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Die Polarität von Tod und Geburt

II. DIE EINLEITUNGSSZENE: COMHALS TOD UND FINGALS

1. Die Polarität von Tod und Geburt

Nach Daniel war die vielleicht noch 1804 entstandene und später wieder verworfene Zeichnung “Comhals Tod und Fingals Geburt” (Abb. 10) zusammen mit einer zweiten, die über die gedankliche Konzeption nicht hinausgelangt sein dürfte, zur Einleitung be-stimmt: “In der Zeichnung liegt der alte Comhal zur Erde auf seinen Schild niederge-sunken und wird von einem vor ihm stehenden Jünglinge mit dem Speer erstochen; ein andrer zeigt zu der Burg Selma nach hinten hinauf, die halb von Gebüsch verdeckt ist.

Die Figuren sind gänzlich nackend. Rechts zwey behelmte Greise mit Speeren, auf un-geheure Schilde gestützt; links Fliehende. In einem Bilde am bemoosten Giebel von Selma sieht man das Kind, schon den Speer haltend, aus dem Schooße der vor ihm hin-gestreckten Mutter aufspringend. Hinter Selma die Sonne, über derselben ein Stern”.118)

Die Komposition bezieht sich auf eine kurze Anmerkung Macphersons, die man am Ende des zweiten Bandes der Stolberg-Übersetzung findet: “Am Tage von Fingals Geburt ward sein Vater Comhal erschlagen, in einer Feldschlacht wider den Stamm des Morni”, heißt es erklärend zu der Verszeile “Geboren ward ich umringt von Schlach-ten” im Gedicht “Die Schlacht auf Lora”.119) Fingal, der König des Geschlechtes von Morven (Schottland), das seinen Stammsitz auf der Burg Selma hat, wird in den Gesän-gen seines Sohnes Ossian als edelster Heldencharakter gerühmt und stellt den Mittel-punkt der gestalten- und handlungsreichen Dichtungen Macphersons dar. Mit dem ver-mutlich zuerst entstandenen Blatt seines Ossian-Zyklus bemühte sich Runge offensicht-lich um eine zeitoffensicht-lich geordnete Darstellungsweise des Heldenlebens, was der Erzähl-technik Macphersons jedoch widerspricht.120) Angesichts der umfangreichen Dichtung, in der die Ereignisse, Erzählungen und eingestreuten Episoden in einem vielfachen Wechsel der Erzählperspektive eine verwirrende Folge von zeitlich oft weit auseinander liegenden Geschichten darstellen, dürfte Runge seine anfängliche Vorstellung einer chronologischen Illustrationsfolge, beginnend mit der Geburt Fingals, schon bald auf-gegeben haben. Schließlich orientieren sich auch die verwirklichten szenischen

118) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 266.

119) Stolberg, Bd. 2, S. 343.

120) Zur Chronologie der Ossianischen Dichtung vgl. ausführlich Jiriczek 1940, Bd. 3, S. 185 − 193.

Vgl. Anhang, S. 4, Z. 27 − 31 und Kommentar.

lungen entsprechend seiner schriftlichen Bearbeitung an der Reihenfolge der Gesänge bei Stolberg.

An die Stelle der geplanten Einleitungsszenen ist dann mit großer Wahrscheinlichkeit die Idee der sogenannten Charakterbilder getreten, in denen Runge die Generationen-folge von Vater, Sohn und Enkel in drei inhaltlich und formal aufeinander Bezug neh-menden Blättern dargestellt hat. Wie bedeutsam dabei für Runge der Aspekt der zykli-schen Abfolge der Lebensalter gewesen ist, zeigt seine Anleitung zur Lektüre Ossians, die er im Jahr 1806 zusammen mit einem Exemplar der Stolberg-Übersetzung seinem Bruder Gustav geschickt hat: “(...) und dann spüre sacht der Würkung nach, die es auf dich gemacht hat, und gehe damit dem Fingal nach, von seiner Geburt an bis zum Tode, dann dem Ossian, und hernach dem Oscar, und merke wohl auf die Verhältnisse des einen zum andern und auf ihr Wesen”.121) Diese konzeptionelle Abhängigkeit der Cha-rakterbilder von den ursprünglich geplanten Einleitungsszenen äußert sich vielleicht auch in Daniels Angaben zur Entstehungszeit der Blätter: Sowohl die Vorstudien zu den Charakterbildern als auch “Comhals Tod und Fingals Geburt” wurden übereinstimmend und ohne spätere Korrektur mit 1804 datiert.122)

