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Teil IV: Politisch-kulturelle Hintergründe

11.5 Politische Partizipation

Die individuellen Freiheitsrechte in einem liberalen Rechtsstaat werden durch die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen garantiert, für deren Ausarbeitung und Umsetzung die Repräsentativorgane zuständig sind. Die Übergabe dieser Verant-wortung in die Treuhand der Repräsentanten wird mit der Effektivität der Bearbei-tung begründet: Je mehr die Bürger sich in die Entscheidungsverfahren der Exper-tengremien einbringen, desto schwieriger ist es für die Spezialisten, die Gesetze sachgerecht auszuarbeiten und anzuwenden.753

In der deutschen obrigkeitsstaatlichen Tradition sieht man also die Garantie indivi-dueller Freiheiten in der Aufhebung der partikularen Individualität durch die unbe-streitbare Allgemeingültigkeit der staatlichen Gesetzgebung. Dieses Denken beein-flusst bis heute die Entstehung der Interessenverbände und anderer Bürgerinitiati-ven in Deutschland. Die politischen Interessen der deutschen Bevölkerung werden deshalb viel mehr indirekt durch Parteien und andere politische Institutionen vertre-ten als, wie in den USA, durch Selbstorganisation der Bürger. Beispielsweise kann man dies an den im Vergleich zu den USA quantitativ und qualitativ weniger ausgeprägten Aktionen gegen die staatlichen Videoüberwachungsmaßnahmen erkennen. So wie viele andere politische Angelegenheiten übernimmt auch der Staat (in Form von Datenschutzbehörden) in diesem Fall die Kontrollaufgabe über die Rechtmäßigkeit des Ablaufes zur Videoüberwachung in Deutschland, während diese in den USA von den gut organisierten Bürgerrechtsgruppen durchgeführt wird. Die politische Teilnahme auf lokaler Ebene in der Bundesrepublik ist insgesamt, im

753 Münch (2000b), S. 17 f.

Teilnahme auf lokaler Ebene in der Bundesrepublik ist insgesamt, im Gegensatz zu angelsächsischen Gesellschaften, wenig ausgeprägt.754 Zwar gibt es zahlreiche Bür-gerinitiativen und -bewegungen in der Bundesrepublik, sie sind aber überwiegend von allgemeinen Ideen ökologischer Art oder lokal-politischen Anlässen geprägt, wie z.B. Friedensbewegungen, Abrüstungs- und Umweltschutzinitiativen, Bürgerinitiati-ven gegen Schließung von Schulen oder Errichtung von Flughäfen. Im Bereich der Bürgerrechtsbewegungen, vor allem solchen gegen die öffentliche Videoüberwa-chung, ist die politische Partizipation seitens der Bevölkerung vergleichsweise wenig ausgeprägt.

Richard Münch hat in seiner vergleichenden Untersuchung über die verwaltungsge-richtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen in den USA und Deutschland festgestellt, dass in Deutschland bei Genehmigungsverfahren ein kartellartiges Netzwerk zwischen Staat und Großverbänden die Entscheidungen in die Hand nimmt, wobei es für die neu formierten Vereinigungen und sozialen Bewegungen schwer ist, in den inneren Kern des geschlossenen Genehmigungskartells einzudrin-gen. Sie haben praktisch kaum Einfluss auf die Entscheidungsprozesse. Es ist deswe-gen schwierig für deutsche Interessengruppen, in der öffentlichen Diskussion Fuß zu fassen. Wenn die Interessengruppen Medienaufmerksamkeit gewinnen und in die öffentliche Diskussion einbezogen werden wollen, müssen sie auf sachlicher Ebene ihre Kompetenz beweisen, da sie sonst wenig Gehör finden.755 Wer nicht über das Fachwissen verfügt und keine rationalen Argumente vorbringen kann, wird mit den unsachlichen Laien gleichgesetzt. Der Policy-Prozess in der Bundesrepublik wird also vom sachlichen Diskurs der Experten bestimmt, der sich einer emotionalisierten Öffentlichkeit gegenüber sieht.756 Wie bereits geschildert wurde, sieht man in der Bundesrepublik die Gewährleistung individueller Freiheiten in den allgemeinen Ge-setzen, für deren Formulierung vor allem juristischer Sachverstand erforderlich ist.

