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Dezember 1719 – 26. Juni 1720

Frühjahr 1716 – 11. Januar 1718

24. Dezember 1719 – 26. Juni 1720

Als Messerschmidt am 24. Dezember 1719 in „der Sibirischen Gouvernements„Stadt Tobolskoi, am Tobol-flußes ostio, und Ærtess- oder Irtisch-Strohme in Sibirien“246 ein-traf, beendete er damit die 15. und letzte Reise der „periodus i.ma“ der ihm aufgetragenen Expedition. Diese Periode bildete das Präludium zu der eigentlichen Expedition, die erst hier, in Tobol’sk, ihren Anfang nehmen sollte.

Zu der 16., der ersten Reise der „periodus ii.da“ brach der Forscher am 26. Juni 1720 auf. Bis dahin hatte er sich ein halbes Jahr lang in Tobol’sk aufgehalten, abgesehen von kürzeren Abstechern in die Umgebung der Stadt. In diesen sechs Monaten hatte sich Messerschmidt auf die Expedition durch Sibirien vorbereitet. In diesem Kapitel soll es darum gehen, die Art und die Durchführung dieser Vorbereitung in näheren Augenschein zu nehmen und dabei insbesondere die Probleme und Schwierigkeiten zu beleuchten, mit denen der Forschungsreisende Tag für Tag zu kämpfen hatte und die der Hauptgrund dafür waren, dass er sich bedeutend länger in Tobol’sk aufhalten musste, als er das ur-sprünglich beabsichtigt hatte. Diese Probleme und Schwierigkeiten waren es auch, die Messerschmidt schließlich dazu zwangen, vorerst auf die von ihm ursprünglich geplante große Expedition zu verzichten und zunächst „eine gantz kleinere Reise [...] fürzuneh-men“.247 Es wird zu zeigen bleiben, wie es zu dieser Abänderung der Expeditionsplanung kam.Die Vorbereitung der zunächst noch beabsichtigten großen Expedition bezog sich auf zwei Bereiche, die hier gesondert betrachtet werden sollen. Auf der einen Seite ging es um die Bewältigung zahlreicher konkreter, „handfester“ Probleme. An erster Stelle stand das Transportproblem. Es war zu klären, wie viele Fuhrwerke und Zugpferde Messerschmidt nicht nur in Tobol’sk, sondern im Verlauf der Expedition immer wieder zur Verfügung gestellt werden sollten, mit was für Wasserfahrzeugen die zahlreichen bevorstehenden Flussreisen und Flussüberquerungen unternommen werden sollten, wieviel Hilfspersonal unterschiedlicher Bestimmung ihm beigeordnet werden sollte, was für Instrumente, was

246 Hodogeticum, S. 18v.

247 № 83.

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für Gegenstände des täglichen Bedarfs er mitnehmen wollte oder durfte usw. usf. Bei der Lösung aller dieser Probleme war Messerschmidt auf die Mitwirkung, die Unterstützung der in Tobol’sk angesiedelten Behörden angewiesen, und eben aus diesem Angewiesen-sein sollten sich zahllose Schwierigkeiten ergeben, wie im Einzelnen zu zeigen bleibt.

Bereits am 26. Dezember 1719, zwei Tage nach Messerschmidts Ankunft dort, hatte Fürst Aleksej Michajlovič Čerkasskij (1680-1742), der den im Januar entlassenen und verhafteten – und später, am 16. März 1721, durch Erhängen hingerichteten – Matvej Petrovič Gagarin als Gouverneur Sibiriens abgelöst hatte, unter Berufung auf einen Brief J. D. Blumentrosts dem „Oberkommandanten“ von Tobol’sk, Semen Prokopovič Karpov, die Anordnung erteilt, rechtzeitig allen Forderungen Messerschmidts nachzukommen, genauer, ihm Fuhrwerke samt Kutschern zur Verfügung zu stellen „und das Übrige, was erforderlich ist, auf dass ihm dabei“ – d. h. bei der Erfüllung seines Auftrags – „kein Hin-dernis und kein Aufhalten geschehe“.248