Bereits in der zweiten Fassung des Gemäldes “Triumph des Amor” von 1802 (Abb. 11), laut Traeger das Gründungswerk der romantischen Kunst in Deutschland, hatte Runge das Thema der menschlichen Lebensalter mit der Vorstellung vom Werden und Verge-hen im ewigen Kreislauf verknüpft, womit der traditionelle Begriff des Zyklus zum uni-versalen Lebensprinzip erweitert wurde.123)

In der zur Einleitung entworfenen Zeichnung vereinigte Runge die zeitlich und gemäß dem Wortlaut der Verszeile auch räumlich konvergierenden Ereignisse in einer bildli-chen Polarität von Geburt und Tod, Tod und Auferstehung, die man als Echo auf das zyklische Prinzip der “Vier Zeiten”, das Hauptwerk des Künstlers von 1802/03 (Abb.

12 − 15), verstanden hat.124) Dies wird auch durch Runges eigene Erklärung der Zeichnung unterstützt: “Comhal’s Kraft ward überwunden, da wurde Fingal geboren, der junge Strahl von Selma. Er ist der Sonne gleich, heiß und ermüdend im Streit, warm und milde nach dem dunkeln und trüben Kampf. Bild: Comhal sinkt; die Sonne geht auf über Selma, mit ihr wird Fingal geboren”.125)

121) An Gustav, 11. Februar 1806: HS I, S. 65.

122) S. oben S. 27 − 29.

123) Zum “Triumph des Amor” Traeger, Kat. Nr. 233 und bes. S. 39 − 42. Hohl in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 155 − 157 und Kat. Nr. 127.

124) Hohl in Ausst. kat. Hamburg 1974, Kat. Nr. 54.

125) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 266.

In der Folge der “Vier Zeiten” stellen die Blätter “Morgen” (Abb. 12) und “Nacht”

(Abb. 15) Anfang und Ende in einem ganz umfassenden Sinne dar.126) Die

“allumfassende Bedeutung des Rhythmus der Tageszeiten” bezieht sich nach Daniels Interpretation auf die Tages- und Jahreszeiten, die Lebenszeit des Menschen von der Geburt bis zum Tod, die Weltzeiten, das heißt “Entstehung, Wachsthum, Verfall und Untergang der Völker, Jugend, Blüthe, Reife, Versinken und Verklärung der Mensch-heit” und schließlich “Zeit und Ewigkeit, oder dem religiösen Standpuncte für das Ganze”.127)

Wie zu zeigen sein wird, hat Runge in Übereinstimmung mit dem kosmologischen Pro-gramm der “Vier Zeiten” das menschliche Schicksal der Ossianischen Helden in einer heilsgeschichtlichen Dimension mit dem Naturleben verknüpft. Dies offenbart sich be-reits in der Zeichnung “Comhals Tod und Fingals Geburt”, indem die Geburt des Soh-nes mit dem Sonnenaufgang gleichgesetzt wird. Gleichzeitig erscheint das Kind in der Haltung des auferstandenen Christus. Und wie die “Nacht” als “gränzenlose Tiefe der Erkenntniß von der unvertilgten Existenz in Gott”128) bedeutet Comhals Tod nicht das Ende, sondern eröffnet beständig wie der ewige Kreislauf der Natur den jenseitigen Morgen des neuen Lebens. Die in den “Vier Zeiten” in vielfältiger Verschränkung dar-gestellte Idee der Erlösung als Aufstieg zum Licht ist auch das zentrale Thema der Ossian-Interpretation Runges. Mit dem anfangs zur Einleitung gedachten Blatt sollte dieser Leitgedanke dem geplanten Illustrationszyklus vorangestellt werden.