In diesem Sinne werden öffentliche Diskussionen von Sachverständigen beherrscht.

Nach der vorangegangenen Analyse kann festgestellt werden, dass die wirksamsten Gegenkräfte gegen Maßnahmen der Videoaufzeichnung in Deutschland von den staatlichen Akteuren ausgehen. Zwar haben die von Bürgerinitiativen organisierten

754 Sontheimer; Bleek (1998), S. 179.

755 Ebenda, S. 179.

756 Jürgen Gerhards und Dieter Rucht konnten in ihrer Untersuchung über die Abtreibungsdebatten in den USA und Deutschland diese Eigenschaften der deutschen Politik bestätigen. Im Gegensatz zu den USA dominieren nicht die Bürgerrechtsgruppen, sondern die staatlichen Akteure und die Großver-bände viele Debatten in der deutschen Politik. Vgl. Gerhards; Rucht (2000), S. 165 ff. Auch in der Poli-tik der Luftreinhaltung können diese Merkmale des deutschen PoliPoli-tikstils festgestellt werden. Vgl.

Stark; Peters (2000); 181 ff; Münch; Lahusen (2000), S. 344 ff; Lahusen (2003), S. 84 ff.; 145 ff.; 305 ff.

Anti-Kamera-Demonstrationen in Leipzig zum Abbau einer Polizeikamera geführt, aber die durchgreifende Kontrolle wird über den parlamentarischen Weg, wie z.B.

von Oppositionspolitikern in Weimar, oder mittels gerichtlicher Entscheidungen, z.B.

in Biberach, ausgeübt. Im Vergleich mit US-amerikanischen Interessengruppen sind die deutschen Bürgerrechtsorganisationen sowohl in ihrem Umfang als auch in ihren Interventionsmöglichkeiten unterlegen. Zudem genießen sie viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit als die Datenschutzbeauftragten, die als staatliche Kontrollinstan-zen in den Entscheidungsprozessen über Kameraeinsatz eher involviert werden.

11.6 Zusammenfassung

Das Politikmodell in Deutschland ist gekennzeichnet durch Dominanz staatlicher Akteure und starke Akzentuierung des Rechts, wobei deren Ausformulierung und Anwendung auf dem Wissen der Fachleute basieren. Politische Entscheidungen werden deswegen vor allem in Expertengremien getroffen, zu denen zivilgesell-schaftliche Akteure nur schwer Zugang finden, da sie nicht über ausreichendes Fachwissen verfügen.

Auch die Politik der Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze in der Bun-desrepublik wird vor allem von staatlichen Institutionen gesteuert. Gebremst wird die Zunahme der Überwachungskameras überwiegend durch Vorbehalte mancher Polizeidienststellen oder durch die Kontrolle der Datenschutzbehörde. Als Konse-quenz aus den NS-Erfahrungen wird der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie der Rechtsgebundenheit staatlicher Handlungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Bemühungen zur Rückgewinnung von demokratischen, rechtsstaatlichen, ge-waltteilenden Grundprinzipien in einer neuen Staatlichkeit nach dem NS-Terrorregime kann man vor allem in der Wertegebundenheit der deutschen Verfas-sung sowie dem Aufbau eines Rechtsstaates sehen.757 Die Bedeutsamkeit der Rechts-ordnung ist prägend für das gesamte deutsche Politiknetzwerk, wobei die rechtli-chen Normen nicht nur die partikularen Interessen unter den Bürgern, sondern auch zwischen den staatlichen Institutionen regulieren. Präzise Auslegung des Gesetzes-textes ist dabei unabdingbar.

Selbst in der heutigen Praxis polizeilicher Videoüberwachung ist die Bedeutsamkeit des Rechts unverkennbar. Das internalisierte Rechtsbewusstsein ist nach der voran-gegangenen Analyse für die ablehnende Haltung der deutschen Polizei gegenüber den „britischen Verhältnissen“ der flächendeckenden Videoüberwachung

757 Vgl. hierzu Wassermann (1985), S. 4 ff.