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Nach GÜNTHER (1994) ist Sprache „ ... kein homogener, sondern ein höchst komplexer Gegenstand, der in seiner Begriffsbestimmung Schwierigkeiten bereitet. ... Sprache ist ein konventionell systemati-siertes und gesellschaftlich-kulturell entstandenes Symbolsystem, das insbesondere der zwischen-menschlichen Kommunikation dient und sich in verschiedenen Gestaltungsebenen realisiert, eine hohe Abstraktion und eine unendliche Generierungsfähigkeit aufweist“ (1994, 120).

WIRTH (1990, 69) unterscheidet zwischen Sprache als zentralem und peripherem Vorgang:

Als zentraler Vorgang ist Sprache die Fähigkeit des Menschen, seine Gedanken in einer syntaktisch richtigen Weise zum Ausdruck zu bringen (Sprachproduktion), die Sprache der anderen zu verstehen (Sprachverständnis), mit Sprache umzugehen und die Fähigkeit des Lesens und Schreibens zu erlernen.

Als peripherer Vorgang ist Sprache ein System lautsprachlicher Zeichen, das sich zur symbolischen Darstellung von gedanklich erdachten Sinneszusammenhängen eignet.

Sprache bedient sich dabei folgender Modalitäten :

• phonisch impressiv (Sprachverständnis)

• phonisch expressiv (Sprachproduktion)

• graphisch impressiv (Lesen)

• graphisch expressiv (Schreiben).

Sprache beinhaltet somit impressive und expressive Leistungen, welche im Hör-Sprach-Kreis (ARENTSSCHILD/KOCH 1994, 65) veranschaulicht werden (Abb. 1).

Dieser Kreis wird bei jeder lautsprachlichen Kommunikation in allen seinen Abschnitten beansprucht.

Beide Seiten, sowohl die impressive als auch die expressive, sind in einen peripheren und zentralen Abschnitt gegliedert.

Mit dieser Darstellung wird versucht, den sprachlichen Leistungen Hören (Sprachaufnahme), Deko-dieren (Spracherkennen), Verstehen (Sprachverarbeitung), EnkoDeko-dieren (Sprachplanung), Sprechen (Sprachproduktion) anatomische Strukturen zuzuordnen, um auftretende Artikulationsstörungen nach dem Entstehungsort unterteilen und einordnen zu können (unterste Zeile).

Das obere waagerechte schematische Modell (grauer Bereich) zeigt bei den ausgezogen gezeichneten Bahnen und Zentren eine feste Zuordnung zwischen anatomischen Strukturen und bestimmten Funk-tionen; im gestrichelten Bereich besteht dagegen eine funktionelle Plastizität, deren Ausmaß und Umfang bis heute letztlich nicht geklärt sind.

Primäre Störungen des Hör-Sprach-Kreises bedingen immer sekundäre funktionelle Störungen;

vorwärts auf der impressiven Seite zwangsläufiger als rückwärts auf der expressiven.

Abb. 1: Hör- Sprach-Kreis (ARENTSSCHILD/KOCH 1994, 65).

Sprachstörungen verhindern nicht nur den normgerechten Gebrauch von Sprache, sondern schränken diese auch zusätzlich in der Ausübung ihrer Funktionen ein. Nach HALLIDAY (DUPUIS/KERK-HOFF 1992) hat Sprache folgende Funktionen, die:

instrumentale Funktion (Befriedigung materieller Bedürfnisse)

regulative Funktion (Kontrolle des Verhaltens)

interaktionale Funktion (kommunikativ-soziale Funktion)

personale Funktion (Ausdruck der Identität)

heuristische Funktion (Entdecken der Realität; Erkenntniszuwachs)

imaginative Funktion (Fähigkeit, sich abwesende Gegenstände, Personen, Situationen in Form von Vorstellungen zu vergegenwärtigen)

repräsentative Funktion (Inhalte werden mitgeteilt).

Der ganzheitlich ablaufende Vorgang des kindlichen Spracherwerbs wird in verschiedene

Sprachebenen unterteilt, die als aufeinander bezogene Teilbereiche bei der Entwicklung komplexer sprachlicher Strukturen unterschieden werden (GROHNFELDT 1989; WIRTH 1990, u.a.):

• phonetisch-phonematische Ebene (Lautsystem)

• lexikalisch-semantische Ebene (Wortschatz / Bedeutung)

• morphologisch-syntaktische Ebene (Wortgestalt / Satzgestalt)

• kommunikativ-pragmatische Ebene (Sozialität).