a) Antiker Mythos

Im Vordergrund der unteren Bildhälfte und auf gleicher Ebene mit dem Betrachter sieht man den sterbenden Comhal auf seinen Schild niedergesunken. Der Alte blickt finster zu dem jungen Krieger auf, der seinen zu Boden gefallenen Speer zertritt und ihn mit einem langen Spieß ersticht.

Dem Figurenmotiv des auf seinem Schild liegenden, tödlich verwundeten Kriegers ist Runge im ersten Gesang des umfangreichen Ossianischen Gedichtbuches “Temora” be-gegnet, worin der frühe Heldentod von Fingals Enkel Oskar, dem Sohn Ossians,

126) Zu den “Vier Zeiten” Traeger, Kat. Nr. 265 − 283 und bes. S. 46 − 52. Hohl in Ausst. kat. Ham-burg 1977, S. 188 −192 mit Kat. Nr. 160 − 172. Zum zyklischen Prinzip der “Zeiten” grundlegend Waetzoldt 1951, S. 108 −118.

127) Daniel, Nachrichten: HS II, S. 469, 473 f.

128) Rubriken zu den vier Tageszeiten, 1807: HS I, S. 82.

schildert wird: “Wir sahn auf seinen Schild/Oskar gestützt, wir sahn sein Blut umher (...)”.129) Die Zeilen weckten nicht nur bei Runge die Erinnerung an den antiken Bild-vorwurf des sogenannten “Sterbenden Galliers” (Abb. 16).130) Auch der englische Maler Alexander Runciman (1736 −1785), der viele Jahre seiner künstlerischen Ausbil-dung in Rom verbracht hat, und Joseph Anton Koch (1786 − 1893) griffen für ihre Dar-stellungen der Sterbeszene Oskars auf die bekannte antike Pathosformel zurück (Abb.

17, 18).131)

Dieses klassische Muster des sterbenden Soldaten findet man bereits in Runges Zeich-nung “Diomedes und Odysseus überraschen Rheseus” (Abb. 19), die entstanden ist im Hinblick auf die schließlich unterbliebene Teilnahme an der Weimarer Preisaufgabe des Jahres 1800. Runge scheint sich während der Beschäftigung mit seiner ersten Ossian-Illustration an das Blatt erinnert zu haben, denn der das Kampfgeschehen unter sich vereinende Zelteingang hat wohl einen Reflex im Torbogen über dem erstochenen Comhal gefunden.132) Auch Runges vermutlich zuletzt ausgeführte Ossian-Zeichnung

“Der Tod Duthmaruns” (Abb. 167) zeigt den sterbenden Feldherrn in der Haltung seines antiken Vorbildes.

In der Szene mit Comhals Tod äußert sich die motivische Herkunft der Kämpfergruppe aus der Plastik der Antike nicht zuletzt auch in der nackten Heroengestalt des speerbe-waffneten Jünglings mit seinem ins Profil gewendeten Haupt. So erinnert das starre Zu-einander der beiden Gegner an die letzte Fassung des Blattes “Achill und Skamandros”

(Abb. 20), Runges Beitrag zur Weimarer Preisaufgabe des Jahres 1801.133) Das Motiv des nach unten zustoßenden Kriegers entdeckt man bereits in der noch unsicheren Zeichnung eines antiken Kämpfers (Abb. 21), die 1797 in Hamburg unter dem Eindruck der Lektüre Homers entstanden ist.134)

Die ikonographischen Rückgriffe auf die klassischen Bildwerke der Antike sind jedoch der unteren Bildhälfte vorbehalten, dem Schauplatz von Comhals Tod. Hinter dem

129) Stolberg, Bd. 3, S. 16 f.

