• Keine Ergebnisse gefunden

Spracherwerb ist die „Aneignung der Fähigkeit, grammatikalisch richtige Sätze zu bilden, sprachli-che Äußerungen zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden“ (EBERLE u.a. 1986, 362).

Linguistische Theorien sind Beschreibungen der Sprache Erwachsener; wenn sie auf den Spracher-werb angewandt werden, geht man von den Kategorien der Erwachsenensprache aus (SZAGUN 1996).

2.2.1 Spracherwerbstheorien

Gegenstand der Spracherwerbstheorien ist der kindliche Erstspracherwerb. Einigkeit herrscht darüber, daß der Verlauf des Spracherwerbs

• eine Systematik zeigt,

• einem zeitlichen Muster folgt und

• mitunter Übergeneralisierungen und Wortneubildungen enthält, d.h. Formen, die nicht aus dem Sprachangebot der Umwelt entnommen worden sein können.

Uneinigkeit herrscht dagegen bei

• der Erklärung des Phänomens der Konstanz und zugleich Variabilität (z.B. Geschwindigkeit, mit der die Phasen durchlaufen werden) und

• der Fragestellung nach dem Beginn bzw. Ende des Spracherwerbs.

„Die Datierungsprobleme mit Anfang und Ende des Spracherwerbs zeigen eines recht deutlich: Je nachdem, was als zum Spracherwerb gehörig betrachtet wird, setzt der Spracherwerb sehr früh ein und ist erst relativ spät beendet... . Was den Spracherwerb schlicht phänomenal betrachtet auszeichnet, hängt also stark davon ab, welches Verständnis von Sprache präferiert wird. Dementsprechend unter-schiedlich sind die Auffassungen über Anfang, Ende und eigentlich relevante Phänomenbereiche des Spracherwerbs.“(KLANN-DELIUS 1993, 5f)

Die Definitionen von Sprache, und damit auch von Spracherwerb, sind hochgradig theorieabhängig.

Die 3 bedeutendsten Spracherwerbstheorien sind

• der Nativismus

• der Kognitivismus

• der Interaktionismus.

2.2.1.1 Nativismus

Beim Nativismus handelt es sich um eine erkenntnistheoretische Position, nach deren Auffassung

„Ab-wicklung und Ent-wicklung psychischer Prozesse auf deren Präexistenz innerhalb angeborener, ererbter Strukturen hinweise“ (DUPUIS/KERKHOFF 1992, 448).

Das Interesse dieser Konzeption ist primär auf die Erklärung des Erwerbs morpho-syntaktischer Regeln der jeweiligen Muttersprache ausgerichtet.

Es wird der formale Aspekt von Sprache hervorgehoben.

Der Spracherwerb erfolgt hier grundsätzlich unabhängig vom Erwerb allgemeiner kognitiver Fähig-keiten: Die menschliche Kognition wird als ein System von Subsystemen betrachtet, die teilweise unabhängig voneinander arbeiten. Das Subsystem Sprache selbst ist intern modular aufgebaut; d.h. das autonome Syntaxmodul, welches seinerseits aus Modulen besteht, arbeitet unabhängig von den für allgemeine kognitive Fähigkeiten zuständigen Modulen. Es ist zunächst auch unabhängig von den Modulen Phonologie, Lexikon und Semantik (KLANN-DELIUS 1993).

Spracherwerb beruht hier auf genetischen Prädispositionen; das genetische Programm wird von den Parametern und Prinzipien der Universalgrammatik bestimmt. Jedes Kind verfügt somit über ein spe-ziell auf Sprache und deren formale Eigenschaften ausgerichtetes genetisches Programm. CHOMSKY (1986) spricht vom Language Acquisition Device.

Die Aufgabe der Umwelt besteht darin, dem Kind das Material zu liefern, das es braucht, um zu ent-decken, welche Strukturoptionen für die es umgebende Sprache relevant sind; d.h. um die Auswahl der in seiner Universalgrammatik vorgegebenen Parameter zu treffen. Hierfür reicht ein minimales Sprachangebot aus.

Lernen, i.S. eines Aufbaus komplexer Fähigkeiten auf der Basis des Einübens und Differenzierens weniger komplexer Fähigkeiten, findet nicht statt. Spracherwerb ist entweder ein Prozeß der Entfal-tung von von Anfang an vorhandenen Kenntnissen über den strukturellen Aufbau von Sprache durch Lexikonerweiterung (z.B. CLAHSEN 1982); oder der Spracherwerb wird verstanden i.S. eines

Reifungsprozesses, also eines Prozesses des Heranreifens von Prinzipien der Universalgrammatik nach einem biologisch vorgegebenen Zeitplan (z.B. FELIX 1984).

