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Juni 1720 – 30. Dezember 1720

Frühjahr 1716 – 11. Januar 1718

26. Juni 1720 – 30. Dezember 1720

Am 26. Juni 1720 brach Messerschmidt endlich zu seiner nächsten, der 16. Reise auf.

Die Route, die er einzuhalten hatte, war, wie wir gesehen haben, vorher von dem Gou-verneur Sibiriens in einer „Podoroschna“ „eingerichtet“ worden. Der Aufbruch geschah

„Von Tobolskoi-gorod am Tobol flußes ostio, und Irtiss-Strohme in Sibirien; mit einer Schesterick Struÿen a 14 Podwod, unter Convoÿ dreÿer Tobolskischer Gvarnison-Solda-ten, den Tobol Strohm auffwerts“ – so heißt es im „Hodogeticum“.328 Was man sich unter einer „Schesterik Struÿen“ vorzustellen hat, wurde bereits im 5. Kapitel verdeutlicht. An dieser Stelle sollen nun noch die Herkunft und die Struktur dieser Bezeichnung selbst erläutert werden.

Das russische Wort струг шестерик bezeichnet gemäß dem „Wörterbuch der russi-schen Sprache des 11.-17. Jahrhunderts“ – „Словарь русского языка XI-XVII веков“

– ein Boot – струг – der Länge von sechs – шестерик, von шесть ‘sechs’ – Sažen’.

Dem altrussischen Maß сажень entsprechen 2,16 m. Das heißt, dass das von Messer-schmidt und seinen Gefährten verwendete Boot ca. 13 m lang war. Im „Indiculus genera-lis Itinerum“ spricht Messerschmidt von „einer Dostscheniken“, gebraucht also das Wort дощаник, das mit ‘Fähre’ oder ‘Flachboot’ zu übersetzen ist.

Mit dem Ausdruck „a 14 Podwod“ bezieht sich Messerschmidt auf die zwölf Ruderer und zwei Steuermänner, die ihm, wie bereits erwähnt, zur Verfügung gestellt worden waren. In dieser Formulierung verwendet er das – heute veraltete – Substantiv подвода nicht ganz korrekt. Am häufigsten bezeichnet подвода in den Messerschmidt mitgegebe-nen oder unmittelbar den sibirischen Behörden übermittelten Instruktiomitgegebe-nen sowie in den Texten Messerschmidts selbst einen mit Pferden bespannten Wagen samt Fuhrknecht(en), zu dessen Bereitstellung für Messerschmidt die Behörden verpflichtet waren. So heißt es etwa in der am 30. September 1719 in St. Petersburg erlassenen Instruktion des Gou-verneurs von Sibirien, A. M. Čerkasskijs, an den Tobol’sker „Ober-Kommandanten“ S.

P. Karpov: „велено подводы давать по рассмотрению в тех местех, где требовать

328 Hodogeticum, S. 18v.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 128

будет“,329 d. h., „es ist befohlen worden, Podwoden gemäß Dafürhalten an den Orten zu geben, wo er [d. h. Messerschmidt] sie anfordern wird“.330 Dieser Verpflichtung ent-ledigten sich die Behörden dadurch, dass sie aus der örtlichen Bevölkerung Männer zu Spanndiensten heranzogen. Dabei mussten sie oft zu Zwangsmaßnahmen greifen, wenn sich die ausgewählten Männer ihrer erzwungenen Tätigkeit durch Flucht zu entziehen suchten. Von solchen Geschehnissen ist in Messerschmidts Expeditionstagebuch immer wieder die Rede.

Entlang zahlreichen kleineren Siedlungen und Flüssen, deren Namen Messerschmidt im „Hodogeticum“ und im „Indiculus“ wie immer penibel anführt, gelangte die Reise-gesellschaft am 11. Juli „nach Jæluturskoi oder Batschamkoi-Ostrog und Slobod, am To-bol Strohms und Isset flußes ostio“,331 also zu dem mit Palisaden befestigten Ort – russ.