130) Zur Rezeption des sogenannten “Sterbenden Galliers” im 18. und 19. Jahrhundert Haskell/Penny 1981, Kat. Nr. 44. Bober/Rubinstein 1986, Kat. Nr. 151.

131) Zu Runcimans Darstellung Ausst. kat. Hamburg 1974, Kat. Nr. 4, wobei die Ableitung der Figur des sterbenden Oskar aus Michelangelos “Adam” hinsichtlich der Haltung des linken Arms bzw.

der Beine weniger überzeugt. Auch thematisch dürfte das Vorbild des “Sterbenden Galliers” näher liegen. Kochs Ossian-Gemälde bei Lutterotti 1985, S. 284 und Kat. Nr. G 9b. Ausführlich Keisch 1976, beide ohne Berücksichtigung der Vorbildfrage.

132) Traeger, Kat. Nr. 128. Schuster in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 86 und Kat. Nr. 42.

133) Traeger, Kat. Nr. 205. Ausst. kat. Hamburg 1977, Kat. Nr. 50.

134) Traeger, Kat. Nr. 17. Schuster in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 85 und Kat. Nr. 32.

benden Alten zeigt ein anderer Jüngling hinauf zu der Burg von Selma, wo Comhals neugeborener Sohn vor der aufgehenden Sonne wie das Christuskind erscheint.

Die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Wiederbelebung der antiken Kunst wurde Runge schon während seiner Beschäftigung mit den Weimarer Preisaufgaben bewußt:

“(...) wir sind keine Griechen mehr, können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, wenn wir ihre vollendeten Kunstwerke sehen, viel weniger selbst solche hervorbringen, und warum uns bemühen, etwas mittelmäßiges zu liefern? (...) Wir sehen in den Kunst-werken aller Zeiten es am deutlichsten, wie das Menschengeschlecht sich verändert hat, wie niemals dieselbe Zeit wieder gekommen ist, die einmal da war; wie können wir denn auf den unseligen Einfall kommen, die alte Kunst wieder zurückrufen zu wollen?”, schrieb er 1802.135) Runges Erkenntnis der historischen Unwiederholbarkeit des Ver-gangenen beziehungsweise seine Ablehnung des klassizistischen Kunstideals der Wei-marer Kunstfreunde begründete sein Bewußtsein eines grundsätzlichen künstlerischen Neuanfangs. In seinem programmatischen Brief vom 9. März 1802 ging es ihm mit sei-nem Landschaftspostulat bekanntlich weder um die Erneuerung des akademischen Faches der Landschaftsmalerei noch um die Ablösung von der klassizistischen Vorliebe für die menschliche Figur. Runges Programm zielte vielmehr auf die Aufhebung aller bisherigen Gattungen.136) “Wie können wir nur denken, die alte Kunst wieder zu erlan-gen? Die Griechen haben die Schönheit der Formen und Gestalten auf’s höchste ge-bracht in der Zeit, da ihre Götter zu Grunde gingen; die neuern Römer ge-brachten die historische Darstellung am weitesten, als die Katholische Religion zu Grunde ging: bey uns geht wieder etwas zu Grunde, wir stehen am Rande aller Religionen, die aus der Katholischen entsprangen, die Abstractionen gehen zu Grunde, alles ist luftiger und leichter, als das bisherige, es drängt sich alles zur Landschaft, sucht etwas bestimmtes in dieser Unbestimmtheit und weiss nicht, wie es anzufangen? Sie greifen falsch wieder zur Historie, und verwirren sich”.137) Seit Michelangelo, dessen “Jüngstes Gericht”

entstand, “als die katholische Religion zu Grunde ging” und deshalb den “Gränzstein der historischen Composition” darstellt sowie Raffaels “Sixtinischer Madonna”, die eine erste Hinwendung zur Landschaft zeige, war für Runge keine wahrhaftige

135) An Daniel, Februar 1802: HS I, S. 6. Zu Runges Auseinandersetzung mit den klassizistischen Zie-len der Weimarer Preisaufgaben Traeger, S. 30. Schuster in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 86 − 88.