Ferner musste sich Messerschmidt endgültig darüber klarwerden, was für ein Ar-beits-, was für ein Forschungsprogramm er während seiner Expedition zu bewältigen haben würde: Worauf im Einzelnen sollte er sein wissenschaftliches Interesse richten, welcher Methoden sollte er sich auf den verschiedenen Forschungsfeldern bedienen, wie sollten Beobachtungen unterschiedlicher Art festgehalten, wie „Raritäten“ aufbewahrt, wie tierische und pflanzliche Präparate konserviert werden usw. usf.?

Auch bei dieser konzeptionellen Vorbereitungstätigkeit war Messerschmidt nicht un-abhängig, konnte er nicht ausschließlich nach eigener Einsicht, nach eigenem Gutdünken verfahren. Schließlich war ihm ja in dem Ukas des Zaren vom 15. November 1718 ein ganz bestimmter Forschungsauftrag erteilt worden, den sein St. Petersburger Vorgesetzter Blumentrost in der Instruktion vom 24. September 1719, die am 7. Oktober 1719 noch einmal bekräftigt worden war,249 um zwei Bereiche erweitert hatte. Diese Aufträge hatte er widerspruchslos zu erfüllen. Aber er konnte, ja musste sich überlegen, wie diese träge konkret auszulegen und auszuführen seien, und er konnte den Rahmen dieser Auf-träge in einem gewissen Rahmen überschreiten und auf diese Weise wissenschaftliche Freiräume gewinnen, konnte sich als eigenständige Forscherpersönlichkeit ausweisen.

Wie wir sehen werden, sollte Messerschmidt von dieser Möglichkeit in eindrucksvoller Weise Gebrauch machen.

Betrachten wir zunächst, wie sich Messerschmidt bemühte, das Transport- und andere organisatorische Probleme zu lösen, und welche Erfolge oder – weit häufiger – Misserfol-ge ihm dabei beschieden waren.

Am 22. März 1720 reichte Messerschmidt „dem Herrn Obercom̅endanten Semon Pro­

copowitz [Karpov] eigenhändig“ ein mit Hilfe eines Übersetzers in russischer Sprache abgefasstes „Memorial oder Donoschenja“250 ein. In diesem Dokument heißt es, er,

Mes-248 Vgl. Тункина, Савинов 2017, S. 31.

249 № 46.

250 № 59.

6 Vorbereitung der Expedition durch Sibirien 99 serschmidt, beabsichtige, in Befolgung des ihm erteilten zarischen Befehls „von hier ab-zureisen“ nach Tara und Tomsk, „sobald das Wasser sich auftut“, d. h., sobald der Eisgang auf den Flüssen einsetzt. Daher ersuche er den Empfänger um die „Gnade“ – „милость“

–, „meine Reise zu beschleunigen“. Im Einzelnen bezieht sich das Gesuch auf elf Punkte:

1. An erster Stelle bittet Messerschmidt darum, ihm zwei Helfer zur Verfügung zu stellen, von denen einer „der apothekarischen Kunst“ kundig und „in jeglichen Fällen bei mir sein soll“. Der andere solle sich aufs Aufzeichnen und Zeichnen verstehen sowie

„stets bereit und tauglich“ sein, „jegliche vorfallende Dinge aufzunehmen und aufzu-schreiben“. Messerschmidt nennt auch gleich Namen: Zwei schwedische Gefangene, der Hauptmann Johann Anton Mattern und der Leutnant Jakob Schöning, seien bereit, „Sei-ner Zarischen Majestät in dieser Expedition zu dienen und mit ihr zu ziehen“.

