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Das Architekturmotiv der Burg Selma

II. DIE EINLEITUNGSSZENE: COMHALS TOD UND FINGALS

2. Das Architekturmotiv der Burg Selma

a) Ruinenlandschaft

Die der Zeichnung zugrunde liegende Idee eines Seelen-Weges der Erlösung erschließt sich dem Betrachter noch über ein weiteres Bildelement von zentraler Bedeutung, näm-lich der bemerkenswerten Architekturkonstruktion der Burg Selma. Die an mittelalterli-che Burgen erinnernde Anlage mit wehrhaften Zinnen und einem betont groben, auf Ur-tümlichkeit verweisenden Rustikamauerwerk beansprucht mehr als die Hälfte des Blattes für sich.

Im Bildvordergrund wird ein monumentaler Torbogen aus riesigen, polygonal aneinan-dergefügten Steinplatten vom rechten Bildrand überschnitten und gewährt so einen kur-zen Einblick in den offenbar düsteren Gang, der zum inneren Bereich der Burg führt.

Die rustizierte Mauer, die diesen Zugang ermöglicht, lenkt den Blick zunächst weiter in den Bildhintergrund, verliert sich aber rasch hinter Büschen und hohen Bäumen, die sie verdecken. An dieser Stelle ragt aus dem inneren Burgbereich ein Gebäude mit einer kleinen, fensterartigen Öffnung und einem Zinnenkranz als oberem Abschluß empor.

Dieser wehrhafte Palas scheint dicht an der Mauer zu stehen und wird von dieser über-schnitten, so daß er nur teilweise sichtbar ist. Dahinter erhebt sich auf einem steilen und mächtigen Unterbau, der wiederum durch das Wohngebäude stark verdeckt wird, ein zum Himmel und nach allen Richtungen durchlässiger Arkadenring, aus dessen Mitte der Knabe hervortritt. Die hinter ihm aufgehende Sonne umstrahlt das Bauwerk, das sich gegen den weiten Himmel abhebt. Die aus groben Blöcken gefügten Arkaden, die aus dem felsgegründeten Sockel hervorwachsen, sind ebenso wie das Gestein der die Burg umgebenden Mauer von Moos und Pflanzen bewachsen.

So führen die sich immer wieder gegenseitig verdeckenden, nie ganz sichtbaren Archi-tekturbestandteile der Burg den Blick des Betrachters zwar sehnsuchtsvoll nach oben.

Indem jedoch die Lage und Ausdehnung der Gebäude hinter der abweisenden Mauer nicht auszumachen ist, verschließt sie diesem gleichzeitig den Weg zu seinem himmli-schen Ziel. Dies sagen auch die grimmigen Torwächter mit ihren riesigen Schilden.

Vielleicht dachte Runge bei seiner architektonischen Allegorie vom steinigen Lebens-weg auch an jene Worte bei Matthäus 7, 13, auf die er im April 1803 in einem Brief an Tieck zurückgegriffen hatte: “Die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Ver-dammniß abführt, und viel sind ihrer, die darauf wandeln; aber die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenig ist ihrer, die ihn finden (...)”, heißt

es in der Erklärung seiner mystischen Kreisfiguration, die uns im Zusammenhang mit der Struktur des Illustrationszyklus zu Ossian noch begegnen wird.189)

In der literarischen Vorlage wird die architektonische Gestalt der Burg entsprechend dem nebelhaften Charakter der Ossianischen Gesänge nur sehr ungenau geschildert. Die wenigen Andeutungen in den Gedichten finden sich allerdings in Runges schriftlicher Bearbeitung Ossians wieder und haben zusammen mit Stolbergs Anmerkungen seine künstlerische Umsetzung der Burgarchitektur wesentlich bestimmt.