Grundlegend Scheidig 1958, S. 216 ff. Runges Geschichtsauffassung bei Traeger, S. 31 f., 75 f., 128 − 128. Ders. 1971.

136) Zu Runges Konzeption einer neuen Landschaftskunst Traeger, besonders S. 38 f., 94 − 112.

Grundlegend der Aufsatz von Schrade 1931. Eine knappe Zusammenfassung bei Jensen 1977, S.

130 −134.

137) An Daniel, Februar 1802: HS I, S. 7.

rienmalerei mehr denkbar.138) Sein geschichtlich gefaßter Religionsbegriff beziehungs-weise die damit verbundene Kunstkonzeption und die historistische Nachahmung der Kunstwerke vergangener Zeiten schlossen sich gegenseitig aus.

In der Zeichnung “Comhals Tod und Fingals Geburt” dürfte es sich bei den antiken Kampf- und Bildformeln also um einen “zitierenden, inhaltlich gebundenen, das heißt im Grunde allegorischen Einsatz vorgefundener Bildprägungen handeln”, wie es Trae-ger im Hinblick auf andere Werke des Künstlers formulierte.139) Für Runge war mit dem Tod der alten Mythen auch die antike Kunst zu ihrem Ende gekommen. Die klassi-schen Heroen der Szene mit Comhals Tod werden damit in ihrer bildlichen Polarität zu Repräsentanten einer sterbenden Zeit, deren Generation sich in ihrer Kraft verbraucht hat. Gerade weil Runge die Antike als verloren galt, wird das Thema des Heldentodes durch die gezielten Rückgriffe auf die klassischen Bildformeln in eine Beziehung zur Weltgeschichte gesetzt, die seine Auffassung vom Aufblühen und Sterben der Kulturen reflektiert.

Dagegen beginnt in der oberen Bildhälfte mit der Ankunft des Sohnes Fingal ein neues Menschenalter. Indem die Geburt des Kindes mit dem Sonnenaufgang am Morgen gleichgesetzt wird, kann dieser Regenerationsprozeß wohl wie in den “Vier Zeiten” in einem ganz umfassenden Sinn gedeutet werden, zumal der Auferstehungsgestus auf eine übergeordnete eschatologische Dimension verweist. Im Mai 1805, also zur Zeit seiner Beschäftigung mit dem Ossian, hat Runge in einer nachträglichen Überlegung die gerade entstandene Zeichnung “Quelle und Dichter” (Abb. 22) und das Gemälde “Die Ruhe auf der Flucht” (Abb. 23) als “Abend des Abendlandes” und “Morgen des Morgenlandes” gegenübergestellt. In der “Ruhe auf der Flucht” wird mit der Geburt des Christuskindes der Morgen als Beginn eines neuen Weltzeitalters interpretiert, wobei nach Runges eigener Deutung der Morgen auf den Abend folgt. Indem sich für Runge die Naturerkenntnis des heidnisch-germanischen Abendlandes im christlichen Morgenland erfüllt, konnte er die beiden Kulturepochen im Sinne einer linearen heilsgeschichtlichen Entwicklung miteinander verknüpfen.140) Somit enthält die noch genauer zu bestimmende religiöse Sinnschicht der Zeichnung “Comhals Tod und Fingals Geburt” entsprechend Runges Geschichtsauffassung eine historische Dimension, die ikonographisch in der bildlichen Gegenüberstellung von überwundener heidnischer Antike im unteren Bildvordergrund und neuem christlichen Zeitalter in der

138) Ebd., S. 6. An Daniel, 9. März 1802: HS I, S. 15.

139) Traeger 1978, S. 334. Vgl. auch ders., S. 116. ders. 1971, S. 201 f.

