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Die Verwandlung der Ossianischen Landschaft

III. DIE CHARAKTERBILDER DER HAUPTGESTALTEN

2. Die Verwandlung der Ossianischen Landschaft

“Ich habe die sämmtlichen Dichtungen nun öfter gelesen, und die Verhältnisse von den Himmelszeichen zu den Helden springen mir zu deutlich in die Augen, als daß sich nicht gewisse Gestaltungen festhalten ließen, ohne jedoch so bestimmte Gestalten zu wer-den”, hatte Runge im März 1805 über seine Charakterbilder an Ludwig Tieck geschrie-ben und die Protagonisten der Ossianischen Dichtung in einer kosmologischen Deutung mit Sonne, Mond und Erde gleichgesetzt.276)

In der ersten Zeichnung (Abb. 63) betritt Fingal als riesenhafte Gestalt zusammen mit der aufgehenden Sonne den schmalen Landstreifen auf der Klippe einer Steilküste, ter der sich das Meer bis zum Horizont erstreckt. Der Held ragt weit in den Himmel hin-auf und läßt den Betrachter durch die Untersicht der Komposition zu sich hin-aufblicken.

Während er mit seinem linken Bein bereits fest auf dem Boden steht, ist der rechte Fuß hinter Büschen und Bäumen noch nicht zu sehen. Im Vordergrund springen zwei Rehe erschreckt in unterschiedliche Richtungen davon. Mit der erhobenen Rechten umfaßt Fingal seinen langen Speer direkt unter der Spitze, auf der ein Stern steht. Das seitlich am Gürtel getragene, kreuzförmige Schwert wird vom linken Bein teilweise überdeckt und bildet eine räumliche Parallele zu dem emporragenden Speer. Die hinter dem Rücken verborgene Linke hält, für den Betrachter nicht sichtbar, den riesigen Schild.

Dieser ist gleichzeitig die Sonne, die kreisrund im Zentrum des Blattes hinter der Gestalt steht. “Fingal´s Schild ist die Sonne; er tritt mit dem Fuß auf´s Land, die Rehe fahren aus dem Gebüsch”, heißt es in Runges Brief an Tieck.277) Genau auf dem Strahl, der mit der Mittelachse der Komposition zusammenfällt, ist der Morgenstern zu sehen, der zugleich die Speerspitze bezeichnet. Die Strahlen der den ganzen Himmel beherrschenden Sonne reichen mit geometrischer Regelmäßigkeit bis an den Bildrand und sind im Umkreis der Sonnenscheibe von flammenartig züngelnden Strahlen durchsetzt.

276) An Tieck, 29. März 1805: HS I, S. 258 f. Anhang, S. 3, Z. 23 − 26.

277) Ebd., S. 259. Anhang, S. 3, Z. 40 f.

Die scharf konturierte Silhouette der Gestalt hebt sich in lebendiger Körperlichkeit ge-gen die flache Sonne am endlos erscheinenden Himmel ab. Fingals wallender Bart brei-tet sich durch die Kraft des Windes fast waagrecht wie züngelndes Feuer aus. Die mächtigen, ausgebreiteten Flügel des muschelförmigen Helmes scheinen über der flammenden Sonnenaureole mit der Gestalt emporschweben zu wollen. Daniel be-schrieb das Blatt folgendermaßen: “Fingal hat grade hinter sich die volle Sonne, mit wallenden Strahlen rund um sie her. Oben an dem Speer, den er hebt, steht ein Stern.

Seine Kopfbedeckung hat Adlerflügel zur Seite. Das Schwerdt hängt ihm am leichten Riemen. Sein Gewand, um die Mitte gegürtet, geht nur bis zur Hälfte des Schenkels herab, übriges Bein und Fuß nackt. (Das Costüm in dieser Art ist durchweg bey ihm und seinen Kriegern beobachtet.) Er ist bärtig. Rehe hüpfen vor ihm nach der Wü-ste”.278)

In der folgenden Zeichnung kommt Oskar frontal herauf über das Wasser eines großen Sees, der sich hinter einer von Büschen und Bäumen begrenzten Ebene ausdehnt (Abb. 65). “Oskar steht in einer niedrigen Gegend auf dem Horizont”, heißt es in Run-ges Brief an Tieck, “der Schild, am Riemen hangend, sinkt ihm von der Schulter und neigt sich zum Rande der sinkenden Sonne, wie der schmale Streif des Mondes; die Spitze seines Speeres ist der Abendstern. Er steht schwankend und tritt mit dem einen Fuß hinter den Horizont, sieht in die Sonne hinab, welche ihre letzten Strahlen über ihn wirft, und wird bis zum Vorgrund hin abgespiegelt in einem See”.279)

Der junge Held mit den weichen, fast weiblichen Körperformen hält mit anmutiger Ge-ste seinen Speer und neigt sanft das von Locken umflutete, bartlose Haupt. Auch er trägt einen Helm mit Adlerflügeln.