острог – Jalutorsk, der an der Stelle angelegt worden war, an dem die am Osthang des Urals in dem See Isetskoe nordwestlich von Jekaterinburg entspringende Iset’ in den To-bol mündet. Hier hielt sich Messerschmidt zusammen mit seinen Reisegefährten eine Woche lang auf, „umb der Mogilen wegen mich zu erkundigen“,332 d. h. um nach „Rari-täten“ aus – oftmals schon ausgeraubten – Gräbern – russ. могила – zu forschen. Weiter ging es am 18. Juli. Den „Isset-Strohm auffwerts“ ziehend, gelangte die Gruppe schließ-lich am 24. Juli „nach Issetskoi-Slobod am Terenkul-Ozero und Isset Ströhmen“,333 d. h.

zu der im Quellgebiet der Iset’, nahe dem See Terenkul’ gelegenen Ansiedlung – russ.

слобода – Isetskoe. „Hieselbst wurde die Dostschenick, wegen sehr seichten Grundes an die Pricass abgelieffert, und Anstalt zur Wagen Reise gemacht“.334

Diese „Anstalt“ währte bis zum 2. August, an welchem Tage die Reisegesellschaft sich von neuem auf den Weg machte, nunmehr „mit Wagen à 14 Podwod“, d. h. à 14 Fuhrknechte. Es ging „Vorlängst dem Isset„fluße auffwerts“ über den See Terenkul’ und zahlreiche weitere Stationen „nach Kamenkoi-Sselessnÿ Sawod am Kamenka und Isset Strohme in Sibirien“,335 d. h. zu dem am Zusammenfluss der Iset’ und der Kamenka gele-genen Eisenhüttenwerk – russ. железный завод –, wo die Reisenden am 15. August ein-trafen. Dieses Werk war 1701 gemäß einem Ukas des in Tobol’sk residierenden Gouver-neurs gegründet worden. Hier kam es nun zu einem Aufenthalt, der länger als drei Monate dauern sollte: „Hieselbst muste einige Wochen stille liegen, umb die Außfertigung nach Hoffe zu machen, und folglich den Schlittweg abzuwarten“.336 Bei dieser „Außfertigung“

329 So in der gemäß der modernen Schrift und Orthographie vereinfachten Wiedergabe in Басаргина et al.

2019, S. 225.

330 № 45.

331 Hodogeticum, S. 20r.

332 Indiculus, S. 7r.

333 Hodogeticum, S. 20r.

334 Indiculus, S. 7r f.

335 Hodogeticum, S. 20r.

336 Indiculus, S. 8r.

8 Erste Expedition Juni bis Dezember 1720 129 handelte es sich um den v. Rapport, den Messerschmidt am 2. November abschloss und unterschrieb.337 Mit diesem Dokument werden wir uns noch näher zu beschäftigen haben.

Von Kamenka aus konnte Messerschmidt mit Vasilij Nikitič Tatiščev und Johann Friedrich Blüher Kontakt aufnehmen. Am 21. November wurde von dem Kommandan-ten I. S. Musin-Puškin ein Dragoner nach Kungur – und zurück – entsandt „mit Briefen an Herrn Bergmeister Blüher“. Bei diesen Briefen handelte es sich offenbar um Beilagen zum v. Rapport, den Messerschmidt unter Mithilfe Blühers nach St. Petersburg zu expe-dieren gedachte.338

