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Eingriff in die Persönlichkeit und „Privatheit“

Teil II: Kriminalistischer Nutzen und Folgen der Videoüberwachung

5 Nebenfolgen der Videoüberwachung

5.2 Eingriff in die Persönlichkeit und „Privatheit“

Mit der „Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit“ beschreiben Psychologen ein Phänomen, das von vielen Kritikern der Videoüberwachungsmaßnahmen als negati-ve Folge einer weiträumigen technischen Observierung befürchtet wird, und zwar dass langfristig die Psyche der Überwachten verändert werden könnte. Diese Theorie besagt, dass, wenn sich ein Mensch seiner ständigen Überwachung bewusst wird, er

341 Vgl. Teil III, Kap. 10.3.1.3 dieser Arbeit.

342 Sack et al. (1997), S. 318.

343 Mehr zum Thema sozialer Segregation vgl. Wehrheim (2002), S. 27 ff.

sich dann als Objekt wahrnimmt und sich dementsprechend normgerecht verhält.

Eine unter Beobachtung stehende Person, so vermuten Psychologen, wird insgesamt umsichtiger, furchtsamer und argwöhnischer.344 Die Videoüberwachung (im Dauer-betrieb), die im Gegensatz zu gewöhnlichen polizeidienstlichen Tätigkeiten perma-nent und anonym durchgeführt werden kann, ist somit ein typisches Beispiel für die Gefährdung individueller Handlungsfreiheit.

Diese Verhaltensänderungen werden häufig auch mit Hilfe des panoptischen Prin-zips erklärt. Im Sinne von Foucault gilt für viele Forscher Videoüberwachung als Musterbeispiel für die Disziplinierung eines überwachten Menschen.345 Selbst wenn die Überwachungsarbeit an Monitoren nicht kontinuierlich durchgeführt wird, kann die Wahrnehmung visueller Überwachungseinrichtungen oder das Gefühl, perma-nent unter Beobachtung zu stehen, panoptische Disziplinierungseffekte auslösen.346 Auch Erving Goffmann, der das menschliche Verhalten in der Öffentlichkeit und im Privatleben analysierte, vertritt die Ansicht, dass Menschen unter einer kontinuierli-chen Observierung auffallend ihre Verhaltensweise modifizieren.347

In diesem Sinne sehen Datenschützer und Bürgerrechtler die durch die Videoüber-wachung entstandene Verhaltensänderung der Bürger als Eingriff in das Recht der Persönlichkeitsentfaltung. Manche sprechen sogar in diesem Zusammenhang von der Einschränkung der Demonstrations- und Versammlungsrechte der Bürger. Da das Gefühl, bei der Teilnahme an politischen Veranstaltungen und Massenkundge-bungen gefilmt zu werden, „die Hemmschwelle der demokratischen Partizipation“

beeinflussen und somit die demokratischen Grundzüge gefährden könnte.348

Privatheit gilt als ein fester Bestandteil des schutzbedürftigen Persönlichkeitsrechts.

Nach Westins Definition beinhaltet der Begriff Privatheit u.a. das Recht eines

344 Büllesfeld (2002), S. 75; Höfling (2000), S. 36.

345 Für Foucault stellt die architektonische Idee des „Panopticons“ von Jeremy Bentham, das ursprüng-lich im Jahr 1789 als Konstruktion von Gefängnisbauten konzipiert worden war, ein idealtypisches Modell jener Architektur dar, die die Machttechniken der Disziplinargesellschaft zum Ausdruck bringt. Durch die spezielle architektonische Gestalt des Panopticons kann jede kleine Bewegung in den Zellen von einem Turm aus überwacht werden. Diese Art der Raumorganisation erlaubt dem Aufseher, seine wirkungsvolle Kontrolle über die Körper in den Zellen auszuüben, da der Sträfling damit rechnen muss, dass er bei jedem Regelverstoß sofort bestraft werden kann. Die Hauptwirkung des Panopticons ist nach Foucault „die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszu-standes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“. Foucault (1994), S. 258. Das Individuum in der Zelle weiß nicht, wann es beobachtet wird und wann nicht, da das Panopticon so gebaut ist, dass die An- oder Abwesenheit eines Aufsehers nicht von den Insassen in den Zellen wahrgenommen werden kann. Der Gefangene muss sich also so verhalten, als sei die Kontrolle permanent, endlos und vollkommen. Der Machtapparat funktioniert auch in Abwesenheit des Aufsehers. Allein die antizipierte Möglichkeit einer Beobachtung und des sofortigen Eingreifens funktioniert als Kontrollmechanismus: Der Gefangene kontrolliert sich selbst.

346 Vgl. Wehrheim (2002), S. 209.

347 Goffman (1971); vgl. auch Wehrheim (2002), S. 94.

348 Lietz (2004).

duums, frei von jeglichen Beobachtungen zu sein (Alleinsein) und in einer großen Menschenmenge die eigene Identität nicht verraten zu müssen (Anonymität).349 Bis-her gehört es zu den Eigenschaften von Großstädten, dass die Menschen dort durch eine gewisse Anonymität ihre Privatheit genießen können. Durch die geringere sozia-le Kontrolsozia-le (im Sinne von „Neighbourhood-Watch“, die in einem Dorf stärker aus-geprägt ist,) haben Menschen in Großstädten mehr „Freiheit für Abweichung und Veränderung“ und die „Möglichkeit, durch den Wechsel des Wohnortes ihre Ver-gangenheit hinter sich zu lassen“.350 Die Ausweitung von CCTV-Überwachung in städtischen Räumen sowie die damit verbundene präventive Ausrichtung der bereits erwähnten lokalen Sicherheitskooperationen, so die Befürchtung der Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen, könnten diese Möglichkeiten einschränken und die Bedeutung dieser öffentlichen Anonymität verändern.