Während das seitlich versteckte Schwert Oskars am Griff einen Adlerkopf und auf dem abgerundeten Ende der Schwertscheide das Ornament einer Pfeil- oder Speerspitze er-kennen läßt, zeigt die Waffe seines Großvaters Fingal das runde Zeichen der Sonne.

Beide Krieger − und auch die Gestalt Ossians im dritten Charakterbild − tragen nach dem Vorbild der römischen Antike einen kurzen Muskelpanzer jedoch mit einerm ärmellosen, von Fransen gesäumten Rock darunter. Dieses Gewand scheint bei Fingal aus leichtem Stoff zu sein und weht über den sich stark abzeichnenden Beinen im Wind;

unter der Gürtelschnalle sieht man ein rund wie die Sonne gestaltetes, taschenartiges Gebilde. Oskar hingegen trägt einen seitlich geknöpften, festeren Schurz mit einem qua-dratischen Ornament; auf seinem mit Ranken geschmückten Harnisch verläuft unter der Brust eine breite Ornamentborte mit Sternen, die wohl einen getriebenen Bronzegürtel

278) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 259.

279) An Tieck, 29. März 1805: HS I, S. 259. Anhang, S. 3, Z. 30 − 35.

darstellen soll. In seinem Bemühen um historische Authentizität dürfte Runge hier den zur schottischen Nationaltracht gehörenden Kilt vor Augen gehabt haben, als er Fingal und seine Kämpfer in knielange Röcke kleidete.

Die Gestalt des greisen Barden Ossians fügt sich hingegen keiner geometrischen Kon-struktion ein; sie scheint wie verwachsen mit dem Berggipfel, auf dem sie sitzt (Abb. 67). In seinem Brief an Tieck beschrieb der Künstler die Zeichnung so: “Ossian sitzt auf der höchsten Felsenspitze mit der Harfe, zusammengesetzt aus dem Schwert Fingal´s, Bogen und Horn; das Horn ist die untere Seite und es brauset ein Strom her-aus, der sich in eine Schlucht stürzt; Bäume stürzen nach, so wie ein Fels vor Ossian´s Fußtritt herab. Ueber ihm der Nordstern, und da er mit der Rechten zum Schilde greift, so steht er mit Schild und Harfe wie zwischen Himmel und Erde; er hat die jugendliche Jagd verlassen und sein Stern ersteht ihm nur in der Hoffnung”.280) Doch wenden wir uns zunächst den Blättern mit Fingal und Oskar zu.

a) Gewappnet mit Sonne und Mond

Die durch das Gestaltungsmittel der Überdimensionierung beziehungsweise geometri-schen Konstruktion veranschaulichte Gleichsetzung der beiden Helden mit den Gestir-nen wurde in der Literatur stets als Ausdruck einer eigenmächtigen Neudeutung durch den Künstler verstanden.281) Tatsächlich konnte Runge jedoch nicht nur die Personifi-kation von Sonne, Mond und Sternen in der metaphernreichen Sprache Ossians finden, sondern er stieß auch auf zahllose Stellen, wo deren äußere Eigenschaften und

“Wesensmerkmale” stimmungshaft auf die handelnden Helden selbst übertragen wer-den. Dementsprechend liegt die besondere Eigenart der Dichtung darin, daß die Hand-lungen und Gemütsbewegungen der Menschen oft von gleichgestimmten Naturvorgän-gen begleitet werden. Dabei dient die Natur nicht nur als Spiegelbild der menschlichen Gefühle, ihre Gewalten und die Gestirne sind auch die unmittelbar angerufenen Ge-fährten im Leid.

So wird beispielsweise das Gedicht “Karrikthura” mit einem Lied an die Sonne eröffnet, die in vermenschlichter Gestalt bei Sonnenuntergang durch die Tore des Westens geht und sich in ihrem Ruhebett niederlegt: “Hast du verlassen/Deine blaue Bahn,/O du goldgelokkter Himmelssohn?/Der Westen eröffnete seine Thore,/Das Bett deiner Ruh ist

280) Ebd. Anhang, S. 3, Z. 35 − 40.

