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Pädagogisch-therapeutische Massnahmen

Im Dokument Jahrgang 1989 (Seite 46-49)

AHV. Rechtspflege

IV. Pädagogisch-therapeutische Massnahmen

Urteil des EVG vom 9. Mai 1988 i.Sa. R.B.

Art. 19 Abs. 3 IVG; Art. 9 und Art. 12 Abs. 1 Bst. a IVV. Pädagogisch-therapeutische Massnahmen im Vorschulalter sind zu gewähren, wenn die anlage- und begabungsmässige Ausbildung und Förderung bildungsfähiger Kinder in der Volks- und Sonderschule wegen Vorlie-gens eines einzelnen schweren körperlichen oder geistigen Gebre-chens im Sinne von Art. 9 Abs. 1 IVV oder durch das Zusammenwirken verschiedener gesundheitlicher Störungen gemäss Art. 9 Abs. 2 IVV nicht möglich, nicht zumutbar oder gefährdet ist.

Der am 13. Dezember 1981 geborene Versicherte R.B. leidet an emotionalen Störungen und weist einen Rückstand in der Sprachentwicklung auf. Am 28. Mai 1986 wurde er zum Leistungsbezug (heilpädagogische Früherfas-sung) bei der IV angemeldet. Die 1V-Kommission holte eine Auskunft eines Kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes vom 13. Oktober 1986 ein, wel-cher ein Bericht eines heilpädagogischen Dienstes vom 6. Oktober 1986 beilag.

Gestützt darauf kam sie am 13. Februar 1987 zum Schluss, dass die Leistungs-voraussetzungen nicht erfüllt seien, weil eine heilpädagogische Förderung im vorschulpflichtigen Alter nur bei hochgradig geistig behinderten, sinnes- und schwer körperbehinderten Kindern in Betracht falle. Demgemäss lehnte die zu-ständige Ausgleichskasse das Begehren mit Verfügung vom 20. Februar 1987 ab.

Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die kantonale Rekursbehörde mit Entscheid vom 5. Juni 1987 ab. Dies im wesentlichen mit der Begründung, der Versicherte weise lediglich einen Entwicklungsrückstand bei körperlicher sundheit und durchschnittlicher Intelligenz auf, weshalb es an dem für die Ge-währung von Massnahmen notwendigen Erfordernis der Invalidität fehle.

Eine Jugend- und Familienberatungsstelle führt für den Versicherten Verwal-tungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Kostenübernahme der heilpäd-agogischen Frühförderung.

Während die Ausgleichskasse unter Hinweis auf einen Bericht des Kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes vom 20. Oktober 1987 auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das B SV deren Gutheis-sung.

Mit Eingabe vom 21. März 1988 reicht die Ausgleichskasse einen weiteren Be-scheid des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes vom 15. März 1988 ein.

Das EVG heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne folgender Erwä-gungen gut:

1 a. Gemäss Art. 8 IVG haben invalide oder von einer Invalidität umittelbar be-drohte Versicherte nach den gesetzlichen Vorschriften Anspruch auf Eingliede-

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rungsmassnahmen. Als Invalidität gilt die durch einen körperlichen oder geisti-gen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder

Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Er-werbsunfähigkeit (Art. 4 Abs. 1 IVG). Nichterwerbstätige Minderjährige mit einem körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden gelten als invalid, wenn der Gesundheitsschaden wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung ist dieses Er-fordernis bei bildungsfähigen Minderjährigen schon dann erfüllt, wenn der Gesundheitsschaden die Erlangung des Schulwissens beeinträchtigt, wie es in der Volksschule vermittelt wird, weil die Volksschulbildung die Grundlage je-der Erwerbstätigkeit ist (ZAK 1968 S. 406 mit Hinweisen).

