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Programm zur Erforschung Sibiriens 25. Juni 120

Frühjahr 1716 – 11. Januar 1718

7 Programm zur Erforschung Sibiriens 25. Juni 120

Nachdem es Messerschmidt gelungen war, eine Struge ausrüsten zu lassen, auf der sich die Expeditionsgruppe auf den Flüssen Tobol und Iset’ voranbewegen sollte, nachdem ihm für diese Flussreise zwölf Ruderer und zwei Steuermänner bewilligt worden waren, nachdem ihm ferner zahlreiche der in dem „Memorial“ vom 22. März290 aufgeführten

„Stücke“ zur Verfügung gestellt worden waren, nachdem schließlich der Gouverneur am 15. Juni eine Anweisung zum Fahren mit von Station zu Station auszuwechselnden Pferden, eine „Podoroschna“,291 ausgefertigt und der Forschungsreisende am 16. Juni als Musterungsarzt noch einmal sechs Rekruten„anwärter“ untersucht und sie alle als

„elende und untüchtig“ befunden hatte, nachdem er am 20. Juni einem „abgedanckten Soldaten“ attestiert hatte, „mit fallender Seüchen seit 10. Jahren her starck behaftet“ zu sein,292 gab es keine äußeren Umstände mehr, die Messerschmidt daran hätten hindern können, sich nunmehr unverzüglich auf den Weg zu machen. Schließlich war ihm ja im höchsten Maße daran gelegen, den kurzen sibirischen Sommer, der schon längst begon-nen hatte, zu Forschungszwecken auszunutzen. Dennoch wurde der Aufbruch der Reise-gruppe noch einmal um einige Tage hinausgezögert. Der Grund hierfür lag darin, dass sich Messerschmidt verpflichtet fühlte, seinem St. Petersburger Vorgesetzten über die von ihm während des Aufenthalts in Tobol’sk geleistete wissenschaftliche Arbeit Rechen-schaft zu erstatten und Blumentrost ein Forschungsprogramm vorzulegen, das er von nun an zu verwirklichen gedachte.

Wir erinnern uns daran, dass die Vorbereitung der Expedition auf zwei Gebieten ge-leistet werden musste, auf organisatorischem und auf konzeptionellem Gebiet. Es ist nun-mehr an der Zeit, dass wir uns der konzeptionellen Vorbereitungstätigkeit zuwenden. Das geschieht am besten in der Weise, dass wir uns den iv. Rapport samt Beilagen anschauen, den Messerschmidt am 25. Juni, einen Tag vor dem Aufbruch zu seiner ersten Expedition, nach St. Petersburg abgeschickt hat.293 Mit der Ausarbeitung dieses schließlich elf Seiten

290 № 59.

291 № 79.

292 № 81.

293 № 83.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 114

langen Rapports hatte er bereits am 26. Dezember 1719 begonnen, also unmittelbar nach der Ankunft in Tobol’sk.

Wenn wir uns noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, mit wie vielen Schwierig-keiten sich Messerschmidt die ganze Zeit seines Aufenthalts in Tobol’sk über hatte aus-einandersetzen müssen und wie stark ihn die Zwangsverpflichtung als Musterungsarzt beansprucht hatte, müssen wir uns beinahe darüber wundern, dass er „daneben“ noch Zeit für wissenschaftliche Arbeit gefunden hat. Tatsächlich aber können wir uns den Danziger Forscher, von dessen Enthusiasmus für wissenschaftliche Tätigkeit wir uns bereits haben überzeugen können, nicht als jemanden vorstellen, der sich monatelang damit begnügt hätte, sich ausschließlich mit organisatorischen Problemen herumzuschlagen.

Messerschmidt schreibt an Blumentrost, dieser werde „auß beÿgelegten v.i. Speci-minibus zu ersehen geneigt geruhen wie die Zeit über meines Hieseÿns emploiret, auch künfftig die gantze Reise hindurch meine observationes ordentlich wo anders etwaß nütz-liches zu effectuiren stehet, zu führen gesonnen gewesen. Und zwar waß die dreÿ ersteren betrifft, so habe geglaubet, daß selbige zur Natur„Historie überhaupt contribuiren; die dreÿ folgende hergegen, diejenige Sachen unter sich begreiffen, so zum ornament und Auffnehmen des Musæi, unter dem Nahmen curieuser raritäten in meinen Ouckassen möchten seÿn verstanden, und zu examiniren beordert worden. Beÿdes wird hoffentlich in diesem regard Ew. HochEdelGebohrnen Genehmhaltung finden“.294