281) S. oben S. 8 f. mit Anm. 3.

dort./Es kommen die Wogen/Deine Schöne zu sehn,/Sie erheben die zitternden Häupter,/Sie sehen dich lieblich in deinem Schlummer,/Sie schauern zurück vor Furcht!/Ruh in schattiger Höl, o Sonne!/Lass in Freude seyn/Deine Wiederkehr!”.282) Im Morgenlied des Barden Karill am Grab des Heerführers Kairbar heißt es in Stolbergs Übersetzung: “Die gedrängten Wogen entfliehn,/Gedrängt von Furcht!/Sie hören die Kunde/Deiner Ankunft, o Sonne!/Furchtbar in Schöne/Bist du, o Himmelssohn,/Wenn deine Locken hinab/Der Tod sich senkt!/Wenn vor dich her du aufrollest den Dunst/Ueber das wehgetroffne Heer!/Aber hold ist dem Jäger dein Blick,/Der da sizet am Felsen des Stroms,/Wenn du erscheinst durch getheiltes Gewölk,/Und die thauigen Locken ihm bestrahlst (...) O Sonne, wie lang/Wird über dem Kriege/Dein Aufgang strahlen!/Du rollest am Himmel,/Ein blutiger Schild!/Ich sehe Tode der Helden/Dein Antlitz düster durchirren!”.283)

Die Metaphorik dieser Verse ruft bereits das Bild des Helden Fingal wach, den Runge in seinem Brief an Stolberg folgendermaßen charakterisierte: “Fingal´s Schild ist die Sonne (...) jeder Tritt ist mit Thaten bezeichnet und jeder Streich seines Schwerdtes ent-scheidend”.284) Doch auch in Stolbergs Übersetzung wird wenig später diese Analogie zwischen der Sonne und dem Krieg führenden Fingal mit seinem Schild hergestellt:

“(...) denn Fingal ist gerüstet im Thal; du siehst den Flammenschild/Des Königs, zwi-schen den Locken dunkelt ernst/Sein Antlitz, vor sich sieht er das ganze Erin sich entrol-len".285)

Der Vergleich des Schildes mit der Sonne, vor allem aber mit dem Mond ist in der Os-sianischen Dichtung sehr verbreitet und dürfte Runge zu seiner bildlichen Verknüpfung der Helden mit den Gestirnen − dargestellt durch die gegenständliche Identität von Sonne beziehungsweise Mond und Schild sowie von Speerspitze und Stern − unmittel-bar angeregt haben. Auch eine Illustration in der 1800 erschienenen Ossian-Überset-zung des vielseitigen Schriftstellers Johann Gottlieb Rhode (1762 − 1827) zeigt das von der zeitgenössischen Kritik als “zu hyberbolisch und unnatürlich” bemängelte Bemü-hen, den Schild hinter der offenbar riesigen Gestalt Fingals wie die Sonnenscheibe am Himmel schweben zu lassen (Abb. 68).286) Bei Stolberg heißt es: “Dein runder Schild ist breit wie das Angesicht/Des geflekkten Monds, das Antlitz deiner Jugend”.287) Und:

282) Stolberg, Bd. 1, S. 57. Dazu Anhang, S. 9, Z. 10 − 23.

283) Stolberg, Bd. 2, S. 184 f.

284) An Stolberg, Frühjahr 1805: HS I, S. 261.

285) Stolberg, Bd. 2, S. 187.

286) Rez. Neue allg. d. Bib. 1801, S. 350.

287) Stolberg, Bd. 1, S. 104. Dazu Anhang, S. 14, Z. 25 f.

“So sandte Fingal´s Stimme den Ossian,/Der hoch einherschritt über die Haid´; er hub/In die Höh´ den blanken Schild, am düstern Flügel/Des Heers, dem breiten und blassen Monde gleich”.288) Im Gedicht “Karthon” singt der Barde: “O du, die du oben rollest,/Rund, wie der Schild meiner Väter,/Von wannen, o Sonne, dein Strahl?”.289) Angesichts dieser naturnahen, ursprünglichen Bildhaftigkeit in den Ossianischen Ge-sängen fühlten sich Runges Zeitgenossen im Gefolge Herders an die Sprache des Alten Testaments erinnert. In einer 1806 in der “Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung”

erschienenen Rezension zu Stolbergs Ossian-Übersetzung heißt es: “(...) alles dies sind Spuren der ersten Kindheit einer Sprache, die uns an die Einfachheit der hebräischen Poesie erinnern, und in der Beschaffenheit und öfteren Wiederkehr der Bilder (der Mond wie ein Schild, das Mädchen wie ein Stern, der Held wie ein Fels) aus dem Zu-sammenhange denselben Geist zurückstrahlen lassen”.290) Entsprechend hatte Herder bereits 1782 in seiner Schrift “Vom Geiste der Ebräischen Poesie” seine Sehweise der Bibel als frühes Dokument der Naturpoesie ausführlich begründet und dabei auch auf den Ossian verwiesen. Der Barde sei “in Personifikationen Hiobs Bruder”, denn es sind