Nach Art. 19 Abs. 1 IVG haben bildungsfähige Minderjährige Anspruch auf Beiträge an die Sonderschulung, wenn ihnen infolge Invalidität der Besuch der Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Zur Sonderschulung gehört die eigentliche Schulausbildung sowie, falls ein Unterricht in den Ele-mentarfächern nicht oder nur beschränkt möglich ist, die Förderung in manu-ellen Belangen, in den Verrichtungen des täglichen Lebens und des Kontaktes mit der Umwelt. Art. 19 Abs. 3 IVG ermächtigt den Bundesrat, die erforder-lichen Voraussetzungen für die Beitragsgewährung im einzelnen zu umschrei-ben. Gestützt darauf bestimmte der Bundesrat in Art. 9 IVV, dass einerseits jene minderjährigen Versicherten Anspruch auf Sonderschulbeitrage haben, die eine der in Art. 1 Bst. a bis f beispielhaft aufgezählten Behinderungen aufwei-sen (1. Gruppe), und dass anderseits jene Minderjährigen anspruchsberechtigt sind, «denen infolge eines anderen körperlichen oder geistigen Gebrechens der Besuch der Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist» (Abs. 1 Bst. g:

2. Gruppe, 1. Variante) oder die «infolge mehrerer Gebrechen dem Unterricht der Volksschule nicht zu folgen vermögen», auch «wenn die für die einzelnen Gebrechen erforderlichen Voraussetzungen gemäss Absatz 1 Buchstaben a bis f nicht erfüllt sind» (Abs. 2: 2. Gruppe, 2. Variante; BGE 109 V 12f. Erw.la, ZAK 1983 S.545).

Ferner bestimmt Art. 19 Abs. 3 Satz 2 IVG, dass der Bundesrat Vorschriften zu erlassen hat über «die Gewährung entsprechender Beiträge an Massnah-men für invalide Kinder im vorschulpflichtigen Alter». Gestützt darauf legte der Bundesrat in Art. 12 Abs. 1 Bst. a IVV fest, dass Massnahmen im Vorschulalter unter anderem solche pädagogisch-therapeutischer Art umfassen, wenn diese zur Vorbereitung auf den Besuch der Sonderschule oder der Volksschule not-wendig sind. Weiter verweist Art. 12 Abs. 1 Bst. a Satz 2 IVV auf Art. 9 IVV. Bil-dungsfähige Kinder im vorschulpflichtigen Alter haben demnach Anspruch auf pädagogisch-therapeutische Massnahmen, wenn ihre anlage- und bega-bungsmässige Ausbildung und Förderung in der Volks- oder Sonderschule wegen Vorliegens eines einzelnen schweren körperlichen oder geistigen Ge-brechens (Art. 9 Abs. 1 IVV) oder durch das Zusammenwirken verschiedener gesundheitlicher Störungen (Art. 9 Abs. 2 IVV) nicht möglich, nicht zumutbar oder gefährdet ist. Als Volksschule gilt der im Rahmen der Schulpflicht vermit-

telte Unterricht mit Einschluss des Unterrichts in Hilfs- und Förderklassen (Art.

8 Abs. 2 IVV); ebenso ist der Besuch des Kindergartens dazu zu zählen (ZAK 1987 S. 369 mit Hinweis).

d. Was die Prüfung des Anspruchs vorschulpflichtiger Kinder auf pädago-gisch-therapeutische Massnahmen betrifft, so ist auf die in BG E 109 V 13 Erw.

la Absatz 2 (ZAK 1983 S. 545) hinsichtlich der Abklärung der Sonderschul-bedürftigkeit dargelegten Verfahren zu verweisen. Danach genügt beim Vorlie-gen eines Gesundheitsschadens gemäss Art. 9 Abs. 1 Bst. a bis f IVV (1.