Als die Expeditionsteilnehmer am 22. November weiterzogen, war tatsächlich der Winter eingebrochen, weshalb die Reise nunmehr „mit Schlitten à 14 Podwod“ vonstat-ten ging, „längst-hin den Isset„fluß auffwerts“ bis „nach Uctuss-Ssawod am Uctuss reçz-ka in Sibirien“,339 d. h. zu einem weiteren, am Uktus, einem knapp 9 km langen rechten Zufluss der Iset’ bei Jekaterinburg gelegenen, 1702 gegründeten Eisenhüttenwerk. Dort langte die Expedition bereits am 24. November an. „Hieselbst einige Tage still gelegen, die Sawod in Augenschein zu nehmen“.340 Am 29. November nahm der Kommissar Ti-mofej Matveevič Burcev ein versiegeltes Paket in Empfang „von Herrn Doktor Daniel Andreevič“ und sandte es am selben Tag weiter „nach Kungur an den Herrn Bergmeister Blüher“.341 Меsserschmidt selbst gelangte nicht nach Kungur, da dieser Ort in der ihm in Tobol’sk ausgehändigten „Podoroschna“ nicht berücksichtigt worden war. Durch Vermitt-lung des kriegsgefangenen schwedischen Offiziers Philipp Johann von Strahlenberg342 hatte er immerhin den „Grund=Riß des Labÿrinthes beÿ Kungur“, d. h. der dortigen Eis-höhle erhalten. Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, hat Messerschmidt diesen „Abriß eines unweit der Stadt Kungur befindlichen felsichten Labyrinthes“ als letztes der von ihm zusammen mit dem iv. Rapport nach St. Petersburg geschickten „Spe-cimina“ verzeichnet.

Von Uktus aus ging es ab dem 2. Dezember „Längst-hin dem Isset„fluße aufwerts über Uctus réka“, d. h. über den Uktus, und weitere Stationen und Flussüberquerungen

„nach Kathaiskÿ-Slobod am Isset„fluße in Sibirien“.343 Ankunft dort am 5. Dezember.

„Hieselbst einige Tage still gelegen, satsam die Nachrichten einzuziehen“.344

337 № 86.

338 Vgl. Тункина, Савинов 2017, S. 39.

339 Hodogeticum, S. 20v.

340 Indiculus, S. 8r.

341 Vgl. Тункина, Савинов, S. 40. – Zu dem „Erzprobierer“ Blüher vgl. außer der im 6. Kapitel, Fußnote 277, genannten Literatur auch Baer 1872, S. 10 f.; Рожковъ 1884; Курлаев 2006; Юркин 2016; Yurkin 2020.

– Zur Bedeutung von Messerschmidts Erkenntnissen über Kupfervorkommen im Ural, von Eisen in der Umgebung von Tobol’sk sowie von Silber in der Umgebung von Nerčinsk vgl. Black 1986, S. 48.

342 Zu v. Strahlenberg vgl. das 9. Kapitel.

343 Hodogeticum, S. 20v.

344 Indiculus, S. 8r.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 130

Nach viertägigem Aufenthalt traten die Reisenden am 9. Dezember die nächste Etap-pe ihrer ExEtap-pedition an, zogen „mit Schlitten a 14 Podwod“ „vorlängst den Isset„fluße ab-werts“, bis sie am 14. Dezember „nach Turssuck-Slobod am Isset Fluß“345 gelangten. Be-reits am folgenden Tag ging es weiter, immer noch „Längsthin den Isset„fluß abwerts“,346 wieder über den See Terenkul’ und zahlreiche weitere Stationen „nach Turachanskoi-Ostrog, überm Tura-reka-ostio am Tobol-Strohme in Sibirien“,347 wo die Reisenden am 25. Dezember eintrafen. Ohne weiteren Aufenthalt wurde noch am selben Tag die letzte Reiseetappe angetreten, bis die Expedition schließlich am vorletzten Tag des Jahres 1720 wieder „nach der Sibirischen Gouvernements Stadt Tobolskoj, am Tobol flußes ostio zum Ærtess oder Irtiss Strohme in Sibirien“348 gelangte. „Hieselbst muste zweÿ Monath über-wintern, und neue Abfertigung in die Unter Städte Sibiriens erwart[en]“.349