2.1.2 Gestörte/behinderte Sprache

Nach BECKER/SOVAK (1983) ist für eine Klassifikation der Sprachstörungen die Unterscheidung von Störungen wichtig, die während und die nach Abschluß der Sprachentwicklung aufgetreten sind, denn unter „ ... dem Einfluß der alterseigentümlichen Entwicklungsetappen tritt eine Sprachstörung spezifisch in Erscheinung und wandelt sich im Prozeß der psychischen Entwicklung“ (1983, 19).

Diesem Gesichtspunkt versuchen auch die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen gerecht zu werden:

• Sprachstörungen

• Sprachentwicklungsstörungen

• Sprachbehinderungen

• Sprachentwicklungsbehinderungen

Eine Sprachstörung ist nach KNURA (1982) „ ... die individuell unterschiedlich verursachte und ausgeprägte Unfähigkeit zum regelhaften, der Altersnorm entsprechenden Gebrauch der Mutterspra-che. Sie kann sich auf eine, mehrere oder alle Strukturebenen und Teilfunktionen des Sprachsystems erstrecken, vorübergehend, langdauernd oder bleibend sein“ (KNURA 1982, 3).

BECKER/SOVAK (1983, 18) weisen neben diesem partiellen oder totalen Unvermögen eines Men-schen, die normale Umgangssprache laut- oder schriftsprachlich nach Inhalt und Form zu gebrauchen, darauf hin, daß die Erkenntnistätigkeit eingeschränkt, der Gedankenaustausch beeinträchtigt oder das ästhetische Empfinden erheblich verletzt werden und die soziale Wirksamkeit eines Sprachgestörten meist gemindert ist.

Unter Sprachentwicklungsstörungen (SES) sind nach ARENTSSCHILD/KOCH (1994, 67) zeitliche (temporelle) und ggf. inhaltliche (strukturelle) Abweichungen vom normalen Spracherwerb zu verste-hen; der Spracherwerb kann ganz ausbleiben (Alalie), nur zeitlich verzögert sein (SEV) oder fehlerhaft eintreten.

GROHNFELDT (1989, 2) spricht von Entwicklungsbeeinträchtigungen, welche sich nicht nur nach ihrer schwerpunktmäßigen Symptomatik auf allen Sprachebenen (phonologisch, morpho-syntaktisch, semantisch, pragmatisch) isoliert oder strukturell auswirken können, sondern häufig auch mit Beein-trächtigungen anderer Entwicklungsbereiche verbunden sind.

Nach KNURA (1977) sind Sprachentwicklungsstörungen i.d.R. multifaktoriell bedingt und häufig eingebettet in Entwicklungsstörungen und -rückstände der Motorik, der Wahrnehmung, der Denktä-tigkeit und des psychosozialen Verhaltens:

„Sie wirken sich behindernd auf die Kommunikationsprozesse des Kindes aus, gefährden ... die Persönlichkeits- und Sozialentwicklung des Kindes, beeinträchtigen seine geistige Entwicklung und führen zu Lernstörungen ...“ (KNURA 1977, 6).

Eine Sprachbehinderung (SB) umfaßt die sprachliche Beeinträchtigung (Sprachstörung) selbst und die durch sie bewirkte oder ihr zugrundeliegende belastete personale und soziale Gesamtsituation des betroffenen Menschen. Sprachbehinderte sind nach KNURA (1982) Menschen, „die beeinträchtigt sind, ihre Muttersprache in Laut und/oder Schrift impressiv und/oder expressiv altersgerecht zu gebrauchen und dadurch in ihrer Persönlichkeits- und Sozialentwicklung sowie in der Ausformung und Ausnutzung ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit behindert werden“ (KNURA 1982, 3).

Eine Sprachentwicklungsbehinderung (SEB) umgreift die sprachliche Entwicklungsbeeinträchti-gung, die sich strukturell auf mehrere Sprachebenen auswirkt und komplex mit Störungen der Moto-rik, Wahrnehmung, Kognition und im psychosozialen Bereich verbunden ist (GROHNFELDT 1989, 65).

