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Problematik der Operationalisierung kognitiver Hemmung

2 Diskussion des Hemmungsdefizit-Ansatzes

2.3 Problematik der Operationalisierung kognitiver Hemmung

Ein zentrales Problem der Messung kognitiver Hemmungsprozesse liegt in ihrer engen konzeptionellen (funktionellen) Verknüpfung mit Aktivierungsprozessen, die eine empirische Trennung sehr schwierig macht. Bereits Titchnener (1911) erschienen Hemmungsprozesse empirisch widerspenstig, denn nach seiner Ansicht operieren sie auf einer niedrigeren Bewusstseinsebene, d.h. sie liegen in gewissem Sinn mehr im Dunkeln und sind daher schwerer zu beobachten als Aktivierungsprozesse (Dempster, 1993). (Auch wenn heute nicht mehr von verschiedenen Bewusstseinsebenen gesprochen wird, ist der Umgang mit Hemmungsvorstellungen noch nicht so selbstverständlich wie mit Aktivierung, deren Existenz allein durch jedes von Personen geäußerte Verhalten anscheinend notwendig bewiesen ist.)

Eine Aussage von Tipper (2001) macht deutlich, dass auch noch 90 Jahre später Schwierigkeiten bestehen, kognitive Hemmungsprozesse zu erfassen: „inhibitory control, so crucial for coherent behaviour, is difficult to directly measure in normal human subjects.

Therefore it has been necessary to develop indirect measures such as priming techniques." (S.

207). Vor diesem Hintergrund entwickelte Tipper (1985) das sogenannte „Paradigma". Am Beispiel der Entwicklung der Erklärungskonzepte zum Negative-Priming-Paradigma soll die Problematik der Messung von Hemmungskonzepten verdeutlicht werden.

Das Negative-Priming-Paradigma galt lange als „key marker" kognitiver Hemmung (z. B. Houghton & Tipper, 1994; May et al., 1995; Verhaeghen & DeMeersmann, 1998). In einem typischen Negative-Priming-Experiment bekommen die Probanden eine Serie aufeinanderfolgender Displays gezeigt und müssen jeweils auf einen Zielreiz antworten und einen Distraktorreiz ignorieren. Dabei kommt es zu einer verlangsamten Reaktion, wenn der Distraktorreiz eines vorangegangenen Displays (Prime-Trial) zum aktuellen Zielreiz (Probe-Trial) wird. Nach der ursprünglichen Interpretation ist die verzögerte Reaktion in der Negative-Priming Bedingung die Folge eines Hemmungsmechanismus, der eine Verringerung des Aktivationsniveaus der internen Repräsentation des Distraktors bewirkt. Muss der Distraktor im nächsten Trial beantwortet werden, ist zusätzliche Zeit erforderlich, um den Aktivationsnachteil zu überwinden (z. B. Houghton & Tipper, 1994). Je stärker der Distraktor unterdrückt wird, desto länger dauert es, anschließend auf ihn zu reagieren. Das Ausmaß dieser Verlangsamung, die als Negative-Priming-Effekt bezeichnet wird, galt demzufolge als ein Index für die Effizienz von Hemmungsmechanismen.

Da der Negative-Priming-Effekt bei jungen Erwachsenen stabil gezeigt werden kann und sich gegenüber allen möglichen Veränderungen bezüglich des verwendeten Materials und verschiedener Modalitäten als sehr robust erweist (Fox, 1995; May et al., 1995), schien das Negative-Priming-Paradigma dafür prädestiniert, ein Hemmungsdefizit im Alter nach-zuweisen. Als verschiedene Autoren die erwarteten Altersunterschiede in Form fehlender Negative-Priming-Effekte älterer Personen tatsächlich fanden, wurde das von Zacks und Hasher (1994) als Bestätigung ihres Ansatzes interpretiert (Hasher, Stoltzfus, Zacks &

Rympa, 1991; McDowd & Oseas-Kreger, 1991; Stoltzfus, Hasher, Zacks, Ulivi & Goldstein, 1993; Tipper, 1991). In den folgenden Jahren intensiver Forschung zu diesem Paradigma haben sich jedoch heterogene Befunde angesammelt, die immer wieder zu veränderten bzw.

neuen Erklärungskonzepten des Negative-Priming geführt haben. Hier sollen nur die für die Altersperspektive besonders relevanten Eckpunkte dieser Entwicklung skizziert werden.