Kurz vor der Rückkehr nach Tobol’sk war es in Jalutorsk zu einem – aus heutiger Sicht – befremdlich anmutenden Geschehen gekommen. An diesem Tag hatte der an-alphabetische Bauer Stepan Grigor’evič Putimcov – in der Literatur begegnen auch die Namensformen Putimcev, Sutimcev und Sutincev – in Anwesenheit von drei Zeugen eine sogenannte „zaemnaja kabala“ – russ. заемная кабала –, d. h. einen „gerichtlichen Schein über den Besitz eines Leibeigenen“,350 unterfertigt, der gemäß er gegen zwölf Silberrubel seinen fünfzehnjährigen Sohn Ivan – später oft „Wanka“ genannt – Messer-schmidt überließ, wobei Ivan verpflichtet wurde, „stets in jeglichem Gehorsam und De-mut bei ihm, Doktor Daniel, zu leben, nicht zu trinken, keine Völlerei zu treiben und nicht zu stehlen. Und er, Daniel, soll meinen Sohn Ivan bei sich behalten, ihm zu trinken und zu essen geben, ihn vor jeglichem Ungemach bewahren und ihn nach dem Maß sei-ner Schuld gemäß seinem Dafürhalten bestrafen“.351 Mit anderen Worten: Messerschmidt war Herr eines Leibeigenen geworden. Drei Jahre später, am 11. Februar 1724, sollte er in Irkutsk den inzwischen herangewachsenen Ivan einem Handelsmann gegen 16 Rubel verkaufen.

Nachdem wir uns die Route von Messerschmidts „Probeexpedition“ vergegenwärtigt haben, sind wir natürlich daran interessiert, zu erfahren, was der Forschungsreisende im Verlauf dieser Expedition erlebt, womit er sich beschäftigt, was für Forschungsaufga-ben er sich gewidmet hat. Im „Indiculus generalis Itinerum“ finden wir dazu nur ganz knappe und allgemein formulierte Angaben, die bereits fast alle angeführt worden sind.

Aus etlichen Hinweisen wissen wir – und können es uns anders auch gar nicht vorstellen –, dass Messerschmidt bereits seit November 1718 gewissenhaft Tagebuch geführt hat.

345 Hodogeticum, S. 20v.

346 Hodogeticum, S. 21r.

347 Hodogeticum, S. 21r.

348 Hodogeticum, S. 21r.

349 Indiculus, S. 9r.

350 Pawlowsky 1900, S. 520.

351 Vgl. Тункина, Савинов 2017, S. 42 f.

8 Erste Expedition Juni bis Dezember 1720 131 Leider sind diese bis zum 21. März 1721 reichenden Aufzeichnungen verloren gegangen.

„Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den von E. N. Fuß auf seine Expedition im Jah-re 1831 mitgenommenen Band, der in den Fluten der Lena versank“.352 Wir sind daher im Wesentlichen angewiesen auf den v. Rapport, den Messerschmidt am 2. November 1720 von Kamenskoe aus an Blumentrost gerichtet hat,353 sowie auf den unmittelbar nach der Rückkehr nach Tobol’sk am 2. Januar 1721 abgesandten vi. Rapport.354

Im ersten Abschnitt des v. Rapports beschreibt Messerschmidt in aller Ausführlichkeit die Schwierigkeiten, die ihm „die Tobolskische Pricass“ im Hinblick auf die Übersen-dung eines „wol versiegelten Kästlein“ an den Empfänger des Rapports, also an Blu-mentrost, „nach Fortrückung einer Tagereisen“ bereitet hatte, als ein von dieser Behörde

„abgeordneter Schreiber mir nachgesendet wurde, nebst Vermelden, wie man dergleichen Sachen also versiegelt nicht fortschaffen würde, sondern in offentlicher Pricass müsten in Augenschein genom̅en werden“. Weiter legt er seine Bemühungen dar, diese Ange-legenheit zu regeln. „Wie weit nun diese gebührende Remonstration so von Seiten Ew.

HochEdelgebohrnen zu geben schuldig gewesen, möge Ingress gefunden haben, werden Sie selbst beßer beÿ deßen Uberlieferung ersehen“.