Nach dieser allgemein formulierten Einleitung geht Messerschmidt ins Detail: „Et-waß specieller aber von jedem ins besondere zu handeln, so wird vermuthlich eines der nöthigsten dinge seÿn, einen accuraten plan, oder Mappe des landes zu haben, worin zugleich die Elevationes oder latitudines der vornehmsten Örter, Declinationes magne-tis, loci natales rerum naturalium, und waß sonst curieuses darinnen möchte anzutreffen seÿn, distinct, und verständlich könte angewiesen werden“.295 Es geht also an erster Stelle darum, eine Landkarte zu erstellen, die Orientierung darüber bieten soll, „wie ein District für dem andern nach der Güte seines Bodens und sonst in sich begriffenen Merckwür-digkeiten, beÿ meinen so menagirlich alß möglich zu führenden Reisen jedes=mahl zu præferiren seÿn möchte“.

Dann kommt Messerschmidt darauf zu sprechen, in welcher Weise die Beobachtun-gen auf dem Gebiet der „Natur-Historie“ am besten festgehalten werden könnten:

Da weiters auch in der Natur„Historie unterschiedene dinge an Pflantzen, Thieren, Monstris u. d. gl. fürzufallen pflegen; so mit bloßen worten nicht allemahl deütlich genug beschrieben, in deserten aber und abgelegenen Örtern, beÿ ermangelung der Nöthigen reqvisiten nicht in naturâ conserviret werden können; würde meines wenigen Erachtens nicht undienlich seÿn, wenn jene Unvollkommenheiten zu er-setzen die Annotationes durch geschickte Riße oder Copien geführet würden:

wo-294 Relationes-2, S. 103v.

295 Relationes-2, S. 104r.

7 Programm zur Erforschung Sibiriens 115 beÿ doch aber allezeit andere gemeinere dinge durch eine kurtze Registration, wie in beÿkom̅ender Sylloge derer umb Tobolski bißhero wahrgenom̅enen pflantzen, zum versuch fürgestellet, könten verfaßet werden.296

Messerschmidt schwebt also eine Art kombinatorischen Verfahrens vor: Von einzelnen Pflanzen, Tieren, „Monstern“ u. a. sollen Zeichnungen angefertigt werden, weil sie „mit bloßen worten nicht allemahl deütlich genug beschrieben“ und auch „nicht in naturâ con-serviret werden können“. Da jedoch dieses Vorgehen angesichts der großen Zahl von zu erwartenden Naturgegenständen keinesfalls durchgehend angewendet werden kann, muss es ergänzt und vervollständigt werden „durch eine kurtze Registration“ „gemeinerer dinge“ in Form von Tabellen, Verzeichnissen und dergleichen. Wie sich Messerschmidt eine solche „Registration“ vorstellt, soll dem Empfänger des Rapports am Beispiel einer

„Sylloge“ derjenigen Pflanzen verdeutlicht werden, die der Forschungsreisende bisher

„umb Tobolski“ aufgefunden hat.

Drittens schließlich kommt Messerschmidt zu sprechen auf die „Natur„Wißenschafft und Physicalischen Observationen“ und kündigt seinem Vorgesetzten an, dieser werde hierzu

künfftig zu erwarten haben, wie die Witterung eines jeden Climatis woselbst mich successivè möchte zu befinden haben, beschaffen, und zu waß epidemischen kranck heiten etc. dieser oder jener Ort für anderen inclinire: Da denn vielleicht diese Observationes so fürerst nur zum versuch auffgesetzet viel accurater und nützlicher könten angestellet werden, daferne auff Dero Hochgeneigte veranstal-tung noch ein paar gläserne tubulos zur Hand haben könte, welche alßdenn nach der Neueren Pariser methode des Hrn. von Amontons zu aptiren würde bemühet seÿn.297

Werfen wir jetzt einen Blick auf die ersten drei „Specimina“, die Messerschmidt seinem Rapport beigefügt hat und von denen er sagt, er „habe geglaubet, daß selbige zur Natur-Historie überhaupt contribuiren“. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indessen, dass nur eines, das zweite Specimen der „Natur-Historie“ in Messerschmidts Verständnis zuzu-rechnen ist. Das erste Specimen zählt zu den „Physicalischen Observationen“, das zweite ist ein Beitrag zur Verwirklichung von Messerschmidts Absicht, „einen accuraten plan, oder Mappe des Landes zu haben“. – Betrachten wir diese drei „Specimina“ etwas näher.

