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Mathematik und Physik in der Ingenieurausbildung

3.3 Rolle der Mathematik in der Physik

In der Physik können auf zwei Arten Erkenntnisse erzielt werden: „(1) the method of experiment and observation, and (2) the method of mathematical reasoning“ (Dirac, 1939, S. 1). Mit dieser Aussage stellt Dirac heraus, dass auch deduktives Vorgehen für den Fortschritt der Physik als Wissenschaft wichtig ist. Die theoretische Physik, neben der Experimentalphysik der zweite Ansatz Physik zu betreiben, nutzt empirische Erkenntnisse aus Experimenten, um diese mit Hilfe mathematischer Verfahren als Naturgesetze zu formulieren und

„mittels Deduktion auf größere Bereiche der Natur anzuwenden und Voraussa-gen zu machen, wobei in der Regel völlig neue Einsichten gewonnen werden“

(Schmutzer, 2005, S. 26). Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Ent-wicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch Einstein, die – zuerst aus Überlegungen zur Elektrodynamik theoretisch entwickelt – erst anschließend experimentell bestätigt wurde. Dies zeigt, dass sich Mathematik und Physik in einer engen wechselseitigen Beziehung befinden (Krey, 2012), welche „ein wichtiger Grund für den Erfolg der Wissenschaft Physik“ (Uhden, 2012, S. 43) ist. Ausdruck dieser engen Verbundenheit ist zudem der Umstand, dass Ma-thematik oft als Sprache der Physik (vgl. Redish, 2005; Nolting, 2003) bzw.

großer Teil dieser Sprache (Sherin, 2001) bezeichnet und betont wird, dass sie wichtige Hilfsmittel für die Untersuchung physikalischer Zusammenhänge liefert (Kircher, Girwidz & Häußler, 2015). Neben dieser

Kommunikationsfunk-tion, die von vielen Autorinnen als zentral angesehen wird (vgl. Wigner, 1960;

Sherin, 2001; Redish, 2005), hat die Verwendung mathematischer Verfahren noch weitere Funktionen in der Physik, welche jedoch nicht von allen Autoren in gleicher Weise berücksichtigt werden. Dazu stellt Krey (2012) fest, „dass eine befriedigende oder konsensfähige Antwort auf die Frage nach der Rolle der Mathematik in der Physik bis heute aussteht“ (S. 39). So sieht beispiels-weise Wigner (1960) die Funktionen mathematischer Verfahren zum einen in ihrer Rolle als Werkzeug: „to evaluate the results of the laws of nature, to ap-ply the conditional statements to the particular conditions which happen to prevail or happen to interest us“ (S. 6). Zum anderen bieten mathematische Konzepte seiner Meinung nach eine fruchtbare Grundlage für die Formulierung von Naturgesetzen: „the concepts of mathematics are not chosen for their con-ceptual simplicity [...] but for their amenability to clever manipulations and to striking, brilliant arguments“ (S. 7). Auch Uhden (2012) beschreibt neben der Kommunikations- und Werkzeugfunktion eine „strukturierende Funktion“

(S. 43) mathematischer Verfahren in der Physik:

Theoretische Herleitungen werden erst durch den deduktiven Cha-rakter der Mathematik ermöglicht, physikalische Gedanken können durch mathematische Analogien strukturiert und angeleitet wer-den. Bei der Abstraktion und Generalisierung physikalischer Zu-sammenhänge ist die Mathematisierung ein unabdingbarer Pro-zess, der Einsichten in neue Strukturen ermöglicht und zu neuen physikalischen Ergebnissen führt. (S. 44)

Insbesondere in der Möglichkeit, abstrakte Zusammenhänge mit Hilfe mathe-matischer Verfahren zugänglich darzustellen, sehen auch andere Autorinnen einen großen Vorteil. Krey (2012) verweist in diesem Zusammenhang auf R. Fi-scher (2006), der die Bedeutung von Mathematik allgemein darin sieht, dass