2. Zweitens ersucht Messerschmidt darum, ihm zusätzlich zu den beiden Dragonern

„von der hiesigen Garnison“, die ihn bereits von St. Petersburg aus begleitet haben, noch zwei bewaffnete Männer beizugesellen, den Dragoner Andrej Nevgin, d. h. Andres Häs-ler-Newing, und den berittenen Kosaken Andrej Kurjatnikov.

3. Da er den ganzen Sommer über unterwegs sein werde, erbittet Messerschmidt eine Barke, eine Struge – „струг“–, die so gebaut sein müsse, dass sie auch in flachen Gewäs-sern verwendet werden könne.

4. Zusätzlich bittet der Forschungsreisende um ein „bedecktes Boot“, mit dem man sich auf kleinen Flüssen fortbewegen und von dem aus man auf dem Land Erkundigun-gen einholen könne.

5. Da er öfter „auf trockenem Weg“ unterwegs sein werde, „wohin zu Wasser von Ort zu Ort zu gelangen unmöglich ist“, ersucht Messerschmidt darum, ihm einen Ukas auszu-stellen und mitzugeben, damit „mir auf mein Ersuchen hin überall ohne Verzögerung so viele Gespanne wie erforderlich gegeben werden“.

6. Für den Fall der Fälle ersucht Messerschmidt darum, ihm in den Siedlungen, durch die er kommen werde, „zum Schutz, zur Verteidigung, zum Geleit“ dienstverpflichtete Männer zur Seite zu stellen.

7. Der Forschungsreise „wünscht“, für „verschiedene Ausgaben“, die „in Seiner Zari-schen Majestät hohem Dienst verursacht werden“, 50 Rubel ausbezahlt zu bekommen.

8. „Zwecks Vermeidung von Kosten“ – „ко удєржанию росходу“ – führt Messer-schmidt „einige Stücke“ auf, die er unterwegs benötigen werde und um deren baldige Herausgabe er bittet. Einige von ihnen befänden sich in den Beständen der Kanzlei, die übrigen sollten schnell angefertigt werden. Insgesamt nennt er 16 „Stücke“, darunter

„100 Arschin Segelleinwand“, „vier Ries guten Schreibpapiers“, „sechs Pfund weißen Glimmers“, „zehn Pfund Wachs“, „vier Pfund Kupferdraht“, „zwei eiserne Schaufeln“,

„ein eisernes Brecheisen“, „einen Kupferkessel zu vier Eimern“, „zwei Dreifüße“ u. a.

9. Messerschmidt bittet darum, ihm und seinen Begleitern „in Tara oder in Tomsk einen solchen Erlass vorzulegen“, damit dort ihm selbst das Gehalt und seinen „Leuten“

der Lohn oder der Sold ausbezahlt werde.

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10. Ferner stellt Messerschmidt das Gesuch, den Männern „in meinem Gefolge“ zur Abreise den noch ausstehenden Monatssold für das laufende Jahr auszuzahlen.

11. Abschließend heißt es: „Da den drei Dragonern seit vier Jahren keine Uniform gegeben worden ist, ist es erforderlich, ihnen zum Dienst für einen schweren weiten Weg eine Uniform zu verabreichen“.

Drei von Messerschmidts Wünschen seien hier etwas näher betrachtet:

— Die Ortsangabe „in Tara oder in Tomsk“ in dem Wunsch um Auszahlung des Gehalts und des Solds ist ein Hinweis darauf, dass der Forschungsreisende zu dem Zeitpunkt, da er seinen Wunschkatalog niederschrieb, die von ihm geplante Expedition sogleich viel weiter auszudehnen beabsichtigte, als ihm dann im Juni gestattet werden sollte.

Dass es sich in der Tat so verhalten hat, sollte Messerschmidt drei Monate später ex-plizit bestätigen. In seinem iv. Rapport an Blumentrost vom 25. Juni, mit dem wir uns noch näher beschäftigen werden,251 schreibt er, er sei anfänglich entschlossen gewe-sen, „die Tour gegen Irtisch und Ischim-Strohm auf die Städte Tara, Tomskoë und so weiter [...] zu nehmen“.