Das erste Specimen ist ein

Specimen Geographicum, bestehend in zweÿen Land=Charten, darinnen die route von Moscow in Siberien bezeichnet, und dan die Eigentliche Situation der

Siberi-296 Relationes-2, S. 104r.

297 Relationes-2, S. 104r-104v.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 116

schen lande nebst der Elevatione poli der vornehmsten Städte; wie nicht weniger derjenigen Örter und Stellen, woselbst laut genauem bericht ein und anderes zur Natur=Historie gehörige Sachen zu finden; auch künfftig weitere Reisen anzu-stellen seÿn möchten, mit möglichstem fleiß angedeütet worden.298

Mit diesem Specimen verwirklicht Messerschmidt also seine Einschätzung dessen, was er, wie oben gezeigt, als „eines der nöthigsten dinge“ im Hinblick auf die Expeditions-planung erachtet.

Das zweite Specimen ist ein

Specimen Historiæ Naturalis bestehend in kurtzer annotation oder Catalogo der bißhero in Reüßland und Siberien wahrgenom̅enen kräuter und pflantzen; nebst einigen Model=Rißen sowol zur Illustration der Botanique alß auch Regni anima-lis; wobeÿ einige angesamlete Papilions zur Erläuterung der Historiæ Insectorum;

und denn letztens andere zum Regno minerali gehörige kleinigkeiten, laut eigener Specification à part eingelegt, ergehen.299

Der Hauptbestandteil ist – getreu dem Messerschmidt erteilten Forschungsauftrag – eine

„Plantarum circa Tobolskiam nascentium, & qvarundam aliarum in itinere per Russiam observatarum SYLLOGE“.300

Da Messerschmidt, wie wir gesehen haben, davon überzeugt ist, dass „in der Na-tur„Historie unterschiedene dinge an Pflantzen, Thieren, Monstris u. d. gl.“ „mit bloßen worten nicht allemahl deütlich genug geschrieben, in deserten aber und abgelegenen Ör-tern, beÿ ermangelung der nöthigen reqvisiten nicht in naturȃ conserviret werden kön-nen“, weshalb es „nicht undienlich seÿn“ würde, „wenn jene Unvollkommenheiten zu ersetzen die Annotationes durch geschickte Riße oder Copien geführet würden“, hat er seine plantarum sylloge um „Risse“ mehrerer Pflanzen ergänzt, von denen er eine hier übersendet. Es handelt sich um die farbige Zeichnung des „Calceolus Sibiricus minor, flore unico albo, maculis purpureis notato; Noster“ mit Erläuterungen der Bestandteile:

„A.a. Petala qvatuor æqvalia plana, crucis instar disposita; B.b. Petalum utriculare seu Sacculus turgescens. C.c. Petalum bifidum ad meditallium floris. D.d. Utriculus seminalis transversim sectus. E.e. Idem Utriculus seminalis, perpendiculariter sectus; T.f.f. Radix fibrosa“.301 Der Hinweis „Tournefortii Speciebus addendus“ weist darauf hin, dass sich Messerschmidt bei der Beschreibung und Klassifizierung des Calceolus Sibiricus minor an den „Institutiones rei herbariæ“ des Botanikers und Forschungsreisenden Joseph Pit-ton de Tournefort (1656-1708) orientiert hat. Tournefort benutzte die Blüte als Grundlage

298 Relationes-1, S. 32r-37r.

299 Relationes-1, S. 26r.

300 Relationes-1, S. 27r-31r.

301 Relationes-1, S. 44r.

7 Programm zur Erforschung Sibiriens 117 für eine Unterteilung der Pflanzen, auf welchem Wege er zur Aufstellung von 22 Klassen gelangte. Bei ihm findet sich der Calceolus Marianus in Sektion III der elften Klasse des dritten Genus.302 Messerschmidt hat die drei Bände von Tourneforts „Institutiones“ in seiner Reisebibliothek mit sich geführt, wie aus deren Bestandsverzeichnis hervorgeht.303 Der „Calceolus Sibiricus minor“ fehlt hier, weshalb die fragliche Klasse um die von Mes-serschmidt entdeckte Species zu ergänzen ist, wie dies die Formulierungen „Noster“ und

„Tournefortii Speciebus addendus“ ja auch besagen. Angefertigt hat die Zeichnung in Tobol’sk der schwedische kriegsgefangene Hauptmann Mattern, den, wie im 6. Kapitel gezeigt worden ist, Messerschmidt in seine Expeditionsgruppe aufnehmen wollte: „De-lin. ad Vivum Mattern. Tobolskoё“.