So liegt der Stammsitz des Geschlechtes von Morven laut Stolberg − wie in Runges Blatt − an einem “Ort, der weite und anmuthige Aussicht gewährt”.190) Auch die enge Verbindung zwischen Architektur und Landschaft beziehungsweise Natur, die der Künstler durch den Pflanzenbewuchs des Steins sowie die Büsche und Bäume zum Ausdruck bringen wollte, ist in der Dichtung als wichtiges Element einer spezifischen Ruinenpoesie vorgegeben: “Ich erblicke deine Thürm’, ich erblick, o Selma,/Die Eichen deiner beschatteten Mau’r”, heißt es in dem Gedicht “Der Krieg von Inisthona”, wobei die Türme in Runges Zeichnung fehlen.191) Die Wehmut rückschauenden Alters erfüllt Ossians Seele, und vor seinem geistigen Auge erscheinen die hohen Hallen von Selma, wo die Helden sich einst um Fingal versammelten: “Ich fühle die Freuden der vorigen Zeit! (...) daß wiederkehre der Traum von der Jugend Tagen,/Des mächtigen Fingal’s Zeit! o Selma, ich seh’,/Ich sehe deine Thürme vor mir, und den Wald,/Und deine be-schattete Mau’r”.192) Im Gedicht “Die Schlacht auf Lora” wird Selma nach der sie um-gebenden Flußlandschaft als “Kona’s Burg, mit bemoosten Thürmen” umschrieben.193) Eine ähnliche Charakterisierung der Architektur findet man auch in Ossians letztem Lied “Berrathon”: “Von Selma’s Mauren ihr kommt, von bemoosten Mauren/Des Fin-gal’s” sowie an zahlreichen anderen Stellen der Dichtung.194) Die ewig verrinnende Zeit prägt den Mauern und Felsen ihren Stempel auf, läßt die Oberfläche verwittern und

189) An Tieck, Anfang April 1803: HS I, S. 41.

190) Stolberg, Bd. 2, S. 340.

191) Stolberg, Bd. 1, S. 254. Dazu Anhang, S. 29, Z. 15 f.

192) Stolberg, Bd. 1, S. 265. Dazu Anhang, S. 31, Z. 7 f. Vgl. auch Stolberg, Bd. 3, S. 202: “Zu Selma’s schattigen Mauren”. Dazu Anhang, S. 77, Z. 31. Stolberg, Bd. 3, S. 312: “Komm in die schattige Maur von Selma”. Dazu Anhang, S. 57, Z. 17.

193) Stolberg, Bd. 2, S. 308. Dazu Anhang, S. 56, Z. 46.

194) Stolberg, Bd. 3, S. 234. Vgl. auch S. 221: “Ich ging, o du Sohn von Fingal,/Die bemoosten Mau-ren Torlutha’s entlang”. Dazu Anhang, S. 79, Z. 41 f. Stolberg, Bd. 1, S. 4: “Gormals bemooste Thürme”. Stolberg, Bd. 1, S. 67: “Karrikthura’s Thürme mit Moos”. Stolberg, Bd. 1, S. 73: “Um des Sarno bemooste Mauern”. Dazu Anhang, S. 12, Z. 42 f. Stolberg, Bd. 2, S. 165: “Er kam zu Tura’s moosigen Thürmen”. Stolberg, Bd. 2, S. 249: “vom bemoosten Thurm”.

überzieht sie mit Moos und Flechten: “Zerfällst du dereinst, o Stein, verlierst du dich/In der Jahre Moos”, heißt es im achten Gesang des Buches “Temora”.195)

