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Oppenheims akademischer Lehrer Carl Westphal (1833-1890)

IV. Krankenhausarzt in Berlin

IV.4. Oppenheims akademischer Lehrer Carl Westphal (1833-1890)

1817 dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten angegliedert und blieb für die Universität die vorgesetzte Behörde.157 Die Universität selbst wurde von einem Kuratorium, bestehend aus einem jährlich gewählten Rektor und einem Universitätsrichter geleitet. Auch die Dekane der theologischen, juristischen, me-dizinischen und philosophischen Fakultät wurden jährlich gewählt. Bei der Eröffnung der Universität gab es 58 Lehrer, im Sommersemester 1886 bereits 283, davon 102 an der medizinischen Fakultät, zusammengesetzt aus 15 ordentlichen, 27 außerordentlichen Professoren, zwei Honorarprofessoren und 55 Privatdozenten.158 Im Sommersemester 1886 waren an der medizinischen Fakultät 1175 Studierende registriert, davon 962 aus Preußen, 102 aus anderen Teilen Deutschlands und 111 aus dem Ausland.159

„Möge es ihm gelingen, gestützt auf die Kenntnisse, der er sich bereits angeeignet, sein Ziel – eine Professur – dereinst zu erreichen. Seine Befähigung dazu ist sicherlich vorhanden (...)“160

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abgeschafft waren.162 Westphal habilitierte sich 1861 über das unveröffentlichte Thema

„Untersuchungen über die Körperwärme bei verschiedenen Formen der Geistesstörung“

und mit der Probevorlesung „Ueber die allgemeine progressive Paralyse“.163 Vor der Berufung Griesingers hielt Westphal rein psychiatrische Vorlesungen; die neurologischen Vorlesungen gab der 1859 als erster Jude zum Extraordinarius ernannte Anatom Robert Remak (1815-1865), der sich besonders auf Galvanotherapie und Neurophysiologie spe-zialisiert hatte.164 1869 wurde Westphal außerordentlicher Professor der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität und gleichzeitig leitender Arzt der Abteilung für Geistes- und Nervenkranke an der Berliner Charité. Sein besonderes Verdienst war die Einrichtung einer zweimal wöchentlich stattfindenden Poliklinik für Nervenkranke ab dem Wintersemester 1871/72, die sowohl der ärmeren Bevölkerung Berlins nützte, als auch der Diagnostik sogenannter Übergangsformen zwischen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen diente. Sie wurde zu einer speziellen Anlaufstelle für Patienten mit interessanten neurologischen Symptomen unter Umgehung der starren Aufnahmebedingungen der Charité:165

„Wenn man den Kranken nämlich einschärfte: Kommen Sie am Samstag – also dann, wenn der neurologische Kliniker seinen Aufnahmetag hatte, dann konnte man besonders interes-sante Kranke nicht nur sehen, sondern sie in der Aufnahmestube der inneren Abteilung an der Konkurrenz der anderen Kliniker vorbei auch in die eigene Klinik schleusen.“166 Dierse stellte fest, dass Oppenheim, als späterer Assistent Westphals, „die Bereicherung die der klinische Unterricht durch die ambulanten Patienten der Poliklinik fand“, be-sonders heraus stellte. 1874 erhielt Westphal die erste ordentliche Professur der Fächerkombination Psychiatrie und Nervenkrankheiten an einer preußischen Universität.