— Mit eben dieser Absicht hängt auch Messerschmidts Ersuchen zusammen, ihm die schwedischen Offiziere Mattern und Schöning als Helfer beizugesellen; denn um auf seiner „Tour“ „die beorderten Annotationes nach möglichstem Begriff und Nutzen zu führen“, sei er, so heißt in dem iv. Rapport, „einiger Hülfe benöthiget“ gewesen, und „so hatte zu diesem Zweck auß eigenen wenigen Mitteln zwo geschickte Leüte, deren einer in Mathematischen und Physicalischen Observationen und Dessinirung benöthigter Dinge; der andere aber in Ansamlung und Conservirung der Naturalien und Curiositäten dienlich seÿn konten zur Hand zu gehen, auß denen Lieffländisch Gefangenen (weil unter der Einheimischen Nation alhier keine dergleichen zu haben) mir außersehen“.

— Messerschmidts Wunsch, ihm mögen eine Struge und ein „bedecktes“ Boote zur Ver-fügung gestellt werden, mag uns als Anlass dienen, uns eine nähere Vorstellung von den verschiedenen Typen von Wasserfahrzeugen zu bilden, mit denen es der For-schungsreisende während seiner mehrjährigen Expedition durch Sibirien zu tun haben sollte, in deren Verlauf er die längsten Strecken auf Flüssen zurückzulegen hatte, in der verhältnismäßig kurzen Navigationszeit zu Schiff, während des langen sibirischen Winters auf Schlitten. „Wasserstraßen bildeten den überwiegenden Teil der sibirischen Transitmagistrale vom Ural nach Daurien. Sie boten von etwa Ende April bis in den Oktober hinein die günstigsten Transport- und Verkehrsbedingungen in Sibirien“.252 Von der Beschaffenheit von Strugen bzw. Strusen ist bereits im 5. Kapitel die Rede gewesen. Sehr häufig ist daneben in Messerschmidts Tagebuch die Rede von einem Was-serfahrzeug, das er „Dostschenik“ oder „Dostschanik“ nennt. J. Pawlowsky übersetzt das von ihm als „veralt.“ eingestufte Substantiv дощаник (doščanik) bzw. досчаник

251 № 83.

252 Joeux 1981, S. 141.

6 Vorbereitung der Expedition durch Sibirien 101 (dosčanik) als „die Fähre, das Flachboot; eine Art Barken“.253 In seinem den russischen Wasserwegen der vorpetrinischen Zeit gewidmeten Buch aus dem Jahr 1910 beschreibt N.

P. Zagoskin die dosčaniki als „flachbodige Lastschiffe, zehn und mehr sažen’ – 1 sažen’

= 2,13 m – lang, die geeignet waren zum Fahren sowohl mit Rudern als auch unter Se-geln und mit Hilfe eines Schleppseils. Schiffe dieser Art waren in großem Gebrauch im Kama-Becken ([...]), von wo aus dieser Schiffstyp schließlich auf die sibirischen Flüsse überging. Wir wissen bereits, dass die sibirischen dosčaniki, die auf den Flüssen Sibiriens als Hauptverkehrsmittel dienten, sich durch Segel gewaltiger Ausmaße auszeichneten:

Für ein solches Segel (18 saženi) benötigte man 300 aršin Leinwand – 1 aršin = 72 cm – als mittlere Norm, die sich bis auf 600–700 aršin vergrößerte, wenn man dem Schiff eine größere Fahrgeschwindigkeit verleihen wollte“.254

In der Literatur lassen sich etliche weitere Beschreibungen des doščanik-Typs fin-den,255 die F. Joyeux zu folgender Verallgemeinerung gelangen lassen: „Aus der Gesamt-zahl der Angaben läßt sich dennoch ein ungefähres Bild der ‚doščaniki‘ gewinnen, und sie vermittelt recht deutlich den Eindruck, daß unter der Typenbezeichnung ‚doščanik‘