Das dritte Specimen ist gleichzeitig das umfangreichste; es umfasst 48 Seiten, und daher versteht es sich, dass wir uns von ihm hier nur eine annähernde Vorstellung machen können. Worum es sich handelt, besagt das Titelblatt: „EPHEMERİDES BAROSCOPI-CÆ oder Tägliche Verzeichnüß der Witterung auff der Nördlichen Breite von 58. Gr. in Tobolskœ der Haupt Stadt=Siberiens seit d. 1. Februarii 1720. observiret“.304 Diese Auf-zeichnungen hat Messerschmidt Tag um Tag bis Mitternacht des 25. Juni 1720 geführt, d. h. bis zum letzten Tag seines Aufenthalts in Tobol’sk.

Auf das Titelblatt folgt auf S. 2r eine kurze Darlegung „De Aëris mutationibus et tempestatum per orbem terrarum plurimum variantium historia“. Auf dem oberen Teil von S. 2v findet sich eine „Erklärung des Profil-Rißes des Barometri“, auf dem unteren Teil eine „Erklärung der Planta oder Grund-Rißes zum mittlern theile des Vasculi BB“.

Diese beiden Erklärungen beziehen sich auf eine aus zwei Teilen bestehende, sorgfältig ausgeführte Zeichnung des von Messerschmidt bei seinen Wetterbeobachtungen verwen-deten Barometers.305 Diese Zeichnung findet sich auf den Seiten 3r und 4r. Unterhalb des zweiten Teils steht geschrieben: „Dan. Gottl. Messerschmidt invenit & delin. Tobolskii M. Majo A. R. S. M.DCC.XX.“ Messerschmidt hat also sowohl das Instrument wie auch dessen Zeichnung selbst angefertigt. Buchstabensymbole am zweiten Teil der Zeichnung verweisen auf die beiden erwähnten vorangehenden Erklärungen. Auf die eigentliche Ta-belle voraus weist auf den Seiten 5r und 5v eine „Erklärung einiger Wörter, derer mich bei den Barometrischen Ephemeriden bedienet“. Hier führt Messerschmidt zehn Termini auf, mit denen er in der Tabelle die jeweils von ihm beobachtete Wetterlage bezeichnet, und fügt diesen Termini ausführliche Erläuterungen hinzu:

302 Vgl. dort S. 133, linke Spalte, Nr. 16. und 17.

303 Vgl. das 23. Kapitel des vorliegenden Buches.

304 Relationes-1, S. 1r-24v.

305 Unter der Bezeichnung „13) Barometron; Tobolski 1720.“ findet sich dieses Barometer auch in der „Lista des See„Hund Coffre SH.CO.“ aus Messerschmidts am 5. Juni 1725 in Irkutsk erstelltem Verzeichnis des

„Reise-Inventariums“. Vgl. dazu das 23. Kapitel.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 118

Heiter: ist diejenige Beschaffenheit der Lufft, da sich das Firmament gantz rein, ohne einiges Gewölcke, auch ohne die geringste Benebelung, unter einer Sap-phier=Blauen Farben dem Gesichte zeiget.

Klahr und Hell: ist diejenige beschaffenheit der Lufft Sph[ä]re, da die heitere und reine Lufft, durch eine subtile benebelung unterbrochen wird, und daß Firma-ment sich nicht mehr so blau, sondern vielmehr unter einer Blaßen Milch=Farben darstellet; Wobeÿ aber dem Sonnenlichte dennoch keine sonderlich merckliche Hindernüß veruhrsachet wird.