140) Traeger, Kat. Nr. 322, 323 und bes. S. 66 f. zur Konzeption der Pendantbilder. Vgl. auch Hohl in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 174 − 178 und Kat. Nr. 151, 152. Möseneder 1981, S. 31 − 33.

oberen Bildhälfte anklingt. Auf einer weiteren Bedeutungsebene hat Runge das individuelle Dasein der ossianischen Helden durch das dargestellte Handlungsgeschehen ebenso mitreflektiert wie den naturhaften Wandel der Tages- und Jahreszeiten, der in der Analogie von Kind und Sonne veranschaulicht wurde.

In der Szene mit Comhals Tod wird die Rezeption der antiken Vorbilder so zum Medi-um eines “geschichtsbezogenen Analogieprinzips”141) und dient der Offenlegung einer ganz bestimmten Bildaussage. Darüber hinaus griff Runge jedoch immer wieder auf an-tike Göttergestalten zurück, so auch in seinen Charakterbildern und szenischen Darstel-lungen zu Ossian. Bei aller Abkehr vom klassischen Altertum als verbindlicher Norm blieb die Antike mit ihren großen Kunstwerken, die ja “den höchsten Geist der zu Grunde gegangenen Religion”142) in sich tragen, ein nie ganz aufgegebenes Ideal. Im Bemühen um die Wiederherstellung einer ursprünglichen, aber verlorenen paradiesi-schen Einheit von Gott und Welt im Kunstwerk hat Runge antike Vorbilder mit christli-chen Würdeformen und Naturbildern verschmolzen, eine laut Schuster

“synthetisierende Begabung”, die sich gerade bei seinen Helden des germanischen Al-tertums zeigte.143)

Bei den Ossian-Illustrationen war es sicher auch von Bedeutung, daß Macpherson durch eine Vielzahl geläufiger Sprach- und Motivdetails seine Helden wie die Heroen der An-tike charakterisiert hatte, um seinen weitgehend fiktiven Bardengesängen die Dignität der homerischen Epen beziehungsweise alter Naturpoesie zu geben.144) So bekennt der Ossian-Übersetzer Denis in seinem Vorbericht, daß ihn Ossians Gedichte bereits bei der allerersten Lektüre an Homer und Vergil erinnert hätten, weshalb er den griechischen Hexamter zum Silbenmaß gewählt habe.145) Entsprechend diesem humanistischen Os-sianbild konnten klassizistische Maler wie Runciman, Koch oder Carstens ihr künstleri-sches Ideal des Figurenbildes durch Macphersons Antikenzitate bestätigt finden. Sie

141) Traeger, S. 116.

142) An Daniel, 9. März 1802: HS I, S. 8.

143) Schuster in Ausst. kat. Hamburg 1977, S. 107 f. Vgl. auch S. 89 f.

144) Macpherson begründete die Parallelen mit der großen Nähe der beiden frühzeitlichen Dichter zur Natur: “The technical terms of criticism were totally unknown to Ossian. Born in a distant age (...) his knowledge did not extend to Greek and Roman literature. If therefore in the form of his poems, and in several passages of his diction, he resembles Homer, the similarity must proceed from na-ture, the original from which both drew their ideas”. Zit. nach Jiriczek 1940, Bd. 2, S. 3. Eine de-taillierte Untersuchung über die Entsprechungen zwischen dem Buch “Fingal” (Stolberg, Bd. 2) und der “Ilias” bei Bysveen 1982. Vgl. auch Stafford 1988, S. 137 − 139. Der Homervergleich und seine Rezeption in der europäischen Literaturgeschichte bei Van Tieghem 1920, S. 51 − 55.