Lernen ist in diesem Modell kein Prozeß des Erwerbs sondern primär des Entdeckens und Erkennens.

Den Einstieg in den Spracherwerb vollzieht das Kind, indem es sich die in den Daten vorliegenden syntaktischen Kategorien aus den semantischen Eigenschaften der Daten erschließt. Lexikon und Pragmatik müssen allerdings (im Gegensatz zur syntaktischen Dimension) gelernt werden.

SZAGUN (1996) faßt die wesentlichen Aussagen dieser Konzeption zusammen:

„Demnach sind Kinder mit einem Mechanismus zum Erwerb der Sprache ausgestattet und mit einem angeborenen Wissen über sprachliche Strukturen. ... Kinder benutzen die Inputsprache lediglich, um zu entscheiden, welche der angeborenen Möglichkeiten sprachlicher Strukturen diejenigen sind, die die Sprache, die sie um sich herum hören, benutzt. Kinder lernen nach einem angeborenen biologi-schen Plan sprechen. Individuelle Unterschiede sind unwesentlich.“ (1996, 259)

Kritik am nativistischen Erklärungsansatz bezieht sich auf das Verständnis von Sprache, die These der Modularität und Autonomie der Syntax, die Art der biologischen Argumentation und das

Verständnis von Sprachlernen. Er wird von verschiedenen Autoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt als untauglich für alleingültige Erklärungen des Spracherwerbs gehalten (WIRTH 1990; KLANN-DELIUS 1993; SZAGUN 1996).

2.2.1.2 Kognitivismus

Kognitivistische Ansätze beschäftigen sich vorrangig mit „den Verläufen und Strukturen bewußter Erkenntnis“ (DUPUIS/KERKHOFF 1992, 354).

Die Spracherwerbstheorie formuliert Aussagen zur Entstehung der Repräsentationsfunktion, allgemei-ner syntaktischer Prinzipien (z.B. Rekursivität aus sensomotorischen Handlungsverschachtelungen), zur Entwicklung von Wortbedeutungen im Kontext der Kognitionsentwicklung und zur Entwicklung des kommunikativen Gebrauchs von Sprache (Egozentrismus) im Kontext der Entwicklung sozialer Kognition. In der Tendenz wird hier eine semantische Grundlegung syntaktischer Strukturen inten-diert; es wird nicht nur Syntax, sondern ebenso Semantik und in gewisser Weise auch Pragmatik als Aufgabenbereich des Spracherwerbs untersucht.

Im Kognitivismus wird der repräsentionale, semantische Aspekt von Sprache hervorgehoben.

Die Beziehung zwischen Sprache und Kognition wird verschieden interpretiert: Während PIAGET (1980) den Spracherwerb als einen Teil des ganzheitlichen, auf allen Ebenen gleichförmig progredient sich vollziehenden Gangs der Entwicklung aller kognitiver Fähigkeiten sieht, gibt es in neueren Auf-fassungen auch modulare (KARMILOFF-SMITH 1991) und holistische Deutungen (BATES 1984) innerhalb des Kognitivismus.

Zur Fragestellung genetischer Prädispositionen gibt es ebenfalls unterschiedliche Auffassungen:

BATES (1984) beispielsweise genügt die spezifische Aufgabenstellung einerseits und bestimmte neuro-anatomische Gegebenheiten andererseits; es handelt sich somit beim Spracherwerb um einen aktiven Konstruktionsprozeß, für den sprachspezifische genetische Vorgaben nicht angenommen werden. KARMILOFF-SMITH (1991) dagegen vermutet genetisch prädisponierte Fähigkeiten zur Systembildung. Das Bedürfnis des Kindes, seine kommunikativ ausreichenden primitiven Grammati-ken umzustrukturieren, resultiert aus einer genetisch vorgegebenen Tendenz des Menschen zur inter-nen Systematisierung extern erfolgreichen Handelns.

Der Beginn des Spracherwerbs geht mit der Ausbildung der Repräsentationsfunktion einher, also mit der Einsicht, daß etwas durch etwas anderes dargestellt werden kann. Die Repräsentationsfunktion wiederum entwickelt sich im Zuge der Verinnerlichung der Nachahmungstätigkeit (KLANN-DELIUS 1993).

Die kindliche Entwicklung, getragen von Prozessen der Assimilation und Akkomodation, ist vom (Sprach-)Angebot der Umwelt abhängig. Es genügt ein durchschnittliches Sprachangebot.