Eine Differenzierung der Funktionsmodelle zum Negative-Priming ergab sich aus einer Studie von Connelly und Hasher (1993), die in einer Anforderung, bei der Zielreiz und Distraktorreiz auf Grund ihrer Lokalisation unterschieden werden mussten, keinen Unter-schied zwischen alten und jungen Erwachsenen feststellten. Musste jedoch in einer sogenannten Identifikationsanforderung der Zielreiz benannt werden, dann wurde nur bei Jungen ein Negative-Priming-Effekt gefunden. Das führte zu der Annahme, dass an beiden Anforderungen unterschiedliche Hemmungsmechanismen beteiligt sind, die an verschiedene

neuronale Verarbeitungswege (vgl. hierzu Ungerleider & Mishkin, 1982) gebunden sind.

Demzufolge soll ein für die Unterdrückung räumlicher Positionen verantwortlicher Ver-arbeitungsmechanismus im occipitoparietalen System verankert und altersinvariant sein. Ein an der Unterdrückung der Identität eines Zielreizes beteiligter Hemmungsmechanismus soll dagegen im occipitotemporalen System angesiedelt sein und im Alter nachlassen.

Da jedoch in einigen Studien auch bei Identifikationsanforderungen keine Alters-unterschiede im Negative-Priming gefunden wurden (z.B. Kramer et al., 1994; Sullivan &

Faust, 1993) entwickelten May et al. (1995) den sogenannten Zwei-Mechanismen-Ansatz, der auf Ideen von Neill und Valdes (1992) zurückgreift. So nahmen May et al. (1995) an, dass Negative-Priming in Abhängigkeit von bestimmten Randbedingungen entweder von einem Hemmungsmechanismus oder, wie von Neill und Valdes (1992) vorgeschlagen, von einem automatischen Abrufmechanismus hervorgerufen werden kann. Da der Abrufmechanismus nicht im selben Maß von Altersdefiziten betroffen sein sollte wie der Hemmungs-mechanismus, war es möglich, das Auftreten von Negative-Priming Effekten bei älteren Erwachsenen auch in Identifikationsanforderungen zu erklären, ohne die Theorie von Hemmungsdefiziten im Alter aufgeben zu müssen.

Neuere Studien stellen allerdings dieses Modell wieder in Frage, da sie für ältere Personen auch dann Negative-Priming beobachtet haben, wenn Randbedingungen vorliegen, die laut Zwei-Mechanismen-Ansatz zu hemmungsbasierten Negative-Priming-Effekten führen sollten (z. B. Grant & Dagenbach, 2000; Pesta & Sanders, 2000; Schooler, Neumann, Caplan & Roberts, 1997). Aktuelle theoretische Ansätze zur Erklärung des Negative-Priming-Phänomens kommen inzwischen sogar ganz ohne die „klassischen“ Hemmungsvorstellungen aus (Milliken, Joordens, Merikle & Seiffert, 1998; Neill, 1997), oder sehen wie Tipper (2001) den Effekt immer als eine Koproduktion von Hemmungs- und Abrufprozessen.

Trotz der ständigen Weiterentwicklung von Funktionsmodellen zum Negative Priming und dem Versuch, die spezifischen Randbedingungen zu ermitteln, unter denen der eine oder andere Verarbeitungsprozess zum Negative Priming führt, ist eine klare Trennung zwischen Hemmungsmechanismen und Alternativerklärungen beim Negative-Priming bisher nicht gelungen. Es erscheint zum jetzigen Zeitpunkt keine Aussage darüber möglich, inwieweit ein spezifischer Negative-Priming-Effekt tatsächlich das Wirken kognitiver Hemmungs-mechanismen abbildet. Diese Problematik führte Zacks und Hasher (1997) zu der Aussage, dass “negative priming is clearly not the precise inhibitory measurement tool that it seemed it might be in 1985 (Tipper, 1985; Tipper & Cranston, 1985)” (S. 270).

Die „Geschichte” des Negative-Priming unterstreicht, dass der von Burke (1997) vorgeschlagene Weg einer Präzisierung der Modellvorstellungen zur Wirkungsweise von Hemmungsmechanismen (siehe Kapitel 2.2) in Hinblick auf die Überprüfung des Hemmungsdefizit-Ansatzes im Alter dringend notwendig erscheint. So lange sogar aus dem Blickwinkel der Allgemeinen Psychologie unklar ist, welche Form von Hemmung einem spezifischen Paradigma zugrunde liegt, sind aus der Anwendung dieser Paradigmen in gerontopsychologischen Populationen schwerlich Aussagen über potenzielle Hemmungs-defizite im Alter zu gewinnen. Die Hoffnung auf valide und reliable Instrumente zum Nachweis kognitiver Hemmungsdefizite im Alter kann demzufolge nur mit Hilfe von präzisen, auf das jeweilige Paradigma zugeschnittenen Funktionsmodellen über die vermuteten Hemmungsmechanismen erfüllt werden und setzt ein empirisches Vorgehen voraus, welches den Ausschluss von Alternativerklärungen ermöglicht.