Dabei dürfte für Runge folgende Stelle aus dem Gedicht “Karthon” von besonderer Be-deutung gewesen sein, wo Fingal den Klagegesang für Moina anstimmen läßt und vom verwüsteten Königspalast ihrer Väter erzählt: “Einst hab’ ich/Balklutha’s Mauern ge-sehn;/sie waren öde,/Die Flamme hatte gebraus’t in ihren Hallen,/Erstummet war die Stimme des Volks; der Strom/Des Klutha war gewichen dem Mauersturz,/Die Distel schüttelte noch ihr einsam Haupt,/Im Winde pfiff das Moos, es gukte der Fuchs/Durchs Fenster, aus rankem Gras’ um seinen Kopf./Verödet ist die Wohnung Moina’s, Schwei-gen/Ist izt in der Burg von ihren Vätern! Auf,/O Barden, erhebt der Trauer Sang, ums Land/Der Fremden! früher nur fielen sie! wir müssen/Auch fallen einst!/Was baust du die Halle, Sohn/Der geflügelten Tage?/Du schauest heut’/Aus gethürmten Mauern herab;/Nur wenige Jahre, so kommt/Aus der Wüste der Sturm,/Und heult in verödetem Hofe (...) Wenn du dereinst,/Sonne des Himmels,/Schwindest dahin,/Wofern du schwin-dest, mächtiges Licht! /Wenn auch dein Glanz/Eine Zeit lang nur, wie Fingal daurt,/So lebet länger als deine Strahlen/Einst unser Ruhm”.196)

Die mit dem Bild verfallener Königshallen ausgedrückte Vanitas-Thematik wird in dem Gedicht “Die Schlacht auf Lora” auch auf die Burg Selma übertragen, als Fingal den Untergang seines Heldengeschlechtes vorausahnt: “Ich seh’ sie vorher, o Morven!/Ich sehe deine Stürme vorher, die in Graus/Hinstürzen dereinst die Hallen von Selma, wann/Einst meine Kinder, dahin von der Schlacht gerafft/Sie allzumal, in dem Tode lie-gen! keiner,/In Selma zu wohnen bleibt”.197)

Gemäß einer Tradition in der englischen Lyrik des 18. Jahrhunderts wird das Motiv der Ruine bei Ossian als Metapher für die Vergänglichkeit des irdischen Lebens einge-setzt.198) Das Schicksal des Menschen erfährt im Bild der Ruine als seinem vergängli-chen Werk eine symbolische Darstellung, wobei die Überwucherung der Mauerreste durch die Vegetation das Zeitmaß des Verfalls zum Ausdruck bringen soll: “Härmen

195) Stolberg, Bd. 3, S. 196. Dazu Anhang, S. 77, Z. 2.

196) Stolberg, Bd. 1, S. 98 − 100. Dazu Anhang, S. 13, Z. 19 ff. Vielleicht enthalten Runges verschie-dene Studien eines Fuchskopfes, die 1805 nach dem Vorbild von Tischbeins Tierphysiognomien entstanden sind, auch eine Erinnerung an diese Ossian-Verse. Vgl. Traeger, Kat. Nr. 314 a − e.

Eine weitere Skizze befindet sich auf der Rückseite einer Vorzeichnung zu “Die Ruhe auf der Flucht”, was im Hinblick auf die gedankliche Verbindung zwischen der Paarbildung des Gemäldes mit “Quelle und Dichter” und den Ossian-Ideen im Frühjahr 1805 zu der Überlegung Anlaß gibt.

Vgl. Traeger, Kat. Nr. 318 verso.

197) Stolberg, Bd. 2, S. 309. Dazu Anhang, S. 57, Z. 5 ff.

198) Zum Ruinenmotiv in der Ossianischen Dichtung Haferkorn 1924, bes. S. 138 − 141, 144 − 147, 198 − 201.

wird im Alter/Sich Fingal, sehen seinen schwindenden Ruhm./Es sammlen die Häupter Morven’s dann sich nicht/Um ihn, und der Jahre Moos wächst auf in Selma”.199)

Somit enthält Runges künstlerische Umsetzung der Burg Selma im Motiv der pflanzli-chen Überwucherung den Gedanken der Vergänglichkeit des Menspflanzli-chenlebens, wie er in den Architekturmotiven der Ossianischen Dichtung thematisiert wurde. Darüber hinaus könnten Anregungen durch entsprechende Motive im deutschen Landschaftsgarten des späten 18. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt haben, die ihrerseits von der stim-mungshaften Landschaftsszenerie Ossians beeinflußt worden sein dürften:200) So be-zieht sich Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742 − 1792), Deutschlands großer Garten-theoretiker des 18. Jahrhunderts, in seinem Kapitel über Ruinen ausschließlich auf den Bautyp der gotischen oder mittelalterlichen Ruine, weil seiner Meinung nach antike Überreste in Nordeuropa “keine Wahrscheinlichkeit” besitzen.201) Dieser im Sinne Herders nationale Aspekt der Gartenkunst könnte für Runge von besonderem Interesse gewesen sein, da er in seiner Zeichnung offensichtlich um historische Authentizität der Bauformen bemüht gewesen ist. So hat er Anklänge an die Architektur der Antike durch den Verzicht auf denkbare architrav- oder kuppelartige Bauteile bewußt vermieden.

