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2.3 D ER FRÜHKINDLICHE S PRACHENTWICKLUNGSVERLAUF

2.3.1 Frühe Dominanzphasen

2.3.1.3 Auditive Organisation

Gegen Ende des 1.Lebensjahres löst die auditive Organisation, die nun eine immer größere Bedeutung gewinnt, die visuelle Dominanz ab.

Die Aufgaben des auditiven Analysators erstrecken sich über die Aufnahme, Wahrnehmung, Differenzierung und Verarbeitung von Schallereignissen (LEONARDT 1998).

„Unter einem Analysator sind die Sinnesorgane als Funktionseinheit von Organen und Zellgruppen zu verstehen. Sie bewirkt die Widerspiegelung der Außenwelt und des inneren Milieus (...) durch eine Zergliederung der zusammengesetzten Gefüge in einzelne Bestandteile (...). Analysatoren bestehen aus einem peripheren Teil (beim Ohr sind das die Ohrmuschel, das Mittelohr und das Innenohr), einem weiterleitenden Teil (Hörnerv) und einem zentralen Teil (Hirnzellen, in denen der Hörnerv endet). Die Großhirnhemisphären bestehen aus einer Ansammlung solcher Analysatoren, die alle miteinander in Verbindung stehen.“ (SCHMIDT 1988, 104)

Zum Leistungsinventar des auditiven Analysators gehören:

1. Hörempfindung (immer undifferenziert)

2. Wahrnehmung (kustisches Signal kann zugeordnet werden) 3. Differenzierung (Unterscheiden, Abgrenzen, Ausgliedern) 4. Erkennung (Zuordnen können ,z.B. von Stimmen)

5. Lokalisation (Fähigkeit, Schall orten zu können) 6. Sinnentnahme (Sinnherauslösung aus einem Signal) 7. Störschallunterdrückung (Konzentration auf Nutzschall)

8. Willkürliche Aufmerksamkeitsausrichtung (z.B. Gesprächsführung)

Durch die Reizaufnahme und –verarbeitung des auditiven Analysators werden im Zentralnerven-system (ZNS) bestimmte Hörmuster entwickelt. Dieser Prozeß führt zur Ausbildung geistiger Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Unterscheiden, Vergleichen, Differenzieren, Verallgemeinern, auf einfacher Stufe auch Abstrahieren und Kompensieren (LINDNER/SCHMIDT 1993; MILZ 1996;

LEONARDT 1998).

„Die Fähigkeit, Töne und Klänge zu hören, zu erkennen, zu differenzieren, diese mit anderen Wahr-nehmungseindrücken intermodal zu verarbeiten, bietet die Voraussetzung, Sprachlaute zu hören und zu identifizieren, d.h. Sprachverständnis zu entwickeln. Ist dies nicht gegeben, reagiert das Kind nicht auf Sprachlaute; es ist nicht in der Lage, aus dem akustischen Eindruck einen Sinneindruck zu entneh-men. Jegliches Bemühen um Aufbau und Anbahnung von Artikulation ist vorerst vergebens. ... Hier steht als Aufgabe, die akustische Aufmerksamkeit, das akustische Differenzierungsvermögen zu verbessern, damit es dem Kind gelingt, Ton- und Klangunterschiede nicht nur wahrnehmen zu können, sondern diese auch differenziert zu erkennen. Erst wenn diese Stufe erreicht ist, kann an der

phonematischen Differenzierungsfähigkeit – Erkennen, Wiedererkennen, Unterscheiden von Phonemen bis zur eigenen Lautproduktion – gearbeitet und so der Einstieg in das Sprachverständnis aufgebaut werden.“ (KIRSCHBACH 1993, 421/432)

Bereits in der 9.Gestationswoche ist beim Föten der Schneckengang des peripheren Hörorgans

ausgebildet (PTOK/PTOK 1996). Ab ca. der 26.Woche beginnt dann das Hören, d.h. die Umwandlung der mechanischen Energie Schall in die elektrische Energie Nervenimpuls.

Während das periphere Hörorgan bei der Geburt schon als weitgehend ausgereift gilt, dauert es bis zur vollen Ausreifung des gesamten Hörsystems 5-10 Jahre, nach anderen Angaben sogar bis zu über 15 Jahren; die deutlichsten funktionellen Entwicklungen finden zwischen der 26.–28.Schwanger-schaftswoche und den ersten Monaten nach der Geburt statt (LEONARDT 1998). Die Hörbahnrei-fung erfolgt schwerpunktmäßig im 1.Lebensjahr (KRUSE 1996; LAMPRECHT-DINNESEN 1996).

