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IV. Krankenhausarzt in Berlin

IV.3. Charité

Als sich im Oktober 1709 die in Europa grassierende Pest den Grenzen Preußens und Berlins näherte, erließ König Friedrich I. (1688-1740) ein Pestreglement zur Einrichtung von Seuchenlazaretten „außerhalb der Stadt, und so viel möglich von anderen Häusern abgesondert“. Ein solches Gebäude entstand 1710 im Nordwesten Berlins, zwischen Panke und Schönhauser Graben, nördlich der Spree. (Abb. 33) Als Berlin von der Pest verschont blieb, wurde das Gebäude einerseits als Hospital für arme Kranke, ander-seits als Arbeitshaus (Spinnhaus) für Obdachlose genutzt. Wegen der weiten Entfernung von der Stadt konnte es nicht als Garnisonslazarett verwendet werden und diente als Bürgerlazarett und Lehrstätte für das 1724 gegründete Collegium medico-chirurgicum unter der Bezeichnung „Lazareth und Hospital vor dem Spandauer Thor“. Friedrich Wilhelm I. schrieb am 14.1.1727 als Marginalie auf eine Steuerakte: „Es soll das Hauß die charité heißen F. W.“ (Ort der Barmherzigkeit, des Rückzugs, der Zuflucht und der Seelsorge).144 Sie war vordergründig als Heil- und Lehranstalt für Militärärzte ge-dacht.145 1800 wurde die Alte Charité eingeweiht. Sie befand sich mit einem durch zwei Seitenflügel verbundenen Mitteltrakt und einem Haupteingang an der Westseite zum Schönhauser Graben hin. Das alte und baufällig gewordene ehemalige Pesthaus, muss-te dem Mitmuss-teltrakt weichen.146 (Abb. 34) 1810, nach Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, „wurden die Charitékliniken Friedrich-Wilhelms-Universitätskliniken und ihre Direktoren fortan Universitätsprofessoren, ihre Berufung erfolgte nach Anhörung der Fakultät durch den Kultusminister“.147 1831-1834 entstand ein Erweiterungsbau, die Neue Charité, deren zwei untere Stockwerke von Geisteskranken und Epileptikern belegt waren.148 Weitere Neubauten folgten in der ersten Hälfte des 19. Jhs. sowie nach 1865. (Abb. 35, 37, 38) Von 1897-1916 entwickelte sich ein auf 133 000 Quadratmetern verteilter „städtebau-lich geschlossener architektonisch einheit„städtebau-licher Klinikkomplex“. Die Charité hatte sich von einem provinziellen Pesthaus zu einem Universitätsklinikum mit Weltruf entwickelt.

Während des 2. Weltkrieges wurden durch angloamerikanische Luftangriffe 65% der Kliniken und Institute zerstört, die von 1954-1959 durch neue Gebäude ersetzt wurden.

Mitte der 70er Jahre wurde ein Neubaukomplex, volkstümlich „Charité-Bettenhaus“ ge-nannt, für die operativen Disziplinen errichtet. Die Sanierung der Altbausubstanz,

„ge-141 Vgl. Bezirksamt Schöneberg Maison S. 28, 53, 57.

142 Allg. Zschr. Psychiatr. 75 (Berlin und Leipzig 1919) S. 755.

143 UAHU Berlin, Med. Fak., Nr. 1342/3, Bl. 54.

144 Wirth/Luther et al. Charité S. 2.

145 Cramer Universitätskliniken S. 192.

146 Ebd. S. 192. Vgl. Wirth/Luther et al. Charité S. 7.

147 Pütter Erinnerungen S. 13.

148 Cramer Universitätskliniken S. 192.

prägt von den aus roten Handstrichziegeln bestehenden Fassaden, die durch Putzflächen, Gesimse und Sohlbänke belebt werden“, erfolgte schrittweise seit 1981.149

IV.3.1. Nervenklinik im Nordwestflügel der Charité (Abb. 36)

Bis 1789 wurden die Geisteskranken Berlins in der Irrenanstalt Krausenstraße unterge-bracht. Nach einem Brand mussten sie notgedrungen in die Innere Klinik der Charité ausweichen, verblieben dort zunächst in einer eigenen Abteilung und zogen 1835 in das Gebäude der Neuen Charité, einem „hässlichen düsteren Gebäude mit kleinen vergit-terten Fenstern“ um. 1830 wurde die Abteilung eine eigenständige Klinik unter Carl Wilhelm Ideler (1795-1860). Griesinger hatte die Annahme seiner Berufung als ordent-licher Professor für Psychiatrie 1865, von der Errichtung einer separaten Nervenklinik abhängig gemacht, die mit ca. 30 Betten im Nordwestflügel der Alten Charité eingerichtet wurde. (Abb. 48) Mit der Nervenklinik sollte der andernfalls zu erwartende zusätzliche Publikumsverkehr, einschließlich der Studentenbesuche, im rufschädigenden Milieu der Irrenabteilung der Neuen Charité unterbunden werden. Bald profitierte die Nervenklinik durch ihre räumliche Nähe zur inneren Abteilung am Patientengut der Medizinischen Klinik.