Wie komplex der Begriff „Privatheit“ ist und wie problematisch die rechtliche Defini-tion und der Schutz dieses Persönlichkeitsrechts in Hinblick auf die aufdringliche Wirkung moderner Überwachungstechnologie sein kann, zeigen US-amerikanische Gerichtsentscheidungen zum „Right of Privacy“:

Im Jahr 1890 wurde in „Harvard Law Review“ ein Aufsatz mit dem Titel „The Right to Privacy“ von Samuel Warren und Richter Louis Brandeis veröffentlicht, der einen enormen Einfluss auf die Rechtsentwicklung des Datenschutzes in den USA ausüb-te.351 In diesem Aufsatz betonten die Verfasser das Recht des Einzelnen auf seine Pri-vatsphäre und plädierten dafür, dass die Verletzung der PriPri-vatsphäre (z.B. durch die Regenbogenpresse) als kompensierbare, unerlaubte Handlung gesehen werden soll-te. Um eine Prozessflut und mögliche Einschränkung der Pressefreiheit zu vermei-den, blieb das Recht auf Privatsphäre allerdings lange ein außergerichtliches The-ma.352

Im Jahr 1928 erkannte man im Olmstead-Urteil die Gefahren, die moderne Überwa-chungstechniken mit sich bringen könnten: „Subtilere und weitreichendere Mittel

349 Nach Westin kann die Privatheit einer Person erreicht werden, wenn 1) eine Person frei von jegli-chen Beobachtungen und Anwesenheit anderer sein kann (Alleinsein), 2) ein Individuum in einer kleinen Gruppe, z.B. Familie oder Freundeskreis, Geborgenheit findet (Intimität), 3) ein Mensch in einer großen Menschenmenge die eigene Identität nicht verraten muss (Anonymität), oder 4) der Wunsch nach Kommunikationslosigkeit in einer Gruppe respektiert und akzeptiert werden kann (Re-serviertheit oder Zurückhaltung). Westin (1967), S. 7; vgl. auch Gräf (1993), S. 11 ff.

350 Wehrheim (2002), S. 91.

351 Burrows (1997), Rn. 1084; Nieto et al. (2002), S. 40; Original vgl. Brandeis, Louis; Warren, Samuel (1890): „The Right to Privacy“, 4 Harvard Law Review, 193 (1890).

352 Im Jahr 1903 wurde vom Staat New York erstmals ein Gesetz erlassen, das die Anwendung von Namen und Bildern von Personen für Geschäfts- und Werbezwecke ohne deren Zustimmung für schadensersatzpflichtig erklärt. Drei Jahre später wurde in einem Gerichtsurteil in Georgia, dem die Thesen des Aufsatzes „The Right to Privacy“ zu Grunde lagen, zum ersten Mal in den USA das Recht auf Privatsphäre anerkannt. Vgl. Nieto et al. (2002), S. 40 ff.; Rossnagel (2003), S. 34.

zur Beeinträchtigung der Privatsphäre sind für die Regierung verfügbar geworden.

Entdeckung und Erfindung haben es den Regierenden durch Mittel, die viel effekti-ver als die Streckbank sind, ermöglicht, vor Gericht herauszufinden, was im Hinter-zimmer geflüstert worden ist.“353 Der Begriff „Privacy” wurde von ihm als „the most comprehensive of rights and the right most valued by man“ bezeichnet.354 Im Jahr 2001 betonte der Richter Antonin Scalia im Jahr erneut die Balance zwischen Technik und Privatsphäre: „The question we confront today is what limits there are upon this power of [surveillance] technology to shrink the realm of guaranteed privacy.“355 Angesichts der Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit denen Informationen im Zuge der Videoüberwachung gesammelt, gespeichert und verbreitet werden, ist es also frag-lich, ob Privatheit bzw. Anonymität in diesem Sinne überhaupt noch existieren. Heu-te lässt die moderne ÜberwachungsHeu-technologie die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht mehr klar definieren und das Individuum hat keine Kontrolle mehr über die Anfertigung, Speicherung und Verbreitung seiner persönlichen In-formationen, die seine Persönlichkeitsrechte gefährden könnten. Kritiker sehen des-wegen in den Videobeobachtungsmaßnahmen eine Bedrohung freiheitlich-demokratischer Grundprinzipien, die aus einer informationellen Asymmetrie zwi-schen Staat und Bürgern herrührt. Durch die Implementierung der Überwachungs-kameras wird der polizeiliche Handlungsspielraum ausgeweitet, der dem Staat er-laubt, mehr Informationen von Bürgern zu sammeln, um potentielle Gefahren und Risiken zu erkennen. Zudem sind die Zuständigkeiten sowie der Datenverkehr der Videoüberwachungsnetzwerke für die Bürger undurchschaubar, so dass sie mögli-che Missbräumögli-che dieser Technik seitens des Staates nicht prüfen können und die da-mit verbundenen Risiken stillschweigend hinnehmen müssen. Durch den Vorrang der kriminalpräventiven Ziele der räumlichen Observierung werden Grundrechte der Bürger, wie z.B. die Freiheit vor staatlichen Übergriffen, in den Hintergrund ge-drängt.