“alle Gegenstände bei ihm personifiziert, voll Leben, voll Bewegung: sei´s Wind oder Welle, oder gar der Bart einer Distel. Die Sonne ist ihm ein rascher Jüngling, der Mond ein Mädchen (...) der Abendstern ein lieblicher Knabe, der kommt, blickt und wieder weggeht”.291)

Macpherson hat den anschaulichen Vergleich des Schildes mit dem Mond beziehungs-weise mit der Sonne aus John Miltons (1608 − 1674) religiösem Epos “Paradise Lost” − die endgültige Fassung entstand im Todesjahr des Dichters − entlehnt, worin das bibli-sche Thema des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies in visionären Bil-dern beschworen wird: “Dies kaum gesagt, zieht schon zum Ufer hin/Der größere Dä-mon; hinter sich geschwungen/Den wuchtig-runden Schild, gestählt im Äther./Die mas-sige Scheibe hing an Schultern ihm/gleich wie der Mond”, heißt es im ersten Buch der Dichtung, das von Satan und seiner Gefangenschaft nach dem Höllensturz handelt.292)

288) Stolberg, Bd. 3, S. 185 f. Dazu Anhang, S. 75, Z. 33 − 35.

289) Stolberg, Bd. 1, S. 118 f. Dazu Anhang, S. 16, Z. 13 − 15. Vgl. auch ebd., S. 82: “Führe mich hin/Zu deines Vaters Schild,/Zum gewölbten eisernen Schild von Rinval./Zum Schilde, der gleich/Der vollen Scheibe des Mond´s,/Wenn verdunkelt er wallet/Den Himmel hinan”. Ebd., S. 200: “(...) es ruht/Der Schild, gleich dem Kreis des verfinsterten Monds!”

290) Rez. Jenaische A. L.-Z. 1806, Sp. 349.

291) Herder: Vom Geiste der Ebräischen Poesie, 1782, in: SWS, Bd. 11, S. 296 f. Dazu Gillies 1933, S. 128 − 132. Gutzen 1972, S. 97 − 111. Gockel 1981, S. 131 ff.

292) Milton: Das Verlorene Paradies (1667), S. 15. Zu Macphersons Milton-Kenntnissen Stafford 1988, S. 137 f. Zuletzt Gategno 1989, S. 98 − 102.

Während Milton seine kühne Metapher ausschließlich zur typenhaften Charakterisie-rung des Antichrist eingesetzt hatte, sollte das unheimliche Bild bei Ossian die über-menschliche Größe und Kraft sowohl des finsteren und grausamen Schurken Swaran als auch des Tugendhelden Fingal veranschaulichen. Schließlich war es das Ziel Macpher-sons, mit Hilfe der kraftvollen Sprachbilder Miltons und anderer literarischer Quellen den “primitiven” Ton eines Barden aus dem 3. Jh. n. Ch. hervorzurufen. Dabei legte die verhältnismäßig konsequente metaphorische Verknüpfung Fingals mit der Sonne eine allegorische Dimension nahe, so daß Runge in Übereinstimmung mit der Textvorlage den Sonnenschild des Helden mit einer der Bibel entsprechenden ikonographischen Sinngebung verbinden konnte. So beschreibt der Psalmist (Psalm 19, 5 − 7) die Gestirne des Himmels als personifizierte Wesen des Schöpfergottes, die von dessen Herrlichkeit künden: “Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus,/ihre Kunde bis zu den En-den der Erde. Dort hat er der Sonne ein Zelt gebaut./Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam; sie frohlockt wie ein Held und läuft ihre Bahn. Am einen Ende des Himmels geht sie auf/und läuft bis ans andere Ende; nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen”. Und in Psalm 84, 12 heißt es: “Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild./Er schenkt Gnade und Herrlichkeit”.

