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Mathematik und Physik in der Ingenieurausbildung

3.1 Transitionen im Bildungsbereich mit Fokus auf der Mathematik

3.1.3 Mathematik in Schule und Hochschule

Zwischen der Schul- und Hochschulmathematik zeigen sich deutliche Diskre-panzen, die sich durch die „veränderte Sicht auf die Disziplin Mathematik so-wie durch eine neue Lernkultur“ (Reichersdorfer, Ufer, Lindmeier & Reiss, 2014, S. 38) erklären lassen. Als hauptsächliche Ursache für diese wird oft die unterschiedliche Denkweise gesehen. So fanden Grünwald, Kossow, Sauerbier und Klymchuk (2004) in einer Befragung von 63 Hochschuldozierenden aus 24 Ländern heraus, dass das „höhere Denkniveau in der Hochschulmathematik“

(Grünwald et al., 2004, S. 285) von 72% der Befragten als Hauptgrund für die Unterschiede zwischen Schul- und Hochschulmathematik angesehen wird.

Dieser liegt dabei weit vor anderen, wie zum Beispiel „Die Art und Weise des Bestehens der Prüfung an der Schule (37%)“ oder den „Verschiedene[n] We-ge[n] des Lehrens und des Lernens (30%)“ (Grünwald et al., 2004, S. 286–287).

Differenzierter unterscheidet Rach (2014) den Lerngegenstand Mathematik in der Schule und an der Hochschule mit Hilfe verschiedener Charakteristika:

Ziele der Mathematik, mathematische Denkprozesse, Begriffsbildung und Be-weisen. Während die ersten drei Charakteristika auch für die Mathematik-ausbildung im Ingenieurstudium von Bedeutung sind, ist dies beim Beweisen weniger gegeben: „mathematics lectures for engineering students concentrate less on abstract concepts and proofs, and more on calculations and computati-ons“ (Griese, 2016, S. 212). Aus diesem Grund werden die drei Charakteristika in Anlehnung an Rach (2014) hier kurz im Hinblick auf das Ingenieurstudium wiedergegeben:

Der Kontrast zwischen den Zielen der Mathematik in Schule und Hochschule wird bereits durch die grundlegend andere Ausrichtung der beiden Institutio-nen gesetzt. Das Schulfach Mathematik wird unter Berücksichtigung der drei Grunderfahrungen nach H. Winter (1995) unterrichtet (vgl. Kultusminister-konferenz, 2003) und liefert einen Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule, in dem das Ziel der Allgemeinbildung im Vordergrund steht (Blömeke, 2016). Da-mit übereinstimmend lautet die Definition von Mathematical literacy, welche im Rahmen der PISA-Erhebungen genutzt wird:

Mathematical literacy is an individual’s capacity to identify and understand the role that mathematics plays in the world, to make well-founded judgements and to use and engage with mathematics

in ways that meet the needs of that individual’s life as a construc-tive, concerned and reflective citizen. (OECD, 2003, S. 24)

Eine zentrale Zielsetzung des Mathematikunterrichts liegt somit in der Befähi-gung, Mathematik im Alltag zu nutzen (vgl. auch Maaß, 2006). Dagegen dient die Hochschulmathematik dem Kennenlernen der Mathematik als Wissenschaft und der „Vermittlung von spezifischen Begrifflichkeiten, Theorien und Arbeits-weisen“ (Reichersdorfer et al., 2014, S. 38), welche für das jeweilige Studienfach notwendig sind (Alpers, 2016). Besonders im Ingenieurstudium dient die Ma-thematikausbildung nicht der Allgemeinbildung, sondern der Bewältigung von Anwendungsproblemen und der Befähigung zum „Aufstellen und Arbeiten in mathematischen Modellen[, die] wesentlicher Bestandteil zahlreicher Anwen-dungsfächer des Ingenieurstudiums“ (Alpers, 2016, S. 651) sind.

Die mathematischen Denkprozesse unterscheidet Rach (2014) in Anlehnung an Tall (2008) in conceptual-embodied world bzw. proceptual-symbolic world für den Schulkontext sowie in axiomatic-formal world für den Hochschulkon-text. Axiomatik und Formalisierung, die seit Hilbert die Hochschulmathema-tik charakterisieren, sind im schulischen Kontext nur von geringer Bedeutung (A. Fischer et al., 2009). Während die ersten beiden Welten nach Tall (2008) ihren Ursprung in der realen Welt haben, kennzeichnen formale Definitionen und Beweise den Hochschulbereich (Tall, 2008). Reichersdorfer et al. (2014) sprechen in Anlehnung an Heintz (2000) im schulischen Bereich von einer in-haltlichen Axiomatik, in welcher Axiome „Eigenschaften von bekannten Be-griffen [sind], die allgemein als korrekt angesehen werden“ (S. 38–39) bzw. im Hochschulbereich von einer formalen Axiomatik, in der „Begriffe vollständig durch die in Axiomen festgelegten Eigenschaften bestimmt“ (S. 39) sind. Zu-dem orientiert sich das Mathematiklernen in der Schule nicht an einer formalen Axiomatik und dem deduktiven Aufbau, sondern vielmehr an pädagogisch-psychologischen Lernvoraussetzungen (Freudenthal, 1979).