Die Schallaufnahme kann bereits bei Neugeborenen durch motorische Reaktionen als auch durch die Registrierung vegetativer Reflexe (Fontanellenpuls) nachgewiesen werden.

Mit Beginn des 2.Lebensmonats bildet sich das Richtungshören (Hinwenden des Kopfes und der Augen in Richtung Schallquelle) als äußeres Merkmal der Verbindungen zwischen dem Hör- und Bewegungsanalysator in der Großhirnrinde heraus.

Zwischen dem 3.-5.Lebensmonat werden Schallquellen mit den Augen gesucht und auch schon Lallmonologe als Reaktion auf Sprache in der Umgebung gebildet (LEONARDT 1998). Im Prozeß der Weiterentwicklung „jener auditiven Gerichtetheit zu auditiven Empfindungen und

Wahrnehmun-gen“ (SCHMIDT 1988a, 43) gelangt das Kind im Verlaufe des gesamten 1.Lebensjahres zu immer differenzierterem Hören.

Das Schreien des Säuglings trägt erst mit dem Ausreifen der zentripetalen Nervenbahnen von der 6.Lebenswoche an emotionale Elemente; vorher handelt es sich lediglich um Atemreflexe

(BECKER/SOVAK 1983).

Etwa am Ende des 2.Lebensmonats beginnt die 1.Lallphase (instinktives Lallen), in welcher (sowohl hörende als auch gehörlose) Kinder Lallmonologe bilden, die noch keinen individuellen Kommuni-kationswert haben. Da die in dieser Zeit hervorgebrachten Laute auch bei Kindern verschiedener Völker gleich sind, werden sie auch als Urlaute bezeichnet (SOVAK 1987). Alle Bewegungen der Sprechorgane, also auch die der Lippen-, Zungen-, Kehlkopf- und Rachenmuskulatur bei der

Nahrungsaufnahme, werden rückkoppelnd im Hirnrindengebiet für Muskeltätigkeit (Propriozeption P) registriert. Von hier werden Erregungen zum motorischen Hirnrindenbereich (M) und von dort zu den artikulierenden Organen geleitet. Diese Bewegungen der Sprechwerkzeuge werden wiederum im Zentrum P registriert, und der Kreislauf beginnt von vorn.

Hierbei handelt es sich um den primären (motorisch-propriozeptiven) Artikulationskreis.

In der Zeit der 2.Lallphase (nachahmendes Lallen) werden die „primitiven Laute“ (BECKER/SO-VAK 1983, 50), die Urlaute, unter dem Einfluß der Nachahmung auf die Laute der Muttersprache reduziert. An diesem Prozeß ist neben dem Gesichtssinn hauptsächlich das Gehör (KUHL/MELT-ZOFF 1995; SENDLMEIER/RÖHR-SENDLMEIER 1997; LEONARDT 1998) beteiligt: Die Hörrei-ze (Laute) gelangen in die Hirnrindenregion des Gehöranalysators (auditiver Bereich A) und können mit den gleichzeitig wahrgenommenen Bewegungen der Sprechwerkzeuge im Bewegungszentrum (P) assoziiert werden. So entsteht der stets gleiche Ablauf vom wahrgenommenen Laut zur Bewegung: A-(P-M), d.h. der sekundäre (motorisch-propriozeptive-auditive) Artikulationskreis, der durch ständige Wiederholung intensiviert wird. Das Kind kann die von ihm selbst produzierten Laute nachahmen (hierzu sind gehörlose Kinder nicht in der Lage), wodurch die individuellen Bewegungs-, Hör- und Artikulationserfahrungen ermöglicht werden (SCHÖNWEILER/PTOK 1995; MAC

NEILAGE 1997).

Die Wahrnehmung der eigenen Lautproduktion wird ergänzt durch die von Lauten aus der Umwelt.

Die auditiv wahrgenommenen Laute (Af; A = auditiv, f = Phonem) und die visuell wahrgenommenen Artikulationsbewegungen zu den Lauten (Of; O = optisch/visuell, f = Phonem) verbinden sich im tertiären Artikulationskreis mit den früher gehörten eigenen Lauten (Abb. 3).