In Bezug auf „meine Abfertigung zu dieser Reise“ beklagt sich Messerschmidt dar-über, „daß selbige zufolge des zweÿdeütigen Schlußes in der letzten Ouckass von St. Pe-tersburg, abgefaßet, in nichts weiter bestehet alß in einer bloßen Podoroschni auf Schuß“, also einem behördlich genehmigten und vorgeschriebenen Routenplan samt Anweisung zum Fahren mit Spannpferden – russ. подорожная –, mit der Anweisung, „mit meinen an der Zahl nemlich wie in St. Petersburg beÿ mir habenden Knechten, auf alle Weise, und zwar nur am Tobol und Iset Strohme mich fortzuschaffen, ohne Beÿhülfe anderer adroiten Persohnen so ich doch ohne Unkosten fürgestellet; noch auch weiters speciellen Befehl an Ihre untersichhabende Commendanten, Pricassiki und Schreibern, vermöge deßen Sie mir an jedem Orte mit erfahrnen und des Landes kundigen einheimischen Wegweisern hätten können behülflich gewesen seÿn“. Daher sei er „hin und wieder, sonderlich in Kamenka, für einen particulär Reisenden“ gehalten worden, „so auf selbst erbethene Po­

doroschni, ohne Befehl das Land durchsähe“, „und so oft ich mich nur ernstlich bemühet einige genaue Nachrichten von Pflantzen, Thieren, sonderlich aber von mineralischen Dingen und Mogillen einzuziehen, die Commendanten mich alsofort zur Podoroschni weisen, worinnen nicht stünde mir Nachricht von Ihres Landes Güte und Beschaffenheit zu geben, wol aber meinen Weg so wie ich ihn gekom̅en weiter fortzuschaffen, alß woran von Ihrer Seiten nichts ermangeln solte: Wenn ich aber von Hofe oder auch nur von To­

bolski, beordert wäre, würde es mir keines Weges an gültigen Ouckassen fehlen, und Sie so dann auch zu allem Gehorsam schuldig seÿn“.

352 W. Winter, N. A. Figurovskij in der Einleitung zu Messerschmidt 1962, S. 8.

353 № 86.

354 № 91.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 132

Da Messerschmidt bereits an die von ihm geplante große Expedition durch Sibirien denkt, befürchtet er, dass man ihm dort, „an den anderen, noch mehr entferneten Örtern gegen Tomskoë und übrigen Plätzen des Siberischen Gouvernements, alß woselbst inste-hendes Jahr das Meiste und Fürwahrste355 zu suchen seÿn dörfte, tausend Hindernüße und Verdrießlichkeiten machen werde, daferne nicht ernstlich fürgebauet wird“. Und daher ersucht er seinen Vorgesetzten, dieser möge „hochgeneigt alles zu disponiren geruhen, daß Dero mir fürmahls übersandte und vielleicht noch bevorstehende wolgemeinte Ou­

ckassen nicht gäntzlich ohne Effect verbleiben mögen“.

Ungeachtet aller „Hindernüße und Verdrießlichkeiten“ hat Messerschmidt – selbstver-ständlich – „auf dieser Reisen umb den Iset-Strohm biß Kamenka alles fleißig annotiret, waß mir nur von Mineralien Pflantzen und Thieren, zwar ohne Nachrichten und Wegwei-ser fürgekommen. Wie denn in antecessum einige ObWegwei-servationes circa Volatilia in regno animali hiebeÿ ergehen, so gut ich selbige auß meinen Pugillaribus ohne Beyhülfe eines geschickten Copisten an einem so abgelegenem einsamen Orte in Eile zusam̅ensetzen können“. „Die übrigen, nach denen im Catalogo benandten Titel und noch täglich mehr und mehr anwachsende, werde nach Gelegenheit in geschickte Ordnung zu setzen, und beÿ meiner, Gott gebe, glücklicher Zurückkunft, nebst anderen zu Dero hohen Händen gehorsamst zu offeriren schuldig seÿn“. In einem Ausblick auf die große Sibirienexpedi-tion, die er noch in diesem Winter anzutreten gedenkt, gibt er zum Schluss der Hoffnung Ausdruck, dass die hierfür erforderliche „Außfertigung so geschiehet, alß ich Sie nöthig befinden werde“, und er seines Vorgesetzten „Hochgeneigte Ordres und dabeÿ höchst nöthige Instructions noch in Tobolski oder sonst“ erhalten werde.