Streiff=Wolcken / Streiff=Gewölcke / Streiff=Klahr / etc. ist, da sich das Firma-ment entweder heiter oder auch nur klahr bezeüget, dabeÿ aber mit hin und her zerstreüeten dünnen Gewölcken, so wol am Horizont, alß auch sonderlich über demselben gegen dem Zenith oder Haupt=Punckt beginnet überzogen zu werden;

so daß die Sonne zwischen denselben ihren Schein der Erden mit zu theilen selten oder gar nicht verhindert wird.

Trübe: ist also ferner genant worden, da sich das Gewölcke so dicke in einander gesetzet, daß auch die Sonne dadurch dem Gesichte und Horizont gantzlich ent-zogen.

Still: ist da die Lufft, wo nicht gantz und gar, in sich selbst, dennoch außerlich unseren Sinnen ohne merckliche Bewegung erscheinet.

Lufftig / (: im Sommer zwar und warmen Tagen :) ist so zu reden der erste grad der mercklichen Bewegung, welche wir sonderlich beÿ heiterem und klahren Wet-ter nicht so wol durchs Gesichte und Gehöre, in warnehmung des Wolcken=lauffs, und Brausen oder Sausen des Windes, alß vielmehr im Gefühle der Haut zu unter-scheiden pflegen, indem wir diese beschaffenheit der Lufft beÿ warmen oder hei-ßen Tagen ein angenehmes Lüfftchen; hergegen im kalten Winter, oder Herbste, Rauhe unangenehme, scharffe / durchdringende Lufft zu nennen gewohnet sind;

Und ein viel größerer grad der kälte oder Frostes beÿ stillem wetter, unserem Lei-be Lei-beÿ weitem so empfindlich, oder unerträglich nicht Lei-bedünket.

Unruhig / Unbeständig / habe allezeit benennet, wenn über diejenige bewegung, so wir durch das, in den papillis nerveis der Haut erregte Gefühle wahrgenommen, auch zugleich das Gehöre durch ein abwechselndes in der ober/Lufft verborgenes sausen, so wir doch noch gar keinen Wind eigentlich nennen dörffen, afficirt wer-den, Unser Gesichte aber die hin und wieder gegen ein ander ziehende Wolcken deütlich genug Unterscheiden kan.

7 Programm zur Erforschung Sibiriens 119 Windig / ist eine in der Lufft so mercklich erregte Unruhe, welche ein jeder füh-len, höhren, und an schneller bewegung der Wolcken, Bäume, und dergleichen, deütlich genug abnehmen kan.

Stoßwinde / beÿ sich senckenden Wolcken, oder instehenden Gewittern; Sturm / beÿ starckem anhaltenden brausenden Winde etc.

Reißender Sturm, und Orcan, sind für sich gantz mercklich zu unterscheiden, und also keiner weiteren Erklärung bedörfftig.

Die nun ab S. 6r folgende eigentliche Tabelle im Umfang von 38 Seiten ist in folgende Spalten unterteilt: 1. „Feriæ“, 2. „Dies. Mens. et Horæ“, 3. „Grad infra 30“ / „Grad supra 30“, 4. Verzeichnüs der Witterung.“, 9. „Plagæ Ventor.“, d. h. „Windrichtungen“. Folgen-der Umstand verdient besonFolgen-dere Beachtung: Vom 1. Februar bis zum 23. April begnügte sich Messerschmidt damit, Tag für Tag jeweils drei Beobachtungen anzustellen: „Frühe“, d. h. zumeist um 7 Uhr, nicht selten um 8 Uhr, bisweilen schon um 6 Uhr; „Mittags“, d. h.

um 12 Uhr; „Nachts“, d. h. um Mitternacht. Am 24. April verzeichnete er dann plötzlich neun Beobachtungen und steigert anschließend diese Zahl: Am 25. April sind es schon 15 Beobachtungen, am 27. April 18 Beobachtungen. Am 6. Juni stellte der Meteorologe um 1 Uhr in der Nacht eine Beobachtung an, wonach er sich dann offenbar fünf Stunden Schlaf gönnte, bevor er um 6 Uhr seine Beobachtungen wieder aufnahm, die er dann bis Mitternacht Stunde um Stunde wiederholte, ohne auch nur eine einzige Unterbrechung dieses Rhythmus. Dieses Verfahren behielt er den ganzen Juni über bei. Am 25. Juni, dem letzten Tag vor dem Aufbruch der Expeditionsgruppe, stellte Messerschmidt eine Art Rekord auf, indem er die erste Beobachtung bereits um 5 Uhr in der Frühe durchführte und verzeichnete.