Während GROHNFELDT keine ätiologische Zuordnung vornimmt, definiert LEISCHNER (in

ARENTSSCHILD/KOCH 1994, 68) die Sprachentwicklungsbehinderung als Ausdruck frühkindlicher Hirnschäden.

LINCK/HABERKAMP (in ARENTSSCHILD/KOCH 1994, 68) fanden, in Abgrenzung zur Sprachen-twicklungsverzögerung, dabei vorwiegend neurologische Symptome, graduelle Unterschiede in der Sprachentwicklung sowie eine ungünstigere Prognose.

In der Praxis sind diese Termini oft nicht eindeutig voneinander abgrenzbar, da die Übergänge fließend sind, und daher werden sie auch in der Fachliteratur häufig nicht einheitlich verwendet.

Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen

• Sprachstörungen/ -behinderungen,

• Sprachentwicklungsstörungen/ -entwicklungsbehinderungen.

Die Begriffe der erstgenannten Gruppe der Sprachstörungen/ -behinderungen beziehen sich auf den aktuellen gestörten/behinderten Gebrauch von Sprache, der einzelne oder mehrere Sprachebenen betreffen und mit zusätzlichen Beeinträchtigungen in anderen Persönlichkeitsbereichen (Soziabilität, Emotionalität u.a.) verbunden sein kann, dann (meist) als Folge der sprachlichen Auffälligkeit, aber nicht muß.

Unterschiede in der Benutzung der Begriffe Störung/Behinderung werden hinsichtlich der quantita-tiven/qualitativen Auswirkungen auf die Sprachebenen und/oder der Komplexität und Konsequenzen der sprachlichen Beeinträchtigung für den Betroffenen gemacht.

Die Begriffe der zweitgenannten Gruppe der Sprachentwicklungsstörungen/ -entwicklungsbehin-derungen beschreibt dagegen Störungen/Behin-entwicklungsbehin-derungen des Spracherwerbs, also des noch unvoll-ständigen und sich noch in der Entwicklung befindenden Regelsystems, in deren Rahmen i.d.R.

zusätzlich auch andere Persönlichkeitsbereiche tangiert werden. Dies liegt an dem komplizierten, dynamischen Beziehungsgeflecht der einzelnen Bereiche, die sich besonders in der Entwicklung wechselseitig bedingen und beeinflussen.

Eine Abgrenzung der Begriffe Sprachentwicklungsstörung/ -entwicklungsbehinderung kann auch hier nur nach dem Ausmaß und der Komplexität erfolgen; und genau hier liegen auch die Schwierigkeiten einer eindeutigen, konkreten und einheitlich verwendeten Begriffsdefinition:

Die Begriffe Sprach(entwicklungs)störung/ -(entwicklungs)behinderung können kaum objektiv festge-legt und definiert werden, da Auswirkungen und Konsequenzen sprachlicher Auffälligkeiten subjektiv empfunden und (sowohl qualitativ als auch quantitativ) individuell unterschiedlich interpretiert werden.

Daher unterscheidet GÜNTHER (1994) zwischen Sprachstörung als sprachpathologischem Begriff, der den der Sprachentwicklungsstörung miteinschließt, und Sprachbehinderung als

sozialwissenschaftlichem Begriff:

„Sprachstörung (...) ist die Unfähigkeit, die Muttersprache den Regeln gemäß korrekt und der Alters-norm entsprechend eigenständig und ohne fremde Hilfe zu verwenden. Diese Unfähigkeit äußert sich individuell in unterschiedlichen Ursachenbereichen, zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungsgra-den und Erscheinungsformen und kann zeitlich gesehen vorübergehender, langanhaltender oder dau-ernder Art sein. Die Sprachstörung kann während oder nach dem Spracherwerb auftreten und schließt die rezeptiven Verstehensleistungen und produktiven Ausdrucksleistungen auf den verschiedenen Modalitätsstufen mit ein. Die in diesem Sinne definierte Sprachstörung wird zu einer Sprachbehinde-rung (...), wenn durch sie das Verhältnis zur dinglichen Umwelt und die Beziehungsebene des sprach-gestörten Menschen zu seinen Bezugspersonen personal und psychisch belastet wird“ (1994, 120).