Fahrzeuge verschiedenster Größe und Abmessungen subsumiert werden können. Als gemeinsames Charakteristikum dieser Fahrzeuge kann man wohl festhalten, dass die

‚doščaniki‘ generell aus Brettern gezimmert und flachbodig waren, daß sie sowohl ge-rudert als gesegelt und gezogen werden konnten und sowohl am Bug als auch am Heck zugespitzt waren, was ihnen ihr charakteristisches Aussehen verlieh“.256

Bei Messerschmidt lassen sich mehrere Beschreibungen der Ausrüstung von doščaniki finden.

In Enisejsk richtete der Forschungsreisende am 25. Mai 1723 folgendes Gesuch an das Landeskontor:

Erstlich, daß meine Reise von hie nach Mangazeja usw. ginge und dazu einer Dostschanike nebst Zubehör, Segel und Anker, zwei Steuerleute und zwölf Ru-derer gebrauchte, folglich auch einen landskundigen Wegweiser mir beizugeben, [...]“.257

Am 20. August 1725 formulierte Messerschmidt in Makovskoj ostrog folgende Beschei-nigung:

A.o 1725 d. 20. August. Empfangen eine alte Dostschenik mit zubehörigem Steűr, 6. Rudern, Chaloupchen, 20. faden alte dűnne Strickchen zum Steűr„Ruder, es

253 Pawlowsky 1900, S. 333.

254 Загоскинъ 1910, S. 454.

255 Vgl. einen Überblick bei Joyeux 1981, S. 147 f.

256 Joyeux 1981, S. 148 f.

257 Bd. 2, S. 55.

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zu umbwinden; nebst einem alten gebrauchten Seegel, 18 Ars. lang und breit im qvarrée, nach vollendeter Reise an gehörigem Orte abzulieffern, und also die Me-dicinische Faculté in St. Petersburg auß Sibirischem Gouvernement nicht zu be-rechnen.

Solches bescheinige Makowskoi. d. 21. August 1725 Daniel Gottlieb Messerschmidt D mpp.258

Am 16. November 1725 übergab er dem Starosten von Samarov jam einen doščanik, den er wie folgt beschreibt:

Umb 9 Uhr frühe wurde die Dostschanik nebst allen Zubehören – einem Lodien [лодья ,kleines Boot‘] nämlich und 6 Rudern, 20 Faden dünnen Tau, umbs Steur-ruder gewunden, 60 Faden neue Bitschowen [бичева ,Schleppseil‘], 60 Faden Nogi [нога ,Schleppstange‘] und 14 Faden Drogi [дрога ,Verbingungsstange‘] à 3 Pud, 25 gewogen, nebst altem Segel, 18 Arschin lang, etc. – an hiesigen Starosten Ivan Poromov, laut № 288 und № 290 abgeliefert, [...]“.259

Über die Besatzung eines doščanik bemerkt er am 21. Juni 1723:

Frühe umb 6 Uhr waren die Podwoden – 12 Grebzy [грeбeц ,Ruderer‘], 2 Korm­

cziki [кормщик ,Steuermann‘] und 1 Woshe [вож] oder Wegweiser, summa 15 Mann an meiner Dostschanik und berichteten mir, daß sie vorigen Tages, die 20.