145) Denis, Bd. 1, 1768, Vorbericht (nicht paginiert). Vgl. auch Wimmer 1987, bes. S. 30 − 34. S. oben S. 18.

malten den “Homer des Nordens”, indem “die Namen nordisch wurden, die Figuren aber griechisch blieben”.146) “Sollte es Ossian wohl gut gewesen seyn, wenn er den Homer studirt hätte?” schrieb Runge bereits 1802 im Zusammenhang mit seinem Ver-zicht auf die geplante Studienreise nach Italien.147) Damit ließ er Herders berühmten Horen-Aufsatz “Homer und Ossian” des Jahres 1795 anklingen, in welchem dieser seine kulturelle Unterscheidung der beiden Dichter ausführlich begründet hatte.148) Demgemäß erblickte auch Runge in Ossian keinen zweiten Homer und bediente sich der aussagekräftigen antiken Bildformeln ganz bewußt im Sinne seiner neuen Landschaftskunst.

b) Morgenkind und Auferstehungsgedanke

In der Zeichnung sieht man in der oberen Bildhälfte den mit Sonnenaufgang geborenen Knaben von einer Lichtaureole umgeben und durch einen Rundbogen der Burgarchitek-tur triumphbogenartig überhöht. Das Kind hält den sternbekrönten Speer, der bis in den Himmel hinaufzureichen scheint, wie ein Kreuzpanier mit der linken Hand und tritt über den Schoß seiner Mutter hervor (Abb. 24).

So wurde in Fingals Geburt mit Recht eine Analogie zur Auferstehung Christi gese-hen.149) Bereits Berefelt wies auf Flaxmans Blatt 16 zu Dantes “Paradiso” (Abb. 25) hin: Es zeigt vor einer Sonne mit prägnant stilisiertem Strahlenkranz ein aufrecht ste-hendes Christuskind mit Stab und Apfel in den Händen, unter sich Schlange und Welt-kugel als Hinweis auf die Erlösungstat.150) Runge hatte die Illustrationen Flaxmans im Jahr 1800 während seines Akademiestudiums in Kopenhagen kennengelernt. Der tiefe Eindruck, den die Zeichnungen bei ihm hinterließen, belegen seine Briefe.151) Der iko-nographische Werkprozeß der Szene mit Fingals Geburt läßt sich an einem Skizzenblatt des Künstlers ablesen (Abb. 27 verso): In einem ersten Entwurf steht das neugeborene Kind noch vor der wie tot am Boden liegenden Mutter und hält den Speer mit beiden Händen fest, während dünne Bleistiftlinien bereits das Triumphbogenmotiv des

146) Äußerung des dänischen Bildhauers Johannes Wiedewelt (1731 − 1802), zit. nach Berefelt 1961, S. 187.

147) An Daniel, 7. November 1802: HS I, S. 19. Dazu Berefelt 1961, S. 190.

148) S. oben S. 25 mit Anm. 86. Vgl. Gillies 1933, S. 132 − 139.

149) Hohl in Ausst. kat. Hamburg 1977, Kat. Nr. 54. Dazu auch Traeger, S. 68.

150) Berefelt 1961, S. 171, 173. Vgl. auch Böttcher 1937, S. 163.

151) An Daniel, 23. August, 26. September, 11. und 14. Oktober 1800: HS II, S. 54, 56 − 60.

fangenden Rundbogens andeuten. Dabei hat sich ein bei Stolberg an anderer Stelle vorgeprägtes „Bild“ mit Runges Einleitungsszene verschmolzen. In dem Gedicht

„Darthula“ träumt die schlummernde Heldin von ihrem Geliebten: „Nathos als Kind hebt mühsam den Speer“. Weitere auf dem Blatt hingeworfene Skizzen zeigen Runges Auseinandersetzung mit der Gestalt der Mutter, die nun mit deutlich angewinkeltem Bein eine Verlebendigung der Körperhaltung erfährt und voll Staunen zu ihrem Kind

„Darthula“ träumt die schlummernde Heldin von ihrem Geliebten: „Nathos als Kind hebt mühsam den Speer“. Weitere auf dem Blatt hingeworfene Skizzen zeigen Runges Auseinandersetzung mit der Gestalt der Mutter, die nun mit deutlich angewinkeltem Bein eine Verlebendigung der Körperhaltung erfährt und voll Staunen zu ihrem Kind