Sein besonderer Einsatz galt der Etablierung dieser Fächer als Spezialfächer und der prak-tischen Studentenausbildung. Westphal gab als Hochschullehrer zahlreiche Vorlesungen, die besonders nach Griesingers Tod kontinuierlich zunahmen. Die Klinik für Nerven- und Geisteskrankheiten las Westphal persönlich. Im Wintersemester 1888/89, kurz vor dem krankheitsbedingten Ende seiner Tätigkeit, hielten Mitarbeiter seiner Abteilung sechs Semesterveranstaltungen. Zusätzlich boten ehemalige Assistenten, externe Dozenten und Professoren weitere 12 Veranstaltungen zu neurologischen, psychiatrischen und forensischen Themen an. Am 27.1.1890 starb er in der von Robert Binswanger (1850-1910) geleiteten Kuranstalt „Bellevue“ in Kreuzlingen am Bodensee an den Folgen einer Influenza. Wie Dierse schrieb, war er offenbar an Tabes dorsalis und Progressiver Paralyse erkrankt - an den Krankheiten, über die er zeitlebens geforscht hatte.167 In einem Nachruf würdigte Oppenheim die Verdienste seines Lehrers auf dem Gebiet der pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems, der makro- und mikroskopischen Studien, aber auch auf dem Gebiet der praktischen Psychiatrie bei der Therapie der Psychosen. Er rühmte an Westphal besonders seine exakten Arbeitsmethoden, die frei waren von Spekulationen.168 Westphals Sohn, Alexander Westphal, wurde 1888 mit einer unter Oppenheims Anleitung entstandenen Dissertation „Ueber Encephalopathia saturnine“ promoviert.169

162 Vgl. Dierse Westphal S. 155-159. Vgl. auch Ausführungen zur Maison de santé in Schöneberg, Kap.

IV.2.

163 Vgl. Dierse Westphal S. 19.

164 Vgl. Schmiedebach Remak S. 279-280.

165 Bonhoeffer Charité S. 22.

166 Hess/Engstrom Neurologie S. 103.

167 Vgl. Dierse Westphal. S. 35-39, 176-179.

168 Oppenheim Bibliographie 1890: Nekrolog Westphal S. 93-94.

169 Vgl. Gesuch 1891 im Anhang.

„Vom Juli 1883 fungierte Dr. Oppenheim als Assistent an der Nervenklinik der Kgl. Charité,

de-ren Director Hr. Geheimrath Westphal, in seinem Referat über die Probeschriften ein für die von diesem Habilitanden zu erwartenden Leistungen als Lehrer und Forscher sehr günstiges Urtheil abgab.“170

IV.4.1. Oppenheim als Assistent Westphals von 1883-1890

Die erste eingetragene Meldeadresse Oppenheims in Berlin war 1884 die Adresse der Charité, Unterbaumstr. 7, als Dr. med., Oberarzt.171 Der Titel Oberarzt wurde in der Charité als sogenannter Haustitel geführt, um die zivilen Assistenzärzte von den eben-falls dort tätigen Militärärzten (Militär-Unterärzte, Militär-Stabsärzte) zu unterscheiden.

Kleinere Privatkrankenhäuser, wie z. B. das Jüdische Krankenhaus Berlin, verwendeten für leitende Ärzte den Titel Dirigierender Arzt.172 Wie Herz schrieb, erhielt Oppenheim neben einem Gehalt freie Unterkunft und Verpflegung sowie zusätzlich täglich ein Pfund Brot und wöchentlich ein Pfund Seife.173 Die erste Bestallungsurkunde des Ministers von Gossler an die Charité-Direktion stammte vom 15.6.1883.174 Eine Verlängerung erfolgte am 3.6.1885,175 und die letzte Urkunde wurde am 6.6.1888 erstellt.176

IV.4.2. Robert Thomsen (1858-1914) und Ernst Siemerling (1857-1931) Gemeinsam mit Oppenheim erhielt Thomsen am 15.6.1883 vom Ministerium die Bestallungsurkunde als 3. Assistent der psychiatrischen Klinik der Charité.177 Am 4.6.1884 wurde er 1. Assistent.178 Eine gemeinsame Publikation mit Oppenheim: „Über das Vorkommen und die Bedeutung der sensorischen Anästhesie bei Erkrankungen des centralen Nervensystems“ wurde von Westphal als Abhandlung mit einer „Reihe neuer Thatsachen“ bezeichnet.179 Im Februar 1887, zwei Monate später als Oppenheim, habi-litierte er sich für das Fach Psychiatrie und wurde von Westphal mit einem „sehr gün-stigen Urteil“ bedacht.180 1888 ging er als Leiter der Dr. Hertz’schen Privat-Heil- und Pflegeanstalt nach Bonn. Sein Lehr- und Forschungsschwerpunkt lag in der Forensik. Auf dem Gebiet der Zwangsvorstellungen, deren Lehre Westphal mitbegründet hatte, forschte und publizierte er weiter. 1895 wurde er Professor und 1911 in das Medizinal-Kollegium

170 UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1342/3, S. 63.

171 Adressbuch Berlin (1882), 4. Teil, S. 105; (1884), 1. Teil, S. 718.

172 Winau Medizin S. 255.

173 Herz Memoiren S. 20.

174 GStA PK, I.HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. 10 Bd. 1 Nr. 43, Bl. 168. Die Bestallung erfolgte, wie in der Urkunde vermerkt, gemeinsam mit den Assistenzärzten der Abteilung für Geisteskranke: Dr. med.