Es ist wichtig, dass wir uns klarzumachen versuchen, zu welchem Zweck Messer-schmidt seine so konsequent durchgeführten und exakt festgehaltenen Wetterbeobach-tungen durchgeführt hat. Es handelt sich bei diesen Aufzeichnungen keineswegs um eine bloße, selbstgenügsame Datenansammlung. Vielmehr verfolgte Messerschmidt ein wei-terreichendes und anspruchsvolles Ziel. Und zwar wollte er dazu beitragen, die Grund-lage für Wettervorhersagen zu schaffen. Dieses Bestreben selbst lässt uns erkennen, dass der Forschungsreisende auch in der Meteorologie bestens bewandert und mit dem For-schungsstand seiner Zeit vertraut war. Um uns davon zu überzeugen, betrachten wir die Einleitung, die Messerschmidt der eigentlichen Tabelle vorangestellt hat:

De Aëris mutationibus et tempestatum, per orbem terrarum plurium variantium, Historia, hæc ferè habet Ioannes Christophorus Sturmius Altorfinus, Philosoph:

Eclecticæ Tom. 2. Exercit: XI. Cap: 2. Phænom: XVII.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 120

A multis, inquit, retrò annis observavimus, esse quandam ventorum in horizon-te circulationem, ita ut Occidentalem /:West:/ excipiat ut plurimum ac ordina-riè Septentrionalis /:Nord:/, hunc sequatur gradatim Orientalis /:Ost:/, deinceps Auster /:Sud:/ paulatim in Occidentalem /:West:/ iterum terminetur, non neglectis equidem plagis intermediis, et rarò admodum in contrarium verso hoc ordine, vix unquam saltim, si fortè ab Occidente /:West:/ in meridiem /:Suden:/ flectatur, ul-tra Orientis /:Ost:/ terminos excurrente, tantum abest, ut plenum retrogradationis circulum facilè absolvat, cum alterum illum directionis frequentissimè, ac sæpius uno mense pluries decurrat: Adeò ut hæc una videatur indè reperta nobis via, qua citra multæ artis subsidium, futuræ aëris mutationes in proximos saltem dies præ-sciri, et absq: frequenti errore prædici queant; id quod multiplici jam experimento compertum habemus. Idem prorsus à Dn: Mariotte animadversum esse Parisiis, patet ex ejusdem libello inscripto, du mouvement des eaux et des autres corps flui-des, p. 50. cujus certè Egregii Viri omnia cum observationibus Clariss: Sturmii ad amussim consentiunt, et nostris quoq: in dissetissima nec satis hactenus explorata Siberia observatis fidem apprimè faciunt.

Von „A multis“ bis „compertum habemus“ handelt es sich bei diesem Text um ein nur un-wesentlich modifiziertes Zitat aus dem von Messerschmidt angeführten Werk „Philoso-phiæ eclecticæ, h.e. exercitationum academicarum, [...] Tomus Secundus“306 von Johann Christoph Sturm (1635-1703).307 Dieses Werk führte Messerschmidt in seiner Reisebib-liothek mit sich, zusammen mit Sturms „Collegium experimentale, sive curiosum“.308 Hier geht es um die Suche nach einer „via, qua citra multæ artis subsidium, futuræ aëris mutationes in proximos saltem dies præsciri, et absq: frequenti errore prædici queant“, also nach einem Verfahren, das es ermöglichen solle, ohne großen Aufwand die Wind-richtung und deren Veränderungen mindestens für die jeweils nächsten Tage im vorhin-ein zu bestimmen und weitgehend irrtumsfrei vorherzusagen. Bei der Suche nach vorhin-einem solchen Verfahren stützt sich Sturm auf eine von ihm im Verlauf vieler Jahre ermittelte Beobachtung, wonach der Wechsel der Windrichtungen folgenden Kreislauf erkennen lasse: Der Westwind wird meistens und regelmäßig durch den Nordwind abgelöst, dieser stufenweise durch den Ostwind, dieser durch den Südwind, auf den dann allmählich wie-der wie-der Westwind folgt, wobei die zwischenliegenden Striche nicht übersprungen werden, so dass sehr selten die entgegengesetzte Abfolge Westwind → Südwind vorkommt, und dabei geschieht es höchst selten, dass ein vollständiger „Gegenkreislauf“ Westwind → Südwind → Ostwind → Nordwind zustande kommt, wohingegen der zuerst angeführte Kreislauf sehr häufig, oft mehrmals in einem Monat absolviert wird. Das ist das

soge-306 Altdorf 1698.