Werfen wir einen Blick auf Messerschmidts nach St. Petersburg übermittelte „Obser-vationes circa Volatilia in regno animali“. Vorangestellt ist diesen „Obser„Obser-vationes“356 ein Zitat, das Messerschmidt dem zweiten Band der „Ornithologiæ libri tres“ des englischen Naturforschers Francis Willughby (1635-1672) entnommen hat:

Descriptiones generales, breves et imperfectæ, â rudioribus et in rerum natura-lium descriptione minùs versatis, animalia negligenter et incuriose observando concinnatæ, magnam sæpe confusionem pepererunt, plurimis quoqve erroribus, et non necessariæ specierum multiplicationi occasionem præbuerunt., d. h. All-gemeine, kurze und unvollständige Beschreibungen, wie sie von ungeschickten und im Hinblick auf die Beschreibung von Gegenständen der Natur unerfahrenen Menschen aufgrund unachtsam und nachlässig angestellter Beobachtung von Tie-ren angefertigt worden sind, haben oft große Verwirrung hervorgerufen und auch Anlass zu zahlreichen Irrtümern und zu einer nicht notwendigen Vermehrung der Arten abgegeben.

355 Fehllesung statt korrekt „fürnehmste“.

356 Relationes-1, S. 58r-65v.

8 Erste Expedition Juni bis Dezember 1720 133 Indem Messerschmidt dieses Zitat anführt, macht er deutlich, dass er selbst seine ornitho-logischen Beobachtungen mit großer Sorgfalt anzustellen und die aus ihnen resultieren-den Beschreibungen ausführlich und präzise zu formulieren bestrebt ist. Dieses Bestreben verwirklicht er in zwei Schritten. Im ersten Schritt legt er seinem St. Petersburger Vor-gesetzten „AVIUM | In Siberiæ Regno observatarū | ENUMERATIONES | Methodo inter Ornithologos | recepta | consignatae“ vor, genauer gesagt, ein mehrsprachiges Verzeich-nis der Namen von 52 Vogelarten, die er auf seiner ersten Expedition beobachtet, d. h. se-ziert und beschrieben hat. An erster Stelle steht jeweils der russische Name in kyrillischer und – eingeklammert – in lateinischer Schrift, danach die lateinische Bezeichnung. Auf-geführt werden auch der jeweilige schwedische, der englische und der deutsche Name, in etlichen Fällen auch der griechische und der tatarische; vgl. folgende Beispiele:

1.) Орє́лъ (: Oréel :) Russorum. Aqvila Morphnos seu Clanga, Anataria dicta, &

Nævia Willughb. Morphno congener Aldrov. Svecis Örn. Anglis Eagle; Germanis Ein kleiner Adler. Tattarica appellatione Kara-gùsch in Slavonicam transsumptâ КараГýжъ.

2.) Ѩстрє́бъ (: Jastréb :) Russ. Accipiter Pygargus; Subbuteo Turneri; Albicilla Gazæ; Tattaris HKartschegàh. Svecis Höök. Angl. a Ringtail, a Henharrow a Hen-harrier. Germ. Ein Maüse„Habicht. [...]

11.) Краснопє́строй Дя́тєль (: Krasnopéstroi Dǽtel :) Russ. Picus varius major, rubicauda. Svec. Stoor Brokot Hackespÿk. Angl. a Greater spotted Woodpecker, Woodspite etc. Italis Cul-rosso. Germ. Ein Roth„Specht. [...]