„sie eine Materialisierung von Abstraktem darstellt, wobei mit Letzterem ‚Din-ge‘ gemeint sind, die den Sinnen nicht direkt zugänglich sind“ (S. 12). Dafür stellt die Mathematik Zeichensysteme (z. B. Ziffern, algebraische Notationen, Funktionsgraphen etc.) zur Verfügung, „mit denen Abstrakta dargestellt und manipuliert werden“ (Krey, 2012, S. 12) können. Die Kombination aus Zeichen-und Regelsystem führt dazu, dass „die mathematische Darstellung physikali-scher Sachverhalte [...] maximal informativ bei einem Minimum an

verwende-ten Zeichen und Symbolen“ (Kircher et al., 2015, S. 122) ist. Für R. Fischer (2006) wird die Materialisierung „besonders mathematisch [...], wenn ein Regel-system zur Manipulation dieser [...] mitgeliefert wird“ (S. 12–13). Dies führt schließlich zu einer kognitiven Entlastung, die Krey (2012) als eine weitere Funktion der Verwendung mathematischer Verfahren in der Physik ansieht.

Es zeigt sich zusammenfassend, dass die oben genannten Funktionen mathe-matischer Verfahren in der Physik auf unterschiedlichen Ebenen grundlegend für die Beschäftigung mit der Wissenschaft Physik sind und sich beide Fachdis-ziplinen in Teilen einer nahezu identischen Vorgehensweise und Symbolik be-dienen. Gleichzeitig existieren Unterschiede; so zeigen Manogue, Browne, Dray und Edwards (2006) auf, dass unterschiedliche Zielsetzungen existieren: „phy-sics is about describing fundamental relationships between physical quantities whereas mathematics is about rigorously pursuing the consequences of sets of basic assumptions“ (S. 345). Für die Beschreibung physikalischer Zusammen-hänge ist die Interpretation von Symbolen und Ergebnissen notwendig. Damit ist das Vorgehen in der Physik nicht alleine die Anwendung bereits gelernter mathematischer Verfahren. Meredith und Marrongelle (2008) beschrieben es wie folgt: „[physics] is a reinterpretation of mathematical conventions in the context of physical principles“ (S. 576). Redish (2005) nimmt ebenfalls Bezug auf die Interpretation von mathematischen Symbolen:

But using math in science (and particularly in physics) is not just doing math. It has a different purpose – representing meaning about physical systems rather than expressing abstract relationships – and it even has a distinct semiotics – the way meaning is put into symbols – from pure mathematics. (S. 1)

Die Herangehensweise in der Physik, Symbole mit einer inhaltlichen Bedeu-tung zu versehen, um damit physikalische Zusammenhänge interpretieren zu können, führt dazu, dass die gemeinsame Symbolik von Physikerinnen und Mathematikerinnen unterschiedlich interpretiert werden kann. Redish (2005) macht dies an folgender Aufgabe und den verschiedenen Herangehensweisen von Physikerinnen und Mathematikerinnen deutlich:

IfA(x, y) = K(x2+y2) K is a constant What is A(r,Θ) =?

Während die Mathematikerin aus der Perspektive ihrer Fachdisziplin zur Lö-sungA(r,Θ) = K(r2+ Θ2)gelangen wird, da rundΘeinzusetzende Variablen darstellen, wird die Physikerin, aufgrund der in der Physik gebräuchlichen in-haltlichen Bedeutung der Symbole, zur Lösung A(r,Θ) = Kr2 gelangen. Aus Sicht der beiden Fachdisziplinen wäre die jeweils andere Lösung nicht rich-tig, da sie grundlegende Konventionen missachten würde. Die Antwort der Mathematikerin würde dem Verständnis von Symbolen in der Physik wider-sprechen, da mitr2 undΘ2 unterschiedliche Einheiten addiert werden würden.