Ähnlich unterscheidet BRAUN (1999) in Anlehnung an das Klassifikationsschema der WHO zwischen Sprachschädigung, -störung und -behinderung:

„Eine Sprachschädigung betrifft den organismischen Bereich der Sprache und meint Mängel oder Abnormitäten der organischen, physiologischen und neuropsychologischen Strukturen und Funktionen als Voraussetzungen einer intakten Sprachfähigkeit.

Eine Sprachstörung liegt dann vor, wenn die Fähigkeit zum regelhaften Gebrauch der Muttersprache

schränkung oder Desintegration der sprachlichen Prozesse aufgrund einer Schädigung und betrifft die psychologische bzw. psycholinguistische Ebene der Sprache.

Eine Sprachbehinderung bringt die Komplexität der Störung zum Ausdruck. Sie umfaßt die durch die Schädigung bedingte Einschränkung oder das Fehlen der Sprachfähigkeit und die damit zusam-menhängende, belastete personale und soziale Gesamtsituation. Sie äußert sich im allgemeinen als Hemmung und Verformung der Persönlichkeits- und Sozialentwicklung, speziell als Beeinträchtigung des schulischen Lern-, Leistungs- und Sozialverhaltens. Ihr dominantes Merkmal ist die Kommunika-tionsbehinderung, die die gesamte soziale Ebene beeinträchtigt.“ (1999, 45)

DOBSLAFF (2001) definiert Sprechbehinderungen als übergreifenden Gattungsbegriff, unter den sich die unterschiedlichsten Lautsprachausführungsbehinderungen einordnen lassen.

„Gemeinsam ist all diesen Sprachbehinderungen, daß es sich um ein langandauerndes partielles oder totales Unvermögen handelt, die Oralsprache in all ihren phonetisch-phonologischen Bestandteilen entsprechend dem Alter und der allgemeinen Ausführungs- und Hörgewohnheit zu benutzen. ... Der Ausprägungsgrad der Ausführungsbehinderung und der Grad der funktionellen Beeinträchtigung kann dabei sehr unterschiedlich sein. ... Die Ausführungsbehinderung kann auf recht unterschiedlichen organogenen Schädigungen beruhen, die vor, während oder nach vollzogener Sprachentwicklung entstanden waren. ... In Abhängigkeit von der jeweiligen organogenen Schädigung ergibt sich ein spezielles Symptombild bzw. Symptomprofil, unter Umständen sogar ein Syndrom. Die sich zeigen-den Symptome sind naturgemäß nicht einheitlich.“ (2001, 15 ff)

Wo werden nun die sprachlichen Beeinträchtigungen, die durch (LK)G-Spalten verursacht werden können, eingeordnet?

Da auch hier jeder Beschreibung von evtl. auftretenden (Sprach-)Abweichungen bei Kindern mit Spaltbildungen unterschiedliche Sichtweisen der Autoren zugrunde liegen, werden auch in diesem Zusammenhang unterschiedliche Termini gebraucht. Je nachdem aus welchem Blickwinkel, von welchem Standpunkt aus, mit welcher Normorientierung und in welcher Komplexität diese Abwei-chungen betrachtet werden, resultieren unterschiedliche, relative und meist schon bewertende Benennungsbegriffe. Da jedoch in vorliegender Arbeit vor allem die frühen Entwicklungsphasen im Zentrum stehen, soll erst einmal von Sprachauffälligkeiten die Rede sein (soweit nicht von einzelnen Autoren anders bezeichnet), die sich allerdings zu Sprachstörungen entwickeln und ohne frühzeitige rehabilitationspädagogische Intervention zu Sprachbehinderungen ausweiten können.

Nach der Einordnung in den Hör-Sprach-Kreis handelt es sich bei den Sprachauffälligkeiten bedingt durch Spaltbildungen um Dysglossien.

„Dysglossie ist eine Sammelbezeichnung für Störungen der Aussprache infolge von Schädigungen der peripheren Artikulationsorgane oder/und der an der Artikulation beteiligten peripheren Anteile der Hirnnerven. Da die pathologischen Veränderungen an den peripheren Organen des Sprechvorgangs diagnostisch objektiviert werden können, spricht man auch von peripher-organischen Artikulations-störungen oder von peripher-organisch bedingten phonetischen Störungen.“ (BRAUN 1999, 102)