31.) Гагáра Большáя Бє́зъ хохлà С хвостомъ, Мужычє́къ (: Gagára bolscháæ beschochlà S-chwostóm, Mudsizék :) Russ. Colymbus podice palmipes caudatus, maximus, mas. Colymbus arcticus Wormii & Clusii. Turco-Tattar. Tschomgàh.

Svec. Lomm Danis Lumme. Anglis a Loon, a Diver, an Arsfoot an Arsfoot-Diver, Germ. Eine Lumbe, Eine See„fluder. [...]

49.) Гоголь Єзєрнóй (: Gógol Esernói :) Russ. Anas fera capite subruffo minor Gesn. Anas fera fusca alia Aldrov. p. 222. Clangula minor, lacustris. Germ. Eine kleine Schell„Ente- Svec. knÿpa.

50.) Гóголь Рєчнóй (: Gógol Retznói :) Russ. Anas fera capite subruffo major Mas. Clangula Gesneri. Clangula major fluviatilis, Mas; Anas Platyrynchus mas Aldrov. p. 225. Italis Qvattro Occhii: Angl. a Golden-Eye; Germ. Eine große Schell„Ente; Ein weißer Drittvogel. Svec. Knÿpa.

Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) 134

51) Чирóкъ (: Czirock :) Russ. Qverqvedula Anatini generis ferè minima.

An-Qverqvedula secunda Aldrov? Svec. kricka. Angl. a Teale. Germ. Eine krieck„Endtchen.

52:) Дя́тєль Златы́й трипє́рстный Нєправє́лный; Мужычє́къ. (: Dætel Slatűi tripérstnűi, Ne-prawélnűi, Mussizék :) Russ. Picus Sibericus varius, tridactylus, anomalos, vertice aureo; Masculus. Ein bunter Gold„Specht.

Dieser Aufzählung folgt im zweiten Schritt eine sehr ausführliche, vorwiegend in latei-nischer Sprache gehaltene Beschreibung der unter den Nummern 31 (4⅓Seite), 39 (1⅔ Seite) und 52 (5⅓ Seiten) angeführten Arten. Diese drei Beschreibungen können wir als eine Art Muster ansehen, als ein Muster dafür, wie sich Messerschmidt ganz allgemein die Ansprüche vorgestellt hat, denen eine wissenschaftliche Beschreibung von Vogelarten zu genügen habe.357 Dass er dieses Muster während des relativ kurzen Aufenthalts in Ka-menka nicht auf alle 52 von ihm verzeichneten Vogelarten anzuwenden vermochte, wird ihm selbst sein anspruchsvoller Vorgesetzter wohl kaum verübelt haben. Und im übrigen hat Messerschmidt dieses „Versäumnis“ bereits im Mai 1722 mit seinen insgesamt 137 Vogelarten umfassenden „AVIUM | In Sibiriæ Regno reperiundarum | LUSTRATIONES“

sowie später in dem neun-, ursprünglich zehnbändigen „Ornithologicum Sibiricum“ mehr als gutgemacht. In Kapitel 21, in dem es um die Anfänge der Wirkungsgeschichte von Messerschmidts Sibirienexpedition geht, wird aufgezeigt werden, dass durch Blumen-trosts Vermittlung aller Wahrscheinlichkeit nach der Zar höchstpersönlich von Messer-schmidts erstem Forschungsergebnis Kenntnis erlangt hat, woraus sich dann weiter eine im selben Kapitel vorgestellte „Haupt- und Staatsaktion“ ergeben sollte.

Um dem Leser eine Vorstellung von Messerschmidts drei „Musterbeschreibungen“ zu vermitteln, werden diese im 22. Kapitel in voller Länge abgedruckt.

357 Vgl. die vollständige Wiedergabe dieser Beschreibungen samt dem ihnen vorangehenden mehrsprachigen Verzeichnis der Namen von 52 Vogelarten im 22. Kapitel.