Somit dürfte Miltons phantastische Umdeutung dieser alttestamentarischen Sprachbilder mittelbar eine wesentliche Anregung für Runges Bilderfindung geliefert haben. Doch auch die mit dem Gestaltungsmittel der geometrischen Konstruktion einhergehende Riesenhaftigkeit der Helden verbindet Runges Charakterbilder mit der zeitgenössischen künstlerischen Rezeption des bedeutendsten englischen Dichters seit Shakespeare.

b) Überdimensionierung

Das Interesse an Miltons biblischen Themen war am Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. In Deutschland hatte die 1732 erschienene Übersetzung des Schweizers Jo-hann Jakob Bodmer (1698 − 1783) vor allem Klopstock sehr beeinflußt.293) Ob Runge Miltons Epos vom “Verlorenen Paradies”, vermittelt etwa durch Claudius, kannte und sich der Parallelen zu Ossian bewußt war, läßt sich nicht nachweisen.294) Um so bemer-kenswerter ist die überraschende Nähe seiner Charakterbilder “Fingal” und “Oscar” zu

293) Zur literarischen Milton-Rezeption in Deutschland Pizzo 1914 und Schulze 1928. Unter kunsthi-storischem Blickwinkel Ost 1973, bes. S. 99.

294) Zu Runges Milton-Kenntnis Traeger, S. 123 f.

den im Füssli-Umkreis entstandenen Milton-Illustrationen der englischen Malerei.295) Dabei zeigt sich einmal mehr, daß die in der Runge-Forschung immer wieder aufge-worfene Frage nach der Kenntnis englischer Vorbilder besonders auf den Bereich der Buchillustrationen beziehungsweise Reproduktionsgraphik gelenkt werden sollte.296) Schließlich war die Buchhandlung der Freunde Perthes und Besser bekannt für ihr gro-ßes Sortiment in- und ausländischer Literatur, wobei es zeitweise sogar Pläne für einen Kunst- und Buchhandel in London gab.297)

So wurde im Frühjahr 1797 in der Londoner Royal Academy ein Gemälde des mit Jo-hann Heinrich Füssli (1741 − 1825) eng befreundeten Portraitmalers Thomas Lawrence (1769 − 1830) gezeigt, das die Darstellung Satans zum Thema hat, der nach dem Sturz seine Legionen zum Gegenschlag sammelt (Abb. 69).298) Eine erstaunliche Ähnlichkeit verbindet dieses durch die Milton-Begeisterung inspirierte Werk mit Runges Charakter-bild des Helden Fingal (Abb. 63): Als riesenhafte Gestalt steht der Antichrist mit breit auseinandergestellten Beinen auf dem Boden, den erhobenen Speer mit der Rechten von außen umfassend. Entsprechend der Beschreibung bei Milton trägt er seinen runden Schild wie eine riesige Mondscheibe hinter sich. Der Koloß durchmißt mit erhobenen Armen wie die als Vorbild dienende Rückengestalt aus Füsslis Milton-Galerie (Abb. 70) die volle Bildhöhe, umgeben vom unendlichen kosmischen Raum.299) Die Ausschnitthaftigkeit des Bildes wird durch den niedrigen Horizont sowie die Über-schneidung des Speeres vom oberen Bildrand sichtbar gemacht. Im Bild rechts von der Satansgestalt ist schemenhaft einer der gefallenen Engel zu erkennen, der vom Schrittmotiv her an Runges “Oscar” erinnert, über den es in Daniels Beschreibung heißt: “Oscar´s Stellung ist hinten am äußersten Horizont, ja mit dem einen Fuß hinter demselben (...)”.300)

295) Zur Wirkungsgeschichte Miltons in der englischen Malerei Frye 1978 und bes. Pointon 1970.

296) Bereits Semrau 1910, S. 249 beobachtete in Runges Freundschaftsbildnis “Wir Drei” (Traeger, Kat. Nr. 306) im Verhältnis zwischen Landschaft und Figuren englische Tradition. Berefelt 1961, S. 23 − 25 suchte nach literarischen Vermittlern der englischen Frühromantik, wobei Kosegarten, der Kreis um Claudius sowie die Handelsverbindungen des Freundeskreises mit England im Mit-telpunkt standen. Becker 1971, S. 41, 74 zur Vermittlung englischer Vorbilder über Frankreich.

Traeger, S. 201 fühlte sich bei den Selbstbildnissen an Lawrence erinnert. Ders. 1987, S. 11. Vgl.

auch Vaughan 1979, S. 15 f., 18 mit besonderem Blick auf die engen wirtschaftlichen Kontakte zwischen England und Hamburg und die mögliche gegenseitige Beeinflussung der Künstler Runge und Blake.