Griesinger hatte ebenfalls die Bedingung eines „Aufnahmetages“ für die Nervenklinik ge-stellt, der ihm ministeriell bestätigt wurde. Seit 1847 waren Aufnahme und Verteilung der Patienten ohne Arzt nur noch unter dem Aspekt der Kostenträgerschaft durchgeführt wor-den. Auf der inneren Abteilung teilten sich z. B. die beiden Medizinischen Kliniken die Aufnahmen und wählten die Patienten nach den Eignungskriterien Studentenunterricht und Forschung aus. Alle anderen verblieben auf den inneren Stationen. Griesinger hätten ohne einen speziellen Aufnahmetag nur noch von Verwaltungsbeamten ausge-suchte Geisteskranke oder für die Medizinischen Kliniken unbrauchbare Patienten zur Verfügung gestanden. Nun erhielt er das sogenannte „Nervenmaterial“ der Medizinischen Kliniken für Studentenunterricht und Forschung, was wichtig zur Herausbildung eines neurologischen Spezialwissens wurde.150 1886 gab es in der Psychiatrischen Klinik ins-gesamt 148 Betten (55 weibliche, 93 männliche), die sich folgendermaßen aufteilten: rein Psychiatrische Klinik 100 Betten (40 weibliche, 60 männliche); 23 Betten für Deliranten (5 weibliche, 18 männliche), 25 für Epileptische (10 weibliche, 15 männliche). Angestellt waren drei Zivilassistenzärzte: Thomsen, Siemerling und Schönthal, drei im Verlaufe wechselnde Militär- und Unterärzte sowie 22 weibliche, 18 männliche Lohnwärter und 15 Diakone. Die Nervenklinik hatte 55 Betten (25 weibliche und 30 männliche) mit Oppenheim als Zivilassistenzarzt und einem Militär-Unterarzt sowie 5 weiblichen und 4 männlichen Lohnwärtern. Die Summe der Verpflegten in der Nervenklinik stieg von 237 (davon 100 geheilt oder gebessert und 23 verstorben) im Jahre 1880 auf 307 (davon 131 geheilt oder gebessert und 22 verstorben) im Jahre 1884.151 Als erste Universität besaß Berlin nun eine, wenn auch räumlich getrennte, so doch gemeinsame, wissenschaftlich ausgerichtete Klinik für Neurologie und Psychiatrie.152 1904 wurde die bis heute erhalten gebliebene gemeinsame Psychiatrische- und Nervenklinik an Stelle der Neuen Charité errichtet. Zwischen 1901 und 1913 wurde die Alte Charité in mehreren Etappen

abge-149 Vgl. Wirth/Luther et al. Charité S. 8-15.

150 Vgl. Bonhoeffer Charité S. 12. Vgl. Hess/Engstrom Neurologie S. 101-103.

151 Guttstadt Staatsanstalten S. 352, 356, 378. Die Psychiatrische Klinik, die Abteilungen für Geisteskranke, Krampfkranke, Delirante und Gefangene wurden jeweils statistisch extra aufgeschlüsselt und ge-führt.

152 Scheller Psychatrie S. 294.

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rissen: 1901 der Nordostflügel zur Errichtung der Chirurgischen Klinik, 1907 der nörd-liche Mitteltrakt zum Bau der II. Medizinischen Klinik, 1910 der südnörd-liche Mitteltrakt zum Bau der I. Medizinischen Klinik. 1913 wurde die Medizinische Poliklinik auf dem ehemaligen Südostflügel errichtet. Entgegen der ursprünglichen Planung blieben je ein Teil des nördlichen und südlichen Seitenflügels der Alten Charité stehen. Der ehemalige Nordwestflügel mit der Nervenklinik blieb mit „9 Fenstern Front“ erhalten und beher-bergte ab 1930 die Kieferklinik. Im Rest des Südflügels lag die Augenklinik. Während der Bombardierungen 1945 wurden die Kiefer- und Augenklinik besonders schwer be-schädigt, so dass sie für einen Wiederaufbau ungeeignet waren und 1946 als Ruinen ab-getragen wurden.153