Abb. 3: Artikulationskreise (aus SOVAK 1987, 73).

Als Ergebnis dieser Assoziation von eigenem Bewegungsvollzug, über den taktil-propriozeptiven Funktionskreis (primärer Artikulationskreis) kontrolliert, mit dem Hörklangbild der eigenen Lautpro-duktion (sekundärer Artikulationskreis) sowie dem aus der Umwelt (tertiärer Artikulationskreis) entstehen Sprechbewegungsmuster, die als Engramme im ZNS gespeichert werden (ADLER 1996).

Engramm ist nach SEMON (EBERLE u.a. 1986) die Gedächtnisspur, die als Folge länger dauernder

oder wiederholter Reizung (z.B. Lernen) als bleibende Veränderung des (Nerven-) Gewebes

„eingeschrieben“ wird (BIRBAUMER/SCHMIDT 1990). Es handelt sich also um den im Gehirn gespeicherten Erinnerungsgehalt, um „eingeschliffene Bahnen“ (FRÖHLICH 1987), welche die geistige Reproduktion eines Reiz- oder Erlebniseindrucks zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen.

Der Gesamtbestand der Engramme eines Organismus wurde von SEMON als Mneme bezeichnet.

Mneme ist die Bezeichnung für „Gedächtnis“ als Oberbegriff für sowohl ererbte als auch erworbene Eigenschaften, insbesondere eine laufende Modifikation der Organismen durch Außenreize

(ZETKIN/SCHALDACH 1992).

Etwa im 12.Lebensmonat beginnt das eigentliche Sprechen:

„Nachdem sich das Kind die ersten Wörter und deren sprechmotorische Realisation angeeignet hat, beginnen in der 2.Hälfte des 2.Lebensjahres erste Versuche, die „verstümmelten“ Wörter der phone-tischen Struktur der Muttersprache anzugleichen. Es erfolgt ein Differenzierung der auditiven und kinästhetischen Wahrnehmung, ein Vergleich fremder und eigener akustischer Muster einschließlich der phonetisch (-phonematischen) Angleichung, d.h. das Kind „sucht“, „probiert“ die richtige Artikulationsstelle bzw. die notwendige Artikulationsbewegung.“ (FROMM 1993, 343)

Die Lautbildung kann allerdings erst dann spezialisiert werden, wenn die Atemsteuerung intakt ist, das Zahnen erfolgte und das Kauen fester Speisen möglich wurde (DIETZE 1988), d.h. wenn die Leistun-gen des oralen Organisators in ihrer zeitlichen Abfolge entwickelt wurden, also die primären (vital-oralen) Funktionen hinreichend ausgeführt werden können.

Der Sprechvorgang verläuft zunehmend automatisiert, d.h. die Autoregulation des Sprechens erfolgt immer mehr über die propriozeptiven und kinästhetischen Wahrnehmungssysteme durch die

Oberflächensensibilität (Tast- und Berührungsempfindungen der Sprechorgane) sowie durch die Tiefensensibilität (Lage- und Bewegungsempfindungen in den Sprechorganen). Die akustischen Kanäle werden vom Kind inzwischen vorrangig für seine bewußte Aufmerksamkeit und die Kontrolle der kommunikativen Gesamtsituation benutzt.

Abb.4 zeigt in vereinfachter Form das Bedingungsgefüge des Lauterwerbs; hier wird die gegensei-tige Beeinflussung und Abhängigkeit der expressiven, rezeptiven und kognitiven Ebenen voneinander hervorgehoben (DANNENBAUER 1996, 281).

Abb.5 verdeutlicht die Kontrollkreise der lautsprachlichen Produktion (ADLER 1996, 231).

Abb. 4:Bedingungsgefüge des Lauterwerbs (aus DANNENBAUER 1996, 281).

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Die orale, visuelle und auditive Organisation herrschen in der Entwicklung des Kindes im 1. Lebensjahr in aufeinanderfolgenden Dominanzphasen vorrangig vor und lösen einander ab.

„Verzögerungen innerhalb der Dominanzablösung durch Funktionsausfall oder mangelnde

Koordination zu einer Leistung haben eine unzureichende Leistungsaufnahme in der nachfolgenden Dominanzphase zur Folge, so daß eine asynchrone Entwicklung entsteht.“ (DIETZE 1988, 36)

Abb. 5: Kontrollkreise der lautsprachlichen Produktion (aus ADLER 1996, 231).