297) S. oben S. 20 mit Anm. 61. Anhang, S. 97.

298) Zu dem Bild Armstrong 1913, S. 177. Pointon 1970, S. 115 f. Ausst. kat. Hamburg 1975, S. 193 mit Abb. 85.

299) Schiff 1963, bes. S. 44 f., 129 f. Ders. 1973, Bd. 1, S. 189 − 213 zu Füsslis Milton-Galerie.

300) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 259.

Der visionäre Charakter der Milton-Darstellung offenbart sich nicht zuletzt in ihrer Rezeption durch den englischen Landschaftsmaler Francis Danby (1816 − 1875): Sein um 1829 entstandenes Gemälde zeigt den Engel aus dem 10. Kapitel der Apokalypse, wie er in einer Wolke vom Himmel herabsteigt, mit einem Regenbogen über dem Haupt und Beinen wie Feuersäulen (Abb. 71).301) Auch Runges riesige Gestalt Oskars erscheint laut Daniel “wie eine Vision, ein Schemen gleichsam, und im Untergehen be-griffen”.302)

Die ebenfalls im Jahr 1797 erschienene Milton-Ausgabe mit Illustrationen des zum Füssli-Umkreis gehörenden Künstlers Richard Westall (1765 − 1836) läßt in der Sa-tansgestalt eine deutliche Beeinflussung durch Lawrence erkennen, wobei die Riesen-haftigkeit des nach antikem Vorbild nackten Heroen hier durch die Horizontlinie der Erdkrümmung sichtbar gemacht wird (Abb. 72).303)

Doch die Voraussetzungen für die Überdimensionierung der Gestalten in den Charakterbildern sind auch in Runges künstlerischem Werk selbst zu suchen. So zeigen der “Morgen” in seiner “Zeiten”-Folge (Abb. 12) und noch der erste Entwurf für den gemalten “Morgen” (Abb. 73) sowie die Illustrationen zu Tiecks “Minneliedern”

(Abb. 8, 9) den abstrakten Kugelabschnitt als Ausdruck einer kosmischen Raum-vorstellung.304) In den Charakterbildern mit Fingal und Oskar sieht man jedoch eine von Bäumen und Büschen begrenzte innerweltliche Landschaft, die vom grenzenlosen Firmament umgeben ist. Entsprechend ist in Runges späten “Morgen”-Gemälden eine von Atmosphäre erfüllte Wiesenlandschaft ausgebreitet, die wie ein Ausschnitt aus dem Unendlichen erscheint. Über dem fernen Horizont schwebt zwischen Himmel und Erde die Gestalt gewordene Aurora als Verkörperung des Morgens.

Bereits die 1801 nach Weimar gesandte Zeichnung “Achill und Skamandros” zeigte den antiken Heroen als gigantische Gestalt, die gerüstet mit Schild und Speer den nackten Skamandros angreift (Abb. 20). Nach Kamphausen ließ die mit der Riesenhaftigkeit verbundene Tendenz zur Reduzierung auf Symbolformen schon den Achill zur Inkarna-tion des Lichtes werden: “Achill und Fingal können somit das Gleiche sagen, und der Fingal, auf dessen Lanzenspitze der Morgenstern steht, hat einen ähnlichen Klang wie der Kämpfer gegen den Skamandros”. Damit gelte Fingal als die männliche Version des

301) Adams 1973, Kat. Nr. 31. Ausst. kat. München 1980, Abb. 302.

302) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 259 f.

303) Pointon 1970, S. 119 − 121 zu Westalls Milton-Illustrationen.

304) Traeger, S. 60.

Morgens.305) Diese Beobachtung werden wir in anderem Zusammenhang noch weiter verfolgen.

Schließlich werden die Helden in der Ossianischen Dichtung selbst als übermenschliche Giganten von unbezwinglicher Kraft geschildert, deren körperliche Stärke sogar eine Zerstörung der Natur verursachen kann. Besonders eindrucksvoll ist dabei die Beschrei-bung von Fingals großen Gegenspieler Swaran im ersten Gesang des Buches “Fingal”:

“Ich sah (...) den Feldherrn, gleich dem schimmernden Fels,/Sein Lanzenschaft ist die

“Ich sah (...) den Feldherrn, gleich dem schimmernden Fels,/Sein Lanzenschaft ist die