einstellungen nach § 154 StPO verteilten sich auf Tatverdächtige der oberen und unteren Mittelschicht, wobei bei mehr als der Hälfte dieser Einstellungen keine Angaben zur Schicht gemacht werden konnten. Bis auf drei Ausnahmen hatten diese Tatverdächtigen unabhängig von der Schicht eines gemeinsam, sie hatten die Tat bestritten oder die Aussage verweigert. Noch deutlicher wurde dies bei der Einstellung nach § 170 II StPO. Von den 50 Einstellungen nach § 170 II StPO waren nur vier geständige
Tatverdächtige betroffen, der Rest hatte unabhängig von der Schicht den Tatvorwurf
bestritten. Da, wie unter 5.3.4.6 dargestellt, die Geständnisbereitschaft mit steigender Schicht abnahm, wirkte sich die Schichtzugehörigkeit nur mittelbar auf die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft aus.
6.4.2.4. Aufenthaltsstatus
Nachfolgend wurde der Aufenthaltsstatus der ausländischen Tatverdächtigen, bei denen die Staatsanwaltschaft einstellte, untersucht.
Die Verteilung zeigt Abbildung 76.
Abb. 76: Aufenthaltsstatus der ausländischen TV bei Einstellungen
Die größte Gruppe bildeten mit 39 % die Tatverdächtigen, bei denen keine Angaben über den Aufenthaltsstatus vorlag. Danach folgten mit 27 % die Inlandsausländer. Mit jeweils 8 %
Abb. 76
waren Reisende und Tatverdächtige mit illegalem Aufenthalt vertreten, gefolgt mit je 5 % von Gastarbeitern, Tatverdächtigen mit sonstigem legalen Grund und Tatverdächtigen, die einen Asylantrag gestellt hatten. 3 % der Tatverdächtigen waren anerkannte Asylanten.
Aussagekräftiger wurden die Zahlen beim Vergleich mit dem Aufenthaltsstatus aller Ausländer272.
So ergab sich bei den Tatverdächtigen mit keinen Angaben zum Aufenthaltsgrund eine Einstellungsquote von 70 %. Bei denen mit illegalen Aufenthalt betrug sie 60 % und bei den Reisenden 50 %. 2/3 der Verfahren der Tatverdächtigen mit sonstigem legalen
Aufenthaltsgrund wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Die niedrigste Einstellungsrate wies mit 15 % die Gruppe der Gastarbeiter auf, gefolgt von den Tatverdächtigen, die einen Asylantrag gestellt hatten, mit 28,6 %. Bei den anerkannten Asylanten wurden 1/3 der Taten eingestellt. Die Gruppe der Inlandsausländer wies eine Einstellungsquote von 34,5 % aus. Es konnte somit festgestellt werden, dass bei den Tatverdächtigen, die nicht in die Gesellschaft eingegliedert waren und über die weniger bekannt war, häufiger eingestellt wurde, während die Gruppe der Gastarbeiter, Asylanten und Inlandsausländer unter der Einstellungsquote aller Tatverdächtiger lag. Beim Vergleich zwischen Gastarbeitern, Inlandsausländern und deutschen Tatverdächtigen ergab sich, dass bei ersteren seltener eingestellt wurde, obwohl meist ähnliche Lebenssituationen vorlagen.
Wie schon bei der Schichtzugehörigkeit festgestellt wurde, beeinflusste auch das Merkmal Aufenthaltsstatus die Einstellungsentscheidung nur mittelbar. Wie unter 5.3.4.8. dargestellt, unterschieden sich die Ausländergruppen in ihrem Aussageverhalten je nach
Aufenthaltsstatus. Somit hatte hier die Gruppe mit der niedrigsten Geständnisbereitschaft die höchste Einstellungsquote.
6.4.2.5. Erwerbstätigkeit
In der Literatur wird immer wieder die Vermutung geäußert, dass Jugendarbeitslosigkeit als ein Selektions- und Interventionskriterium für jugendkriminalrechtliche Interventionen wirkt und folglich arbeitslose Jugendliche einem erhöhten Entdeckungs-, Verfolgungs- und Sanktionsrisiko ausgesetzt sind273. Eine mögliche Ursache für diese Selektion vermutet Albrecht274darin, dass den betroffenen Jugendlichen Arbeitsscheu unterstellt wird, die als eine Gefährdung bei der Prognoseerstellung und als Indikator für Erziehungsbedürftigkeit im
272Vgl. Teil 2, 1.2.2.
273Spieß: Arbeitslosigkeit und Kriminalität; S. 33;
274Albrecht: Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität, S. 69 ff
Sinne des JGG gesehen wird. Breymann275führt die Arbeitslosigkeit sogar unter den
„Verwahrlosungssymptomen“.
In dieser Untersuchung bestätigte sich, dass sich die Erwerbstätigkeit des Tatverdächtigen auf die Einstellungshäufigkeit auswirkte.
Bei den erwerbstätigen Tatverdächtigen betrug die Einstellungsquote 42,6 %. Danach sank sie bei den in Ausbildung stehenden Jugendlichen und Heranwachsenden auf 30,6 % ab. Noch weniger Einstellungen wiesen die arbeitslosen Tatverdächtigen mit einer Quote von 25 % aus.
Bei den Tatverdächtigen, die aus sonstigen Gründen ohne Arbeit waren, war sie mit 14,3 % noch geringer.
Es zeigte sich eine Benachteiligung der arbeitslosen Tatverdächtigen und somit indirekt der Ausländer, da bei diesen der Anteil der Arbeitslosen größer war als bei den Deutschen276.