Iunii allererst wären beordert worden und also noch ihren Sapas [запас ,Proviant‘]

nicht veranstalten können.260

Aus Messerschmidts Angaben, von denen hier nur einige wenige angeführt wurden, und denen anderer Sibirienreisender gewinnt F. Joyeux folgende Beschreibung des Prototyps des doščanik, „der etwa 8 – 9 sažen in der Länge und 5 – 6 aršin in der Breite maß, aus-gerüstet war mit sechs Rudern, einem Segel von 18 sažen Umfang und eine Tragfähigkeit von ru[n]d 800 pud besaß. Wo die Navigationsverhältnisse es verlangten bzw. erlaubten, konnte man beim Bau der ‚doščaniki‘ von dieser Norm abweichen“.261

Es fragt sich natürlich, ob es einen signifikanten Unterschied zwischen dem als strug und dem als doščanik bezeichneten Typ gab und worin dieser gegebenenfalls bestand. Bei Messerschmidt lesen wir zu dieser Frage in einem Tagebucheintrag vom 9. Juni 1725 in Irkutsk:

258 СПбФ АРАН. Ф. 98. Оп. 1. Д. 31. S. 42r.

259 Bd. 5, S. 16.

260 Bd. 2, S. 76.

261 Joyeux 1981, S. 151.

6 Vorbereitung der Expedition durch Sibirien 103 Und wurde mein Knecht beordert, alle Kasten und Packen (laut Generaltabelle die 5. Iunii fertigzuhalten, instehenden Tages zur Dostschanik oder Strusen führen zu können.262

Ganz ähnlich heißt es am 19. August 1725:

Um 5 Uhr nachmittags erreichte endlich Makovskij-ostrog, auf einem hohen, san-digten Berge des rechten Ufers des Ket’-Stroms gelegen, [...], woselbst meine Bagage für der Dostschaniken oder Strusen, mit welcher ich den Ket’ und Ob’

abreisen sollte, am Ufer kampieren fande, [...].263

Auch in anderen Quellen werden die Ausdrücke doščanik und strug synonym gebraucht, und so gelangt F. Joyeux zu der Überzeugung, „daß signifikante Unterschiede zwischen

‚doščaniki‘ und ‚strugi‘, wie sie in Sibirien anzutreffen waren, nicht bestanden haben“.264 Kehren wir nunmehr zu Messerschmidts Gesuch zurück. Es ist hier nicht zuletzt des-halb so ausführlich vorgestellt worden, weil die „Behandlung“, die ihm widerfahren soll-te, eine anschauliche Vorstellung von den Schwierigkeiten und „Verdrießlichkeiten“ ver-mittelt, mit denen der Forscher von nun an bis zum Abschluss seiner großen Expedition im Frühjahr 1727 und weit darüber hinaus immer wieder zu kämpfen haben sollte.

Als Erstes erlebte er eine Abfuhr. Das „Memorial“ wurde ihm, wie er in einer Notiz als Anhang zu dessen Abschrift265 festhielt, am 11. April „zurück gegeben, nebst Erin-nerung, daß außer die Podwoden sie mir nichts gestatten könten“. „Es müßte auch nicht an ihn sondern an den Knees Tscherkassni gestellt werden, worauf Er sofort den Titul durch einen Schreiber ändern und zur Copie mir zurück liefern ließ“. Da sich der „Herr OberCom̅endant“ für seine Reaktion 21 Tage Zeit gelassen hatte, während welchen Zeit-raums der auf baldigen Aufbruch bedachte Messerschmidt sicherlich mit Ungeduld auf einen Bescheid gewartet hatte, beeilte sich der verhinderte Reisende, sein „Memorial“

umgehend, am 12. April, dem Gouverneur von Sibirien, dem Fürsten A. M. Čerkasskij, zu übermitteln. Aber auch jetzt sollte es ihm nicht besser ergehen. Als Ende April noch immer kein Bescheid erteilt worden war, verlor Messerschmidt offenbar die Geduld und wusste sich nicht anders zu helfen als dadurch, dass er sich am 30. April mit einem Bitt-schreiben, unmittelbar an die höchste Instanz, den Zaren selbst wandte. In diesem Do-kument266 erläutert er die Ursachen der Verzögerung seiner Reise und klagt darüber, dass sein Dienst aufgehalten werde. Er beschwert sich auch über die Willkür und die Verzöge-rungstaktik der Beamten.