Im Landschaftsgarten wurde ferner eine Symbiose von ruinöser Architektur und Natur auch im Hinblick auf ihre Vanitassymbolik angestrebt, was durch die Forderung des Landschaftsgärtners Sckell dokumentiert werden soll, die sich fast wie eine Beschrei-bung zu Ossians Ruinenlandschaft liest: “Die Lagen der Ruinen sollten gewöhnlich in fernen Gegenden der Parks, vorzüglich auf Anhöhen und da gewählt werden, wo sich die Natur in ihrem ernstlichen feierlichen Charakter zeiget; wo Einsamkeit und schau-erliche Stille wohnet; wo dunkle Gebüsche in ungetrennten Massen fast alle Zugänge unmöglich; wo der alte Ahorn, die bejahrte Eiche zwischen den bemoosten Mauern stolz emporsteigen und ihr Altertum bekunden: da können sich solche traurigen Reste aus längst verschwundenen Jahrhunderten schicklich erheben und der Täuschung näher treten”.202)

Auch das bereits erwähnte “Tor des Todes” in Runges Blatt könnte auf eine Beeinflus-sung durch die Gartenkunst hinweisen. So ist dieses architektonische “Sinnbild des

199) Stolberg, Bd. 3, S. 9.

200) Ein kurzer Hinweis auf die noch nicht näher untersuchten Beziehungen zwischen der Landschafts-szenerie Ossians und der Gartenkunst bei Hartmann 1981, S. 148.

201) Hirschfeld, Bd. 3, 1780, S. 113 f.

202) Friedrich Ludwig Sckell: Beiträge zur bildenden Gartenkunst für angehende Gartenkünstler und Liebhaber, München 1819, S. 43. Zit. nach Hartmann 1981, S. 148. Vgl. ebd., S. 148 − 151 zur Symbiose von Natur und Architektur in der Ruinenlandschaft der Gartenkunst des 18. Jahrhun-derts.

des als Durchgang vom Diesseits zum Jenseits” eines der zentralen Bildthemen Caspar David Friedrichs (Abb. 39), das nachweislich durch die künstlichen Ruinenlandschaften bestimmter Gärten vorbereitet wurde.203)

Darüber hinaus zeigt Runges Ossian-Szene die Burg Selma als eine Art Gartenbelvede-re, wobei das Motiv mit seinem Versprechen, Ausblick zu gewähren, im Sinne eines Weges dorthin thematisiert wurde. In Übereinstimmung mit der bereits nachgewiesenen religiösen Sinnschicht des Blattes erblickt man ein Belvedere, das den erhöhten Standort nicht zum Ausgangspunkt, sondern zum Ziel der Betrachtung macht.204) Das mit dem Belvedere häufig verbundene Motiv der architektonisch gerahmten Landschaftsaussicht, ein Ausdruck für die spannungsreiche Beziehung zwischen Gartenkunst und Landschaftsmalerei, könnte auch in dem Rundbogen anklingen, der den lichtumstrahlten Knaben überhöht.205) Diese bildmäßige Aussonderung der Szene durch Architektur schafft eine der Betrachterwirklichkeit übergeordnete Realitätsebene im Sinne der visionären symbolischen Bedeutung des christlich-kosmischen Ereignisses, was durch die distanzierte Bedeutungsperspektive der Architektur noch unterstützt wird. Dieses künstlerische Verfahren wurde bemerkenswerterweise in Daniels Beschreibung besonders betont: “In einem Bilde am bemoosten Giebel von Selma sieht man das Kind (...)”, was Hohl zu ihrer Assoziation mit einem Tympanon veranlaßte.206)