Im Sinne von Lernen handelt es sich hier beim Spracherwerb um einen Prozeß der Bildung mentaler sprachspezifischer Systeme im Zusammenhang mit dem Aufbau der Schematisierung und internen Koordination sensomotorischer Erfahrungen. Die Wechselwirkung zwischen den kognitiven Teilsyste-men treibt aus sich heraus die Bildung neuer Systemverbände hervor. Die Entwicklung verläuft in einem kontinuierlichen, stufenförmigen Prozeß des Aufbaus neuer Erkenntnisweisen; Ausgangspunkt sind äußere, materielle Handlungen, Endpunkt sind innere, koordinierte Handlungen. Sprache reflek-tiert auf allen Altersstufen die Besonderheiten des kindlichen Denkens (Darstellungsmittel des Denkens), begründet Denken selbst aber nicht (PIAGET 1980).

Kritik am kognitivistischen Erklärungsansatz richtet sich v.a. gegen das einseitige Fundierungsver-hältnis von Sprache und Denken (WIRTH 1990; KLANN-DELIUS 1993; SZAGUN 1996). Voraus-setzungen zum Spracherwerb sowie sozial-interaktive Wechselprozesse werden zu gering bewertet.

2.2.1.3 Interaktionismus

Interaktionismus ist der „Inbegriff der Abhängigkeit des Erlebens und Verhaltens von der Art und Form der Auseinandersetzung mit sozial relevanten Gegenständen (Personen, Situationen) oder Einstellungen, Meinungen und Wertbezügen“ (FRÖHLICH 1987, 193).

Als Spracherwerbstheorie ist der interaktionistische Ansatz als ein Versuch zu verstehen, den kindlichen Spracherwerb aus interaktiven Prozessen zu erklären. Er ist wissenschaftsgeschichtlich gesehen der jüngste Erklärungsansatz.

Im Interaktionismus wird primär die Pragmatik als Ausgangspunkt des Spracherwerbs gesehen. Aus interaktiven Prozessen, so die These, entwickeln sich sowohl kommunikative Fähigkeiten wie auch semantische Grundfunktionen von Sprache.

Es wird der funktionale, semantisch-pragmatische Aspekt von Sprache hervorgehoben.

Der Spracherwerb ist zumindest in der Einstiegsphase gegenüber kognitiven Prozessen nicht völlig autonom. Sind jedoch die relevanten Grundeinsichten in die Funktion von Sprache erworben, wird auch in diesem Konzept mit der Möglichkeit einer relativ autonomen Entfaltung syntaktischer Fähigkeiten gerechnet (KLANN-DELIUS 1993).

Die genetische Prädisposition spielt hier eine bedeutende Rolle: es werden sowohl sozial-kommuni-kative, kognitive wie auch sprachspezifische Prädispositionen angenommen.

Der Beginn des Spracherwerbs wird nicht erst mit dem ersten Wort datiert, sondern setzt schon sehr viel früher ein:

„Der Spracherwerb beginnt, bevor das Kind seine erste lexiko-grammatische Äußerung von sich gibt.

Er beginnt, wenn Mutter und Kind einen vorhersagbaren Interaktionsrahmen schaffen, welcher als Mikrokosmos für die Kommunikation und die Definition einer gemeinsamen Realität dienen kann.“

(BRUNER 1987, 4)

In vorsprachlichen Interaktionsprozessen werden grundlegende Fähigkeiten zur sprachlichen Kommu-nikation gelegt: es werden Repräsentationen des Anderen und des Selbst gebildet sowie interpersonel-le Beziehungen konstituiert als Voraussetzungen für die Entwicklung von Intersubjektivität, Rezipro-zität und Intentionalität des Verhaltens. Neben der Ausbildung kommunikativer Grundqualifikationen werden auch Kohärenz der Bezugnahme, der situativen Abstimmung der Rede vorsprachlich vorberei-tet. Grundlegende Kategorisierungen von Erfahrungen motivieren die Aneignung auch formal-sprach-licher Ausdrucksmittel. Der beginnende symbolische, sprachliche Dialog verfestigt und differenziert das vorsprachlich Erworbene bzw. Vorhandene; es besteht Kontinuität von vorsprachlicher zu sprach-licher Entwicklung (KLANN-DELIUS 1993; SZAGUN 1996).

Um den Spracherwerbsprozeß überhaupt in Gang zu setzen und zu unterhalten, muß das Sprachange-bot der Umwelt von besonderer Qualität sein: das Kind bedarf einer hinreichend sensiblen, auf seinen Entwicklungsstand und seine –möglichkeiten abgestimmten interaktiven Unterstützung, um überhaupt einen Zugang zu Sprache zu gewinnen. Diese wird in der Regel (i.d.R.) durch die Bezugspersonen mit Hilfe ihrer angeborenen Fähigkeit zur intuitiven elterlichen Didaktik geleistet.