Gruppe) die medizinische Feststellung der geforderten Schwere des Gebre-chens, weil die Massnahmenbedürftigkeit diesfalls vermutet wird. Demgegen-über verlangen die Voraussetzungen der 2. Gruppe (Art. 9 Abs. 1 Bst. g und Art. 2 IVV) einerseits die Abklärung der gesundheitlichen Störungen und an-derseits eine gestützt hierauf zu stellende Prognose über die mutmassliche spätere Beeinträchtigung der schulischen Ausbildung und Förderung. Eine solche Abklärung erfordert die Zusammenarbeit sowohl medizinischer als auch heilpädagogischer Fachleute. Während der Arzt im wesentlichen die Gesund-heitsschädigung sowie die gesundheitlichen Auswirkungen auf den späteren Besuch einer öffentlichen Volksschule festzustellen und zu beurteilen hat, be-steht die Aufgabe der heilpädagogischen Fachleute darin, die erforderlichen Massnahmen festzulegen und gezielt auf eine geeignete Schulung hinzu-wirken.

2a. Gemäss Bericht des Kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes vom 13Oktober 1986 weist der Beschwerdeführer emotionale Störungen mit Angst und Furchtsamkeit auf sowie einen Rückstand in der Sprachentwick-lung. Zudem lägen deutliche Hinweise auf ein psychoorganisches Syndrom vor. Die behandelnde Oberärztin Dr. G. erachtete daher pädagogisch-thera-peutische Massnahmen für eine spätere schulische Eingliederung als unbe-dingt erforderlich. Die Abklärungen durch den heilpädagogischen Dienst er-gaben das Vorliegen eines Entwicklungsrückstandes von mindestens einem Jahr sowie besonderer Schwierigkeiten hinsichtlich der Wahrnehmungsfähig-keit, der Sprache und der Kognition. Eine weitere Vergrösserung des Rück-standes könne nur durch eine gezielte heilpädagogische Förderung verhindert werden (Bescheid vom 6. Oktober 1986). Im Ergänzungsbericht vom 20. Ok-tober 1987 hielt Dr.G. fest, die testpsychologische Abklärung habe das typi-sche Bild eines infantilen psychoorganitypi-schen Syndroms ergeben; es bestän-den visuelle und taktilkinaesthetische Wahrnehmungsstörungen mit Ein-schränkung der Konzentrations- und Merkfähigkeit. Zwar habe der Beschwer-deführer gute Fortschritte gemacht und zeige im Kindergarten für Fünfjährige, welchen er seit Frühjahr 1987 besuche, ein altersentsprechendes Sozialverhal-ten. Dennoch seien für den Obertritt in den Kindergarten für Sechsjährige päd-agogisch-therapeutische Massnahmen unerlässlich. Am 15. März 1988 teilte die Ärztin mit, der Beschwerdeführer könne den öffentlichen Kindergarten nicht weiter besuchen, an einen Obertritt in den Kindergarten für Sechsjährige sei «nicht zu denken». Auf diese Auskünfte ist abzustellen, obwohl sie Tat- 45

sachen betreffen, die sich erst nach dem Erlass der angefochtenen Verfügung am 20. Februar 1987 ereignet haben. Denn die medizinischen Feststellungen beziehen sich unmittelbar auf den massgeblichen Sachverhalt und sind für dessen Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses von Bedeutung.

b. Aufgrund der spezialärztlichen und heilpädagogischen Berichte steht fest, dass der Beschwerdeführer an verschiedenen psychischen Fehlentwicklun-gen, demnach an ((mehreren Gebrechen» im Sinne von Art. 9 Abs. 2 IVV leidet.

Der ausgewiesene Entwicklungsrückstand von einem Jahr, das in den Abklä-rungsberichten geschilderte Verhalten und insbesondere der kinderpsychia-trische Bericht vom 15. März 1988, wonach der Besuch eines öffentlichen Kindergartens nicht mehr möglich ist, zeigen, dass der spätere Eintritt in die Volksschule erheblich gefährdet ist. Bei dieser Sachlage kann - wie das BSV zutreffend ausführt - offen bleiben, ob die Hirnstörung die Erfordernisse eines psychoorganischen Syndroms erfüllt. Die festgestellten gesundheitlichen Schädigungen und die dadurch bewirkte drohende Invalidität begründen den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung pädagogisch-therapeuti -scher Massnahmen im Vorschulalter.

Im Dokument Jahrgang 1989 (Seite 46-49)