Gleichzeitig könnten auch die im Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts verbreiteten Monopterosanlagen mit einem Standbild im Innern des Tempels eine gewisse Rolle für Runges Bildidee gespielt haben (Abb. 40). Nach Hirschfeld erblickt man die offenen Rundtempel “mit Vergnügen auf Anhöhen, die über prächtige Aussicht herrschen, an Stellen, die ein Gefühl von feierlicher Ruhe, von Ehrfurcht, von Bewunderung einflößen, wo die Eindrücke der Naturszenen eine Veredelung erhalten sollen”. Entsprechend

203) Börsch-Supan 1973, S. 230 und Kat. Nr. 169. Zum Einfluß entsprechender Gartenszenen mit Ge-dächtnis- und Felsentoren auf C. D. Friedrichs Bildkonzeption Hartmann 1981, bes. S. 52 − 61.

Das 1778 von Goethe entworfene Felsentor im Garten von Weimar befindet sich am Ende eines sich dem Betrachter im Weg erschließenden Todesdenkmals. Als Allegorie des menschlichen Le-bens versinnbildlicht das Tor den Übergang vom irdischen Leben ins Gefilde des Elysiums. Ebd., S. 49 − 51. Zu Runges Besuch bei Goethe in Weimar im November 1803 Traeger, S. 20 und Mati-le 1979, S. 139 f.

204) Zum Motiv der Ruine als Belvedere Hartmann 1981, S. 251 − 254. Entsprechend erblickte Prange 1992, S. 113 f. in C. D. Friedrichs Sepia “Landschaft mit Pavillon” (1797) ein “paradoxes Ver-hältnis zwischen Motiv und Komposition”, das typisch sei für Friedrichs Neubestimmung der Landschaftsmalerei. Vgl. Börsch-Supan 1973, Kat. Nr. 12. Ausst.kat. Hamburg 1974: Friedrich, Kat. Nr. 7.

205) Zum Motiv der architektonisch gerahmten Aussicht im Landschaftsgarten als bildmäßiger Rezep-tion von Natur Hartmann 1981, S. 36 − 60.

206) Daniel, Entwürfe: HS I, S. 266. Hohl in Ausst.kat. Hamburg 1974, Kat. Nr. 54.

te die Widmung eines solchen Tempels immer in landschaftlichem Zusammenhang ste-hen, wobei dann auch antike Gottheiten wie Sol oder Apollo zugelassen waren.207)

b) Reale und ideale Architektur

Während nun die Lage der Burg auf einer Anhöhe und das von Moos und Bäumen ver-schattete Mauerwerk auch andere Festungen in Ossians Gesängen kennzeichnet, ist die metaphorische Verknüpfung mit dem Licht allein der “Halle von Selma” und dem Hel-dengeschlecht des siegreichen Fingal vorbehalten. So wird dieser gleich zu Beginn in dem Gedicht “Kathloda” als “junger Strahl von Selma” bezeichnet, der mit der aufge-henden Sonne wie ein Adler über das Gebirge kommt.208) Wenig später heißt es in

“Karrikthura”: “Lasst tausend Leuchten flammen empor,/Zum Schalle der Harfen von Selma!/Es verbreite sich der Schein in der Halle”.209)

Dabei dürfte es für Runge wieder von besonderer Bedeutung gewesen sein, daß die Charakterisierung des Helden Fingal in der Dichtung durch Naturschilderungen und gleichzeitige Rückgriffe auf die biblische Metaphorik in einer Weise mit dem Bild der Sonne verschmolzen wurde, die eine Assoziation mit der christlichen Lichtsymbolik geradezu nahelegte. Entsprechende Beispiele werden im Zusammenhang mit den künstlerischen Gestaltungsmitteln der Charakterbilder folgen. So findet sich die Vorstellung des “lichten Selma” in Runges schriftlicher Ossian-Bearbeitung gelegentlich auch dort, wo Stolbergs beziehungsweise Macphersons Verse auf einen anderen Kontext verweisen: “(...) entfernt/Ist Fingal, er hört in Morven der Barden Lied,/Es säuselt der Halle Wind in den Lokken ihm” wurde bei Runge zu “Sehr fern ist Fingal: in Morven lauscht er der Barden Lied; der Halle Licht ist im Haar ihm”.210) Darüber hinaus war für Runges Bildidee des lichtumstrahlten, durchlässigen Arkaden-rings hoch oben entscheidend, daß der bei Ossian für die Burg Selma gebrauchte