262 Bd. 4, S. 120 f.

263 Bd. 4, 200.

264 Joyeux 1981, S. 154.

265 № 59.

266 № 67.

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Diesem Bittschreiben sollten bis zum Beginn der Expedition Ende Juni noch zwei weitere folgen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie lange es im günstigsten Fall dauern musste, bis aus St. Petersburg eine Reaktion nach Tobol’sk gelangen konnte, müssen wir uns fragen, ob sich Messerschmidt von seinem Vorgehen wirklich Erfolg versprochen hat. Wollte er dem „Herrn OberCom̅endanten“ und dem Gouverneur, ohne deren direkte oder indirekte amtliche Mitwirkung die Bittschreiben ja nicht expediert werden konnten, lediglich einen Schrecken einjagen?

Werfen wir einen Blick auf das Gesuch vom 30. April, das wir in genauerer Termino-logie als Klage-, Rechtfertigungs- und Bittschreiben – russ. челобитная – zu bezeichnen haben: Nachdem Messerschmidt dargelegt hat, dass er seit dem 12. April, seit der Ein-reichung des Unterstützungsgesuchs, täglich seine Abfertigung erwartet, aber stets eine abschlägige Antwort erhalten habe, mit dem Hinweis, er müsse die Ankunft des „Herrn Vizegouverneurs“ abwarten, erklärt er, er könne diese Art der Behandlung nicht akzeptie-ren, „da es nicht nur um meine eigene Person geht, sondern vor allem Seiner Zarischen Majestät Interesse und Dienst in Rückstand geraten“. Und so bittet er den Zaren, der Tobol’sker Kanzlei zu befehlen, sie solle ihm, Messerschmidt, mitteilen, was ihm zu tun übrigbleibe „zum untertänigsten Dienst für Eure Majestät“.

Bereits am 16. Mai wandte sich Messerschmidt erneut unmittelbar an den Zaren.267 Zunächst wiederholt er fast wörtlich seinen Bericht aus dem Bittschreiben vom 30. April, bevor er ein Geschehen darlegt, dessentwegen seine Abreise noch weiter verzögert wer-de: Der Major Ivan Michajlovič Licharev von der Leibgarde habe ihm ohne Vorlage eines

„hohen Erlasses“ seine zwei Diener – „денщики“ – ohne Gegenleistung weggenommen, die ihm in St. Petersburg zugeteilt worden seien und die er auf die bevorstehende Expedi-tion vorbereitet habe. An ihrer Stelle seien ihm von dem „Herrn OberCom̅endanten“ zwei Dragoner aus der hiesigen Garnison beigegeben worden. Außerdem habe ihm der Major Licharev die von ihm ausgewählte und reisefertig gemachte Struge weggenommen. Da er sich nun eine neue, ähnliche Struge habe suchen müssen, sei eine weitere Verzögerung der Abreise eingetreten. Zur Ausrüstung der Struge seien Zimmerleute angestellt worden, mit deren Beaufsichtigung die neuen Diener beauftragt worden seien. Da nun sei auf Be-fehl Licharevs der Leutnant Afanasej Semonovič erschienen und habe den Zimmerleuten befohlen, ihm zu folgen. Als die Diener erklärt hätten, die Zimmerleute seien von der Tobol’sker Kanzlei mit ihrer Aufgabe betraut worden, da habe der Leutnant sie mit einem Stock geschlagen und habe vier weiteren Männern befohlen, sie unbarmherzig mit Stö-cken zu verprügeln. Danach habe er, Messerschmidt, dem Oberkommandanten Bericht erstattet, woraufhin ihm am 14. Mai andere Zimmerleute geschickt worden seien.

Wieso hatte es sich Licharev erlauben können, in der beschriebenen Weise mit Mes-serschmidt und dessen Helfern umzuspringen? Die Antwort auf diese naheliegende Frage ergibt sich, wenn wir uns klarmachen, um wen es sich bei dem Major handelte und wes-halb sich dieser damals in Tobol’sk aufhielt.