Robert Thomsen aus Hamburg (2. Assistent) und Dr. Schütz (1. Assistent).

175 Ebd. Bl. 183.

176 GStA PK, I.HA Rep. 76 Va Sekt 2 Tit. IV Nr. 50, Bl. 34. Cr. = auch curr., als Abkürzung für currentis (veraltet: des laufenden Jahres, Monats). Eine Urkunde für die Jahre 1886-1888 war nicht auffind-bar.

177 GStA PK, I.HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. 10 Bd. 1, Nr. 43, Bl. 168.

178 GStA PK, I.HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 50, Bl. 15.

179 UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1342/3, Bl. 56, 60.

180 GStA PK, I.HA, Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 50, Bl. 15.

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der Rheinprovinz berufen. Er starb am 26.10.1914 nach langer, schwerer Krankheit an einem Nierenzelltumor.181

Der in der Nähe von Stralsund geborene Ernst Siemerling, wurde 1881 in Marburg mit einer embryologischen Arbeit promoviert und war anschließend am dortigen physiolo-gischen Institut unter Eduard Külz (1845-1895) tätig. 1882-1883 arbeitete er an der psy-chiatrischen Klinik Halle (Saale) unter Eduard Hitzig (1838-1907) und wechselte 1884 als 2. Assistent an die psychiatrische Klinik der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.

Gemeinsam mit Oppenheim publizierte er 1887 die Arbeit „Beiträge zur Pathologie der Tabes dorsalis und der peripherischen Nervenerkrankung“, die Westphal als Nr. XIX im Referat zu Oppenheims Habilitationsgesuch ausführlich beschrieb.182 Für die 59. Natur-forscherversammlung, 1886 in Berlin, entstand der Vortrag „Die akute Bulbärparalyse und die Pseudobulbärparalyse“ und 1889 die vorläufige Mitteilung „Ueber das Vorkommen von Hypertrophie der Primitivfasern in Muskelpartikeln, welche dem lebenden Menschen excidirt wurden“.183 Am 21.3.1888 habilitierte sich Siemerling und wurde am 16.7.1892 außerordentlicher Professor der medizinischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.184 1893 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor und Direktor der psychiatrischen Klinik in Tübingen.185 1900 wurde er nach Kiel auf einen neu ge-schaffenen Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie berufen. Nach seiner Emeritierung, 1925, kehrte er nach Berlin-Charlottenburg zurück.186

IV.4.3. Oppenheims Habilitation 1886

Am 4.6.1886 richtete Oppenheim sein Habilitationsgesuch an die Medizinische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität, das mit einem von Westphal versehenen Gutachten am 25.6.1886 eingereicht wurde.187 Das Referat bestand aus „18 kleineren und größeren Arbeiten“, bezeichnet als „Speciminae auditionis“.188 Inhaltlich bezogen sich die Arbeiten vorzugsweise auf das Gebiet der Nervenpathologie, speziell auf das Krankheitsbild der Tabes dorsalis und deren differentialdiagnostische Abgrenzung zu an-deren zentralen Lähmungserscheinungen, wie z. B. der Bleilähmung sowie zu peripheren Nervenentzündungen. Neue Tatsachen ergaben sich hinsichtlich einer Beteiligung von pe-ripheren Nerven bei Tabes dorsalis sowie hinsichtlich von Veränderungen der Sensibilität bei Krankheitsbildern, die ähnlich denen der Hysterie waren. So setzte sich Oppenheim mit den Konzepten von Charcot auseinander und widerlegte Charcots Ansichten der hysterischen Lähmungserscheinungen durch neue, selbst beobachtete Fälle von Krankheitserscheinungen nach Eisenbahnunfällen. Der sog. Railway Spine lag nach zeit-genössischer Theorie eine Erschütterung des Rückenmarks mit Symptomen wie krampfar-tige Bewegungen, Sensibilitäts- und Sprachstörungen, Lähmungen etc. zugrunde, die am häufigsten nach Eisenbahnunfällen vorkamen. Die Symptomatik entwickelte sich nicht sofort nach dem Unfall, sondern meist erst Tage, Wochen oder Monate später. Das kli-nische Bild wurde durch die „nervenbeunruhigende Frage der Entschädigung“ zusätzlich