307 Vgl. den Originalwortlaut bei Sturmius 1698, S. 521. – Vgl. Biographie und Schriftenverzeichnis Sturms in Zedlers Universallexikon, Bd. 39, 1744, Sp. 1418-1423.

308 Nuremberg 1676.

7 Programm zur Erforschung Sibiriens 121 nannte – wie es seit dem 19. Jahrhundert heißt – Drehungsgesetz der Winde, auf das bereits im Jahr 1600 von Francis Bacon (1561-1626) angestellte Beobachtungen hin-gewiesen hatten und das dann von Sturm vollständiger und expliziter formuliert worden war.309 Dieses Gesetz wurde unter anderem zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Heinrich Wilhelm Dove (1803-1879) durch eigene Beobachtungen bestätigt, die in ihrer ersten Formulierung aus dem Jahr 1827 weitestgehend mit derjenigen übereinstimmen, die wir bei Sturm finden.310 Später hat Dove seine Untersuchungen zu dem Drehungsgesetz, das im Mittelpunkt seines Systems stand, immer weiter systematisiert und es, über bloße Be-obachtungen hinausgehend, aus den Strömungen der Gesamtatmosphäre abgeleitet. Und er konnte zeigen, dass sich der Wind auf der südlichen Erdhalbkugel im entgegengesetz-ten Sinne als auf der nördlichen dreht. In unserem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Dove nach den Worten seines Biographen Hans Neumann, „mit der ihm eigenen Liebe zur Geschichte der Wissenschaft [...] nach weiteren historischen Belegen in der Weltliteratur“ geforscht hat.311 Leider ist er dabei offensichtlich nicht auf die Schriften Sturms gestoßen, dessen Namen er auch nicht in späteren Schriften erwähnt, nachdem Alexander von Humboldt 1847 im zweiten Band des „Kosmos“ Bacon und Sturm als die Entdecker „des für die gesammte Meteorologie so wichtigen Drehungsgesetzes der Win-de“ gewürdigt hatte.312 Auch in Karl Schneider-Carius’ Werk zur Geschichte der Wetter-forschung313 wird Sturm weder bei der Besprechung des Drehungsgesetzes noch sonst an irgendeiner Stelle genannt. Wenn wir nun noch bedenken, dass „nach einer mündlichen Mitteilung A. von Humboldts an Dove die regelmäßige Drehung im Sinne der Sonne in Sibirien im Munde der Eingeborenen ist“,314 dann wird klar, welche Bedeutung Messer-schmidts in Tobol’sk im Verlauf von fünf Monaten Tag für Tag systematisch angestellten und festgehaltenen Wetterbeobachtungen in der Geschichte der Meteorologie bestimmt erlangt hätten, wenn sie publiziert worden wären, was bis heute noch immer nicht ge-schehen ist. Nicht zuletzt wäre dann die Geschichte der speziell in Tobol’sk angestellten meteorologischen Beobachtungen anders geschrieben worden, als es tatsächlich der Fall gewesen ist: Nach E. Leyst stammen die ersten aus Tobol’sk überlieferten Beobachtun-gen aus den Jahren 1806 bis 1821.315 Es ist ganz klar, dass diesem Autor Messerschmidts meteorologische Aufzeichnungen vollkommen unbekannt gewesen sind.

Es war Messerschmidt also um nichts Geringeres zu tun, als die von Sturm angestell-ten Beobachtungen und die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen in einem ganz

an-309 Vgl. hier zu Gaab 2004, S. 66 f.

310 Vgl. Dove 1827, S. 545 f.; Dove 1866, S. 81; Neumann 1925, S. 32. — En passant sei hier angemerkt, dass sich auch Kant in einer frühen Schrift mit der „Theorie der Winde“ beschäftigt und dabei Formulierungen gefunden hat, die auf das Drehungsgesetz vorausweisen; vgl. Kant 1756 und dazu Adickes 1925, S. 345 ff.

311 Vgl. Neumann 1925, S. 33.

312 v. Humboldt 1847, S. 380.

313 Schneider-Carius 1955.

314 Neumann 1925, S. 33.

315 Leyst 1887, S. 338.