2.4 Zusammenfassung

Trotz seiner integrativen Qualitäten und seines Erklärungspotentials (siehe Kapitel 1.4) ist der Hemmungsdefizit-Ansatz wachsender Kritik ausgesetzt. Nachdem Hasher und Zacks (1988) die Ablösung des Ansatzes im Alter begrenzter Ressourcen gefordert hatten („it may be time to reconsider the heavy reliance on reduced capacity views in cognitive gerontology”, [S.208]), weil sie seine Theorie als rudimentär einstuften, steht der Hemmungs-defizit-Ansatz heute selbst im Verdacht, den dabei aufgestellten Kriterien nicht genügen zu können (z.B. Burke, 1997; McDowd, 1997).

So ist es bisher offen, ob man von einem Basismechanismus kognitiver Hemmung oder von verschiedenen Prozessen mit ähnlichen Auswirkungen ausgehen muss. Obwohl verschiedene Argumente gegen einen gemeinsamen Basismechanismus sprechen (mangelnde Korrelation verschiedener Hemmungsmaße, unterschiedliche Entwicklungsverläufe in Kindheit und Alter, verschiedene Einflüsse psychopathologischer Störungen und unterschiedliche neurologische Korrelate), lässt die mangelnde Konstruktvalidität keine abschließende Klärung der Frage zu. Die verwendeten Hemmungskonzepte unterscheiden sich zum Teil erheblich und agieren auf verschiedenen theoretischen Erklärungsebenen.

Ähnlich wie der von Hasher und Zacks kritisierte Ansatz begrenzter Ressourcen steht heute der Hemmungsdefizit-Ansatz vor der Schwierigkeit, keine spezifischen Aussagen darüber zu treffen, wie Hemmungsmechanismen auf die Informationsverarbeitung wirken.

Infolgedessen können Alternativerklärungen nicht ausgeschlossen werden, und für viele der angeführten Befunde ist nicht geklärt, ob überhaupt bei jungen Erwachsenen Hemmungs-mechanismen an den Effekten beteiligt sind. Dementsprechend ist das Problem einer validen und reliablen Messung von Hemmungsmechanismen nur unzureichend gelöst, und die Tauglichkeit dieser Paradigmen für den Nachweis von Hemmungsdefiziten im Alter muss bezweifelt werden.

Da Messprobleme nicht der Theorie anzulasten sind und die Plausibilität der Annahme von Hemmungsmechanismen im Funktionsgefüge des kognitiven Systems trotz aller Kritik unbestritten ist, sollte weiter um den Nachweis gerungen werden, dass wirklich Hemmungs-defizite als zentrale Ursache für Leistungsveränderungen im Alter verantwortlich sind. Allein die Argumentation im Sinne eines integrativen Modells (Zacks & Hasher, 1997), das möglichst viele Befunde erklären kann, reicht dafür nicht aus. Solange der Einsatz von Hemmungskonzepten eher eine Frage des theoretischen „Geschmacks“ ist als eine empirisch begründete Notwendigkeit, ist auch das Argument der theoretischen Sparsamkeit (Underwood, 1957) nicht schlagkräftig.

Für die Weiterentwicklung des Hemmungsdefizit-Ansatzes erscheint es daher sinnvoll, ihn zunächst an Paradigmen zu überprüfen, bei denen die Beteiligung von Hemmungsmechanismen auch aus allgemeinpsychologischer Perspektive gut abgesichert ist.

Auf dieser Basis könnte dann eine Präzisierung und eventuell damit verbundene Modifikation des Hemmungsdefizit-Ansatzes erfolgen. Durch konkrete Funktionsmodelle müsste eine Verbindung von Hemmungskonzepten auf der Verhaltensebene, wie sie bisher in den meisten Ansätzen vorherrschen, zu Hemmungskonzepten auf der theoretischen Ebene hergestellt werden, da die Vorstellungen von einer im Alter nachlassender Hemmungseffizienz letztlich eng an die Erkenntnisse zur Hirnalterung gebunden sind.

Im Sinne der angestellten Überlegungen soll im folgenden Kapitel geprüft werden, inwiefern es sich beim Directed-Forgetting um ein zur Erfassung kognitiver Hemmungs-mechanismen geeignetes Paradigma handelt.