267 № 68.

6 Vorbereitung der Expedition durch Sibirien 105 I. M. Licharev von der Leibgarde des Zaren war von diesem im Jahre 1719 nach Tobol’sk entsandt worden, auf dass er dort die „schlimmen Taten“ des abgesetzten Gou-verneurs Matvej Petrovič Gagarin untersuche. Im Zuge der Untersuchung geriet auch der Oberkommandant Semen Prokopovič Karpov in Licharevs Visier. Karpov nahm damals interimistisch, bis zur Ankunft von Gagarins Nachfolger, die Aufgaben des Gouverneurs wahr. Licharev konnte ihm nachweisen, dass er Bestechungsgelder angenommen und sich illegalerweise um die Beschaffung von Gold bemüht hatte. Apropos Gold: Licharev war vom Zaren noch ein weiterer Auftrag erteilt worden. Er sollte Gerüchten nachgehen, wonach in der Nähe der kleinen kalmückischen Stadt Erket’ Goldsand gefunden worden sei. Im Mai 1720 brach Licharev an der Spitze eines aus 440 Personen bestehenden De-tachements zu seinem Erkundungsunternehmen auf. Jetzt wissen wir also, weshalb er Messerschmidts Struge mit Beschlag belegt hatte und weshalb dieser vom Oberkomman-danten keinen Schutz vor einem solchen Übergriff erwarten konnte.268

Im Anschluss an seinen wahrhaft epischen Bericht bittet Messerschmidt den Zaren, dieser möge berücksichtigen, dass er sich nicht durch eigenes Verschulden noch immer in Tobol’sk aufhalte, sondern dass ihm aufgrund dieses erzwungenen Aufenthaltes alle Möglichkeiten genommen worden seien, seine Verpflichtungen einzuhalten. „Ich über-gebe mein demütigstes Ersuchen um Schutz, auf dass kein ungnädiges Auge wegen Ver-zögerung meines allschuldigen Dienstes auf mich gerichtet werde“.

Da – selbstverständlich – auf absehbar lange Zeit mit was für einer Reaktion aus St.

Petersburg auch immer nicht zu rechnen war, musste Messerschmidt versuchen, in To-bol’sk selbst bei der Vorbereitung der Expedition voranzukommen.

Am 27. Mai richtete er an den Gouverneur das Gesuch,269 dieser möge dafür Sorge tragen, dass es ihm, dem Gesuchsteller, unterwegs ermöglicht werde, „zum Altertum ge-hörige Dinge wie etwa heidnische Šejtane,270 große Mammutknochen, alte kalmückische und tatarische Schriften und deren vorväterliche Schriftzeichen, ferner Abbildungen und Pläne von Stein- und Rundgräbern aufzuzeichnen und die Zeichnungen einzusenden“.

Aber auch jetzt widerfuhr Messerschmidt eine Zurückweisung: „Diese original Schrifft de dato 27 Maÿ wurde mir vom Ober-Com̅endanten gleich wieder zurück ge-geben, unter dem Fürwand, daß der Titul müßte geändert werden, da doch der Translateur Peter Remisof selbigen wie gebräuchlich vermeinte gesetzt zu haben“. Der „Verdrießlich-keiten“ war kein Ende, und dabei sollte es auch bleiben: Am folgenden Tag, dem 28. Mai, reichte Messerschmidt sein Gesuch von neuem ein, offenbar mit geändertem „Titul“.

Aber es half alles nichts:

268 Zu Licharevs Mission vgl. Миддендорфъ 1860, S. 45, Anm.

269 № 72.

270 Dies = Abbildungen von Göttern und mythischen Wesen verschiedener Religionen, allerdings auch bud-dhistische Kultbilder. Letztlich wurden alle nichtchristlichen Kultbilder – ganz gleich ob terimorph oder anthropomorph – von den Russen als „Šejtane“ bezeichnet.