In Bezug auf das Lernen wird hier die Ansicht vertreten, daß aus anfänglich undifferenzierten Fähig-keiten durch den Austausch mit der Umwelt (Interaktion) über die Aktivierung des genetisch Gege-benen neue, differenziertere Fähigkeiten entstehen können. Es handelt sich somit um einen Differen-zierungs- und Integrationsprozeß von Teilfähigkeiten in einem dyadischen System.

Kritik: Beim interaktionistischen Ansatz handelt es sich nicht um eine einheitliche Theorie, sondern eher um ein interdisziplinäres Forschungsprogramm. Die gemeinsamen Kennzeichen sind die Berück-sichtigung verschiedener Elemente und die Konzipierung der Grundbegriffe Sprache, Spracherwerb und genetische Prädisposition. Im Vergleich zu anderen Auffassungen wird hier ein relativ umfassen-des Verständnis von Sprache verfolgt.

Die theoretische Ableitung sprachlicher Strukturen aus vorsprachlichen gemeinsamen Handlungen ist wenig präzise (SZAGUN 1996). Besonders hinsichtlich der Frage des Grammatikerwerbs werden keine eindeutigen Aussagen gemacht: BRUNER (1987) nimmt an, daß das Unterstützungssystem

(Language Acquisition Support System durch Interaktion mit Betreuungspersonen) zusammen mit dem Language Acquisition Device wirksam ist, d.h. daß das Kind über eine spezifizierende besondere Sprachlernfähigkeit verfügt, deren Entfaltung allerdings der sozialen Unterstützung bedarf. Der Spracherwerb wird somit sowohl durch innere Kräfte als auch durch äußere Unterstützung unterhal-ten. BRUNER stellt damit fest, daß der Grammatikerwerb einen Erwerbsprozeß besonderer Art darstellt, der durch soziale Erfahrungen allein nicht erklärt werden kann.

2.2.2 Zusammenfassung/Ausblick

Bei aller Unterschiedlichkeit der Spracherwerbstheorien zeigen die neueren Varianten der Erklärungs-ansätze doch deutliche Tendenzen zur Konvergenz :

Zum einen wird mittlerweile nicht mehr versucht, sämtliche Komponenten von Sprache auf ein und dasselbe Konstitutionsprinzip zurückzuführen; d.h. daß sich der Erklärungsanspruch der jeweiligen Theorie stärker auf eine Komponente von Sprache beschränkt und mit der Gültigkeit anderer Erklä-rungsmöglichkeiten für andere Komponenten von Sprache gerechnet wird.

Zum anderen scheint in der Diskussion um den Einstieg in den Spracherwerb die scharfe Trennung zwischen vorsprachlicher und sprachlicher Entwicklung einer etwas differenzierteren Konzeption von Entwicklung zu weichen. Nicht nur im Interaktionismus und Kognitivismus sondern auch in neueren Auffassungen des Nativismus wird zumindest der Einstieg in die Konstruktion des formal-grammati-schen Regelsystems über kognitive Grundkonzepte, über Form-Funktions-Entsprechungen vermittelt;

sobald dieser Einstieg vollzogen ist, kann das genetische Programm oder die kognitive Konstruktions-bereitschaft des Kindes für Sprache wirksam werden. Inwieweit und in welchem Umfang sich die morpho-syntaktische Komponente gegenüber lexikalischem Lernen und der Differenzierung von kommunikativer Kompetenz dann autonom entwickelt, muß durch entsprechende empirische Analysen noch belegt werden.

So ist in der Spracherwerbsforschung ein Wandel zu verzeichnen hinsichtlich der Diskussion um den

„richtigen Ansatz“. Durch keine dieser 3 Konzeptionen wurden die anderen 2 Auffassungen bisher völlig widerlegt (WIRTH 1990). Es wird nun das Zusammenwirken mehrerer am Spracherwerbs-prozeß beteiligter Faktoren und Komponenten in Betracht gezogen, die sich nicht gegenseitig ausschließen sondern ergänzen. KLANN-DELIUS (1993) bezeichnet es geradezu als unsinnig, „Erbe und Umwelt gegeneinander auszuspielen“ (1993, 65). Zur genaueren Klärung werden weitere, differenzierte empirische Forschungen beitragen.

WIRTH (1990) charakterisiert den gegenwärtigen Erkenntnisstand:

„Der Spracherwerb erfolgt nicht durch Imitation der Erwachsenensprache nach den Prinzipien des klassischen und instrumentellen Konditionierens. Beweis: Kinder verwenden Formen, die sie von Erwachsenen nie gehört haben. Der Spracherwerb erfolgt durch Entfaltung angeborener Sprachfähig-keiten. Die Umwelt hat auslösende Funktion. Spracherwerb ist daher Interaktion zwischen

linguistischen Erfahrungen des Kindes und seiner angeborenen Sprachfähigkeit.“ (1990, 101)