207) Hirschfeld, Bd. 5, 1785, S. 233 f. Zum Gartenmonopteros in der Interpretation Hirschfelds Weibe-zahn 1975, S. 25 −28. Zur topographischen Lage ebd., S. 43 − 45. Zur Funktion der Statuen im Monopteros ebd., S. 40 − 43 und bes. S. 19 zur Tradition des Apollotempels im deutschen Land-schaftsgarten.

208) Stolberg, Bd. 1, S. 17. Dazu Anhang, S. 5, Z. 34.

209) Stolberg, Bd. 1, S. 57. Dazu Anhang, S. 9, Z. 24 − 26.

210) Stolberg, Bd. 1, S. 200. Dazu Anhang, S. 23, Z. 42 f.

Begriff der “Halle”211) gleichzeitig auch das Elysium in den “luftigen Hallen”

bezeichnet: “Meine Seele soll hinscheiden im Ton!/Es sollen ihn hören meine Väter/In ihrer luftigen Halle!/Dann neiget ihr trübes Antlitz/Mit Freude sich vor aus ihrem Gewölk!/Ihre Händ’ empfahen den Sohn”, heißt es mit deutlichem Anklang an die Bibel in “Berrathon”.212)

Damit ließen sich die “Hallen von Selma” einerseits entsprechend der bei Ossian vorge-gebenen Bedeutungsebene im Sinne realer Architektur interpretieren. So zeigen Joseph Anton Kochs Ossian-Illustrationen einen von der weiten, halboffenen Raumform der Halle inspirierten gotischen Baustil (Abb. 41, 42, 43). Indem Runge die Verbindung zwischen der Burg beziehungsweise dem dort angestammten “Geschlecht von Selma”213) und dem Licht in der Ossianischen Dichtung vorgegeben fand, konnte er den architektonischen Begriff der “Halle” aber auch mit einem idealen Vorstellungsge-halt verknüpfen, zumal er sich mit der metaphysischen Dimension der “Halle der Vä-ter” zu überlagern schien. Schließlich setzt sich der Name “Walhalla” zusammen aus

“Wal” für Leiche, Tod und “Halla”, was soviel wie Ort, Raum, Himmelsgegend bedeu-tet. Durch Gottfried Schützes “Lehrbegriff der alten Deutschen und Nordischen Völker von dem Zustande der Seelen nach dem Tode überhaupt und von dem Himmel und der Hölle insbesondere” hatte sich die Form “Walhalla” für das altnordische “Valhöll” be-reits seit 1750 in Deutschland eingebürgert. Eine konkrete architektonische Vorstellung des germanischen Elysiums als “Saal” oder “Halle” war damit von der Wortbedeutung her naheliegend. 214)

Darüber hinaus wird in dem Buch “Temora” mehrmals auf “Trenmor’s Halle” ange-spielt, womit der längst in der Schlacht gefallene Urgroßvater Fingals gemeint ist.215) In seinem Brief an Stolberg assoziierte Runge die Gestalt Trenmors mit dem gestaltlosen