181 Vgl. Kreuter Neurologen S. 1456-1457. Vgl. König Gedächtnis S. 622-625.

182 UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1342/3, Bl. 59-60.

183 Oppenheim Bibliographie 1886, 1889.

184 GStA PK, I. HA Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit. IV Nr. 50, Bl. 44-45. Vgl. UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1381, Bl. 204.

185 Berliner klin. Wschr. 30 (1893) 20.3.1893 S. 296.

186 Vgl. Kreuter Neurologen S. 1352-1355.

187 UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1342/3, Bl. 52. Vgl. Anhang. Transkription Lenthe/Verf.

188 Vgl. ebd. S. 56-60 im Anhang. Die Dissertation wurde als Nr. I hinzugefügt.

kompliziert. Erstbeschreiber war der Londoner Chirurg John Eric Erichsen (1818-1896).

Da der Obduktionsbefund oftmals negativ war, entstand die Hypothese, dass die Ursache von Nervenleiden nach Unfällen „unsichtbare feine Läsionen des Nervengewebes“ bzw., wie Leyden 1875 schrieb, molekulare Störungen seien. Aus der „Railway Spine“ hat-te sich der Begriff der „traumatischen Neurose“ entwickelt. Oppenheim gebrauchhat-te den Begriff erstmals am 16.1.1888 im Verein für innere Medizin Berlin in seinem Vortrag „Wie sind diejenigen Fälle von Neurasthenie aufzufassen, welche sich nach Erschütterung des Rückenmarks, insbesondere Eisenbahnunfällen, entwickeln?“. In seinem 1889 erschie-nenen Buch „Die traumatischen Neurosen“ sah Oppenheim als auslösendes Moment „das mechanische, aber auch das psychische Trauma (der Schreck)“ sowie auch zusätzliche

„pathologisch-anatomische Veränderungen in den Nervenapparaten“.189

Zusammenfassend schätzte Westphal in seinen Gutachten Oppenheims „scharfes Urtheil“

sowie seine „auffallende Kenntniß“ und sprach seinen Arbeiten „einen nicht unerheb-lichen wissenschaftunerheb-lichen Werth“ zu. Gemeinsam mit dem Korreferenten v. Leyden (1832-1910) befürwortete Westphal die Zulassung zur Habilitation. Am 14.12.1886 hielt Oppenheim in der „vollzählig besuchten Facultätssitzung“, die in der Wohnung von Du Bois-Reymond (1818-1896) stattfand, „zum Zweck seiner Habilitation für das Fach der Nervenkrankheiten und der Psychiatrie, seine Probevorlesung über die multiple Neuritis“. Nach einem Colloquium wurde von der Fakultät beschlossen, ihn zur öffent-lichen Probevorlesung am 18.12.1886 mit dem Thema „Über den Schreck als Ursache von Erkrankungen des Nervensystems“ zuzulassen. (Abb. 49) Anschließend wurde ihm die Habilitation erteilt. Die medizinische Presse nahm von Oppenheims Habilitation in mehreren Zeitschriften Notiz.190 Wie aus einem Artikel von 1887 hervorging, hatte sich Oppenheim bereits damals einen Namen gemacht, so z. B. als Autor der Charité-Annalen.191

„Eine Art Lehrtätigkeit habe ich in den letzten zwei Jahren dadurch ausüben können, daß ich in den Ferien einen Cursus der Krankheiten des Nervensystems mit Einschluß der Elektrodiagnose für Ärzte abhielt.“192