Die Mathematikerin könnte wiederum einwenden, dass bei einem Wechsel der Funktion auch deren Name geändert werden müsste (z. B. A(x, y) = B(r,Θ), Redish, 2005). Diese Lösung würde jedoch der physikalischen Vorgehensweise, Symbolen eine Bedeutung zuzuschreiben, zuwiderlaufen (B ist in der Physik die übliche Bezeichnung für das Magnetfeld). Dieses kurze Beispiel zeigt be-reits welche Differenzen zwischen den beiden Fachdisziplinen auftreten können, obwohl die gleiche Symbolik genutzt wird.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen sich nicht nur auf der Ebe-ne der einzelEbe-nen Symbole, sondern auch auf der EbeEbe-ne der Gleichungen: diese dienen in der Physik vor allem der Darstellung physikalischer Zusammenhänge (Manogue et al., 2006) und sind nicht nur eine Berechnungsmethode:

It is not just a way to calculate a result. It is a way to generate a whole ensemble of results: not just the one you are currently calculating, but all possible situations with the same physics but different values for the parameters. (Redish, 2005, S. 4)

Hier wird deutlich, dass Gleichungen in der Physik stets im Zusammenhang mit dem physikalischen System, aus dem sie entwickelt wurden, interpretiert werden müssen. Dieser Prozess erfolgt im Schritt der Modellierung von realen physikalischen Systemen hin zu beispielsweise mathematischen Beschreibun-gen. Das Denken in und die Arbeit mit solchen Modellen stellt eine entschei-dende Tätigkeit von Physikerinnen dar (Mikelskis-Seifert, Thiele & Wüscher, 2005) und ist „ein wesentliches Merkmal physikalischer Erkenntnis“ (Uhden, 2012, S. 48). Symbolische Modelle, zu denen auch mathematische zählen, bilden

„die wichtigste Art der Darstellung von theoretischen Modellen (im weiteren Sinne)“ (Kircher et al., 2015, S. 806). Die wichtige Rolle der Mathematik beim Modellieren wird in schematischen Darstellungen des Modellierungskreislaufs

deutlich. Uhden (2012) schlägt hier eine Variante vor (siehe Abbildung 3.1), welche im Gegensatz zu anderen gängigen Arbeiten (vgl. Blum & Leiß, 2007;

Redish, 2005) keine Trennung zwischen mathematischem und physikalischem Modell vornimmt. Vielmehr sind sowohl Pfade der Mathematisierung (a) als auch der Interpretation (b) vorgesehen, die jeweils strukturelle Fähigkeiten darstellen. Zudem existieren Pfade zwischen dem Modell und der Mathematik, die rein technische Operationen (c) abbilden. Uhden (2012) grenzt strukturelle Fähigkeiten gegenüber technischen Fähigkeiten insofern ab, als technische Fä-higkeiten „sich [...] auf rein mathematische Manipulationen [beziehen], während die strukturellen Fähigkeiten das Übersetzen zwischen mathematischen Struk-turen und physikalischer Bedeutung beinhalten“ (S. 52). Diese Unterscheidung greift zwei der oben genannten Funktionen von mathematischen Verfahren in der Physik auf, nämlich „mathematische Verfahren als Werkzeuge“ (Pfad c) und „mathematische Verfahren als Mittel der Strukturierung“ (Pfade a und b). Zusätzlich wird im Modell die Notwendigkeit der Interpretation mathema-tischer Ausdrücke aufgegriffen, die Manogue et al. (2006) betonen: „rightly, interpretation is the realm of science“ (S. 345). Die „restliche Welt“ wird durch die Pfade der Vereinfachung/Idealisierung (d) und Validierung (e) mit dem Modell verbunden.

Abbildung 3.1: Modellierungskreislauf basierend auf physikalischem Mathema-tisierungsmodell nach Uhden (2012, S. 62).

3.4 Kompetenzerwartungen in Veranstaltungen