Das dritte von Rach (2014) beschriebene und für die Mathematikausbildung im Ingenieurstudium wichtige Charakteristikum stellt die unterschiedliche Be-griffsentwicklung in Schule und Hochschule dar. In der Schule dominiert „die ontologische Bindung an die Realität [...]. Damit geht die Schulmathematik kaum über das begriffliche Niveau und den Wissensstand des 19. Jahrhunderts hinaus“ (Hefendehl-Hebeker, 2016, S. 16). An der Hochschule werden dagegen

moderne mathematische Theorien untersucht, „die Phänomene der mentalen Welt, dargestellt als abstrakte Mengen mit spezifischen Struktureigenschaften, organisieren“ (Hefendehl-Hebeker, 2016, S. 16). Rach (2014) verweist in die-sen Zusammenhang auf die von Tall und Vinner (1981) eingeführten Konzepte concept image und concept definition.

Das concept image stellt die cognitive structure zu einem bestimmten mathe-matischen Konzept dar, die sich bei jeder Person individuell entwickelt. Die cognitive structure besteht aus den mental pictures, den mit dem Konzept verknüpften Eigenschaften und Prozessen und den individuellen Erfahrungen (Tall & Vinner, 1981; Vinner, 1983). Die mental pictures werden dabei wie folgt verstanden: „P’s [the person] mental picture of C [the concept] is the set of all pictures that have ever been associated with C in P’s mind“ (Vinner, 1983, S. 293), wobei die pictures jegliche visuelle Repräsentation beinhalten.

Dieconcept definition beschreibt Vinner (1983) folgendermaßen: „By ‘concept definition’ we mean here a verbal definition that accurately explains the con-cept in a non-circular way“ (S. 293) dar. Beide Konzepte sind keine fixen Struk-turen, sondern können sich über die Zeit ändern. Während das concept image bereits aufgrund seiner Beschaffenheit – die Erfahrungen der jeweiligen Person mit dem Konzept bilden einen Teil desconcept image – einer zeitlichen Verän-derung unterliegt, ist dies auch bei derconcept definition möglich. Diese kann sich zu einer personal concept definition entwickeln: „In this way a personal concept definition can differ from aformal concept definition, the latter being a concept definition which is accepted by the mathematical community“ (Tall

& Vinner, 1981, S. 152). In dieser individualisierten Form stellt die personal concept definition einen Teil desconcept image dar (Tall & Vinner, 1981). Die Ausbildung des concept image wird in besonderer Weise auch durch die Leh-renden beeinflusst (Vinner, 1983; Bingolbali & Monaghan, 2008). Bingolbali und Monaghan (2008) konnten beispielsweise zeigen, dass Maschinenbaustu-dierende bei einem Test zum Thema Ableitung den Änderungsraten-Aspekt gegenüber dem Tangenten-Aspekt für Erklärungen bevorzugten bzw. zur Defi-nition des Begriffs Ableitung nutzen. Der Tangenten-Aspekt wiederum wurde von Mathematikstudierenden favorisiert.

The results to all six questions show a clear trend, that students’

concept images of the derivative changed as they progressed from

entry to the end of the first year: ME [Mechanical Engineering] stu-dents’ concept images of the derivative developed in the direction of rate change orientations and M [Mathematics] students’ concept images developed in the direction of tangent orientations. (S. 30)

Ebenso zeigten die beiden Gruppen bei denjenigen Aufgaben bessere Leistun-gen, in denen der jeweilige Aspekt eher betont wurde.

In der Phase der Transition von der Schule zur Hochschule stellen die Interak-tionen zwischen concept definition und concept image bei einer Vielzahl von mathematischen Konzepten für die Studierenden eine besondere Herausforde-rung dar.Concept images von Studierenden sind aus der Schulzeit an Beispiele und Prototypen gebunden. Aus dieser Phase heraus sind die Studierenden es nicht gewohnt, dass Definitionen eine hohe Bedeutung haben und werden an der Hochschule mit den dazugehörigen formalen concept definitions – mögli-cherweise zum ersten Mal – konfrontiert (A. Fischer et al., 2009).

Die zuvor berichteten Unterschiede beziehen sich auf kognitive und inhaltliche Anforderungen, in denen sich die Schulmathematik von der Mathematik an der Hochschule unterscheidet. A. Fischer und Wagner (2009) weisen darauf hin, dass affektiv-motivationale Charakteristika wie Motivation, Selbstregula-tion und Selbstkonzept ebenfalls bedeutend sind (vgl. auch Griese, 2016).

Zudem wird die Entwicklung von Kompetenzstrukturmodellen gefordert, wel-che die Inhalte der Sekundarstufe 2 und des ersten Studienjahres miteinander verbinden. Tests, welche auf diesen Modellen basieren, könnten dazu beitragen,

„die wesentlichen Unterschiede in den Kompetenzanforderungen beim Mathe-matiklernen in der Schule und an der Hochschule [zu] identifizier[en] (A. Fischer

& Wagner, 2009, S. 266) und das Verständnis der Übergangsproblematik för-dern.

Dieser Abschnitt macht deutlich, dass zusätzlich zu den allgemeinen Schwie-rigkeiten bei Transitionen im Bildungssystem die unterschiedlichen Anforde-rungen an das Mathematiklernen in der Schule und an der Hochschule den Lernenden den Wechsel erschweren. Für ein besseres Verständnis der spezi-fischen Situation zu Beginn des Ingenieurstudiums wird die Entwicklung der Konzepte und Inhalte in der Mathematikausbildung von Ingenieuren im nächs-ten Abschnitt detaillierter dargestellt.