211) Stolberg, Bd. 2, S. 239 f.: “Wir kamen zu Selma’s Burg, und sassen im Kreis/An der Muscheln Mahl”. Dazu Anhang S. 50, Z. 20 f. Stolberg, Bd. 2, S. 315: “Sie kam zur schweigenden Burg von Selma”. Dazu Anhang, S. 57, Z. 26. Vgl. ebd., S. 17, Z. 1. Stolberg, Bd. 1, S. 93: “Dies waren der Barden Worte, da sie kamen/Zu Selma’s Hallen”. Ebd., S. 101: “die Hallen Selma’s/Erschimmern hell”. Dazu Anhang, S. 14, Z. 24. Stolberg, Bd. 1, S. 264: “Mit Gesängen führten wir ihn zu Selma’s Hallen”. Dazu Anhang, S. 30, Z. 37. Stolberg, Bd. 2, S. 211: “Es schweigen deine Hallen, o Selma!” Dazu Anhang, S. 48, Z. 45. Stolberg, Bd. 2, S. 219: “Du bleib’ in den Hallen Selma’s, und dort vernimm/von unserm Ruhm”. Stolberg, Bd. 2, S. 225: “Und kehrst du zurück, so geh zu der Halle Selma’s”. Stolberg, Bd. 2, S. 268: “Wir sassen jene Nacht in Selma’s Halle”. Dazu Anhang, S. 53, Z. 1. Stolberg, Bd. 3, S. 228: “Da kam zu der Halle/Von Selma Snitho”.

212) Stolberg, Bd. 3, S. 243. Dazu Anhang, S. 83, Z. 50 f. S. 84, Z. 1 − 5.

213) Anhang, S. 54, Z. 21.

214) Zur Begriffsgeschichte Grimm: Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 1241 f. Vgl. Traeger 1987: Walhalla, S. 43 f.

215) Stolberg, Bd. 3, S. 62. Dazu Anhang, S. 64, Z. 6 und passim.

göttlichen Licht, das besteht, “wann selbst die Sonne vergeht”.216) Diese apokalypti-sche Vorstellung begegnete bereits bei Ossian im Zusammenhang mit dem im Bild der Ruine versinnbildlichten Vanitasgedanken. Am Ende des Gedichtes “Konlath und Kuthona” schildert Runge die Halle Ossians − dies ist ohne Vorbild bei Macpherson − in einer gleichsam kosmischen Raumvorstellung, indem sie sich von einer irdischen Zo-ne mit Wald und Felsen bis hinauf zum Himmelsgewölbe erstreckt.217) Die “Halle der Väter” wird für Runge zum endzeitlichen Wohnort der Seele im unermeßlichen Raum, dessen irdisches Abbild sich in der Burg Selma darstellen ließ. So heißt es in Runges Brief an Stolberg: “Das, was vergeht, ist die Jugend, die Gestalt, die Kraft, kurz Oscar, und über dieses alles erhebt sich zuletzt Ossian’s Geist, und es ist, als wollte in ihm die ganze irdische Gestalt mit der Erde selbst sich auflösen in den alles umspannenden tö-nenden Raum, der den Lichtstrahl lebendig zu empfangen allein im Stande ist”.218)

Erst vor diesem Hintergrund gewinnt Schusters formal überzeugender Hinweis auf das Titelbild der in protestantischen Kreisen vielgelesenen Lebensbeschreibung Heinrich Stillings eine inhaltliche Dimension219) (Abb. 44). In der rechten Bildhälfte sieht man einen mit der Sonne gleichgesetzten Rundtempel auf einer Anhöhe, zu dem ein schlan-genförmig gewundener Weg den Wanderer hinaufführen soll. Die Darstellung des Ti-telkupfers, das die christliche Vorstellung des rechten, aber mühsamen Lebensweges zu einem himmlischen Ziel illustriert, verweist auf einen auch für Runges Blatt gültigen Traditionsstrang der christlichen Ikonographie, in dem göttliches Licht und Architektur im Sinne des “Himmlischen Jerusalem” grundsätzlich assoziierbar sind.

Von daher liegt die Frage nahe, ob Runges lichtumstrahlter Zentralbau mit seiner eschatologischen Symbolik nicht auch die mittelalterliche Idee vom Gralstempel

Von daher liegt die Frage nahe, ob Runges lichtumstrahlter Zentralbau mit seiner eschatologischen Symbolik nicht auch die mittelalterliche Idee vom Gralstempel