IV.3.2. Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und Medizinische Fakultät Im Zuge des Tilsiter Friedens 1807 und der damit verbundenen preußischen Gebietsverluste jenseits der Elbe mit Bildung des Königreiches Westfalen ergriff König Friedrich Wilhelm III. Vorkehrungen, die verlorene äußere Macht durch Stärkung der inneren Kraft zu ersetzen. 154 Nach Schließung der Universität Halle durch Napoleon (1769-1821) im Jahre 1806 baten zwei Deputierte im Namen ihrer Kollegen, unterstützt durch den Leibarzt Friedrich Wilhelms III. und ersten Direktors der Charité, Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), den König um Einrichtung einer höheren Lehranstalt in Berlin.155 Nach Abzug der Franzosen aus Berlin kam es zu einer Umstrukturierung der Staatsverwaltung. Zum Leiter des Unterrichtswesens, einem Teil des Ministeriums des Innern, wurde der bis dahin in Rom tätige preußische Beamte Wilhelm von Humboldt (1767-1835) berufen. Mit ihm, dem „Staatsmann und zugleich Mann der Wissenschaft, vertrautem Freund Schillers, einem tiefen Forscher auf dem Gebiet der Sprache, einem erhabenen Charakter“, wurde der Plan einer Universität „in aller Stille und vorsichtig“

in die Tat umgesetzt. Zunächst galt es, drei Aufgaben zu bewältigen: die Sicherstellung der Professoren, der Erwerb eines öffentlichen Gebäudes für die Universität und die dazu nötigen finanziellen Mittel. Auf den Vorschlag von Humboldts hin schenkte König Friedrich Wilhelm III. das Palais des Prinzen Heinrich (1726-1802) Unter den Linden der Universität auf ewige Zeiten. (Abb. 39-44) Die finanziellen Mittel sollten laut Hufeland und Humboldt durch Verleihung von Domänengütern sichergestellt werden. Am 16.8.1809 unterschrieb König Friedrich Wilhelm III. in Königsberg/Preußen die Stiftungsurkunde.

Neun Monate später wurde eine Kommission „zur Einrichtung der Universität“ gebil-det, deren Schlussbericht im September 1810 mit den Worten vorlag: „Somit ist diese wichtige Anstalt um Michaelis nach Ew. Königlichen Majestät Willen eröffnet (...).“Am 6.10.1810 wurden sechs Studierende, darunter drei Juristen, ein Mediziner, ein Theologe und ein Pharmazeut, immatrikuliert. Am 15.10.1810 begann Hufeland als erster Dekan der medizinischen Fakultät seine Vorlesungen und Übungen in der Poliklinik, die er als ehemaliger Professor der Universität Jena modellhaft entwickelt hatte. Neben seiner wis-senschaftlichen Tätigkeit legte er Wert auf die unentgeltliche medizinische Versorgung der armen Bevölkerung und die poliklinische Ausbildung seiner Studenten, mit denen er sich täglich traf, um Diagnosen zu stellen und therapeutische Vorgehensweisen zu dis-kutieren.156 Das ehemals von Humboldt geleitete Ressort des Unterrichtswesens wurde

153 Vgl. Wirth/Luther et al. Charité S. 11-13.

154 Vgl. Kap. II.1.

155 Guttstadt Staatsanstalten S. 15-16. Winau Medizin S. 132-134.

156 Guttstadt Staatsanstalten. S. 15, 40-41, 44, 46. Winau Medizin S. 133.

1817 dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten angegliedert und blieb für die Universität die vorgesetzte Behörde.157 Die Universität selbst wurde von einem Kuratorium, bestehend aus einem jährlich gewählten Rektor und einem Universitätsrichter geleitet. Auch die Dekane der theologischen, juristischen, me-dizinischen und philosophischen Fakultät wurden jährlich gewählt. Bei der Eröffnung der Universität gab es 58 Lehrer, im Sommersemester 1886 bereits 283, davon 102 an der medizinischen Fakultät, zusammengesetzt aus 15 ordentlichen, 27 außerordentlichen Professoren, zwei Honorarprofessoren und 55 Privatdozenten.158 Im Sommersemester 1886 waren an der medizinischen Fakultät 1175 Studierende registriert, davon 962 aus Preußen, 102 aus anderen Teilen Deutschlands und 111 aus dem Ausland.159

„Möge es ihm gelingen, gestützt auf die Kenntnisse, der er sich bereits angeeignet, sein Ziel – eine Professur – dereinst zu erreichen. Seine Befähigung dazu ist sicherlich vorhanden (...)“160