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Neue Krankheitsbilder und Arbeitsschwerpunkte

VI. Niedergelassener Nervenarzt in Berlin

VI.3. Ärztliche Tätigkeit in der Privatpoliklinik und Privatpraxis

VI.3.5. Neue Krankheitsbilder und Arbeitsschwerpunkte

wirklich ausfüllte, übereinstimmend festgestellt, dass seine ersehnte Arbeit mit Studenten durch nichts ersetzt werden konnte.357

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Die Myotonia congenita, auch Thomsen-Syndrom genannt, ist eine Krankheit, bei der be-dingt durch eine Störung der normalen Muskelentspannung, eine erhöhte Muskelspannung bzw. ein tonischer Muskelkrampf auftreten. Sie ist eine seltene Form der Myotonie (3-4:100.000 Einwohner), die auf einer Mutation eines Gens auf dem Chromosom 7q35 beruht. Die Krankheit beginnt bereits im frühen Kindesalter, ohne Verkürzung der Lebenserwartung. Symptome sind generalisierte Myotonie und Hypertrophie der querge-streiften Muskulatur, Verzögerung der motorischen Entwicklung, Extremitätendeformitäten und Skoliose. Als therapeutische Maßnahmen werden Physiotherapie sowie membransta-bilisierende Medikamente eingesetzt. Bei wiederholter Kontraktion lässt die Myotonie nach, d. h. die Patienten können durch Übungen eine freie Beweglichkeit erreichen.

Allerdings wird bei der paradoxen Myotonie die Dekontraktionshemmung (Verzögerung der Erschlaffung bei willkürlichen Muskelbewegungen, auch reflektorisch durch Beklopfen des Muskels auslösbar) nicht besser, sondern verschlechtert sich noch, was zu einer stärkeren Behinderung im Alltag führt.

Dystonia musculorum deformans/progressiva (Ziehen-Schwalbe-Oppenheim-Syndrom):360

Oppenheim gebührt das Verdienst, diese eigenartige Krampfkrankheit Jugendlicher aus den hysterisch-lordotischen und athetotischen Formen, von ihm Dystonia muscu-lorum deformans genannt, selektiert zu haben. Im Gegensatz zu Ziehen, der sie zuvor als „Torsionsneurose“ beschrieben hatte, wurde sie von Oppenheim als Krankheit or-ganischen Ursprungs deklariert. 1911 beschrieb er vier Fälle der Dystonia musculorum deformans, die er „nach langem Schwanken als organische Erkrankung erkannte“. Wie Cassirer schrieb, „waren es Kranke, die er meist nur ein oder einige Male konsiliarisch sah, die ihm unter der Diagnose Hysterie zugesandt wurden“. Stern bemerkte:

„Die Vorsicht, die man an den Tag legen muss in dieser Diagnose zwischen funktionalen und organischen Erscheinungen wird deutlich durch die Tatsache, dass ich einen thera-peutischen Erfolg hatte bei einem der ersten Fälle dieser Krankheit, die damals in der Poliklinik entdeckt wurden, und dieser Erfolg war aufgrund einer Hypnose, die ich damals als Aufgabe in der Klinik durchführte. Diese Tatsache war aber nicht der Beweis, dass der organische Ursprung der Krankheit auszuschließen wäre.“361

Sie wird heute als erbliche Form der Torsionsdystonie bezeichnet und ist eine extra-pyramidale Erkrankung mit unwillkürlichen Muskelkontraktionen und grotesker Verdrehung von einzelnen Gliedern (fokale Dystonie) bzw. des ganzen Körpers (gene-ralisierte Dystonie). Ursache ist wahrscheinlich eine Störung des Dopaminstoffwechsels in den Stammganglien. Neben der autosomal-dominanten oder -rezessiv erblichen Torsionsdystonie, die als Ziehen-Schwalbe-Oppenheim-Sydrom bezeichnet wird und zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr beginnt, existieren noch eine X-chromosomal re-zessive sowie idiopathische und symptomatische Formen. Kennzeichen sind rotierende Bewegungen von Kopf und Rumpf, athetotische Fingerbewegungen mit Schreibkrampf, Gangstörungen sowie evtl. ein spastischer Schiefhals.

360 G. Th. Ziehen (1862-1950), Neurologe und Psychiaer in Halle, G. A. Schwalbe (1844-1916), Anatom in Leipzig, Jena, Königsberg und Straßburg.

361 Liepmann Nekrolog S. 3. Marburg Nekrolog S. 1296-1297. Cassirer Nekrolog S. 670. Stern 100.

Geburtstag Ha-Refua. Stern 100. Geburtstag Confin. neurol. S. 389. Stern 40. Todestag S. 2207.

Zehenreflex (Oppenheim-Zeichen):

„Der Oppenheim’sche Zehenreflex ist völlig in der Klinik eingebürgert, (...)“362

Der Zehenreflex gilt als Pyramidenbahnzeichen, das nach Läsion des 1. motorischen Neurons (Pyramidenbahn) auftritt und pathologische Mitbewegungen zur Folge hat.

Ausgelöst wird das Zeichen durch forciertes Bestreichen der inneren Schienbeinkante mit Folge einer Bewegung der Großzehe zum Körper hin, Beugung der 2.-5. Zehen in Richtung der Fußsohle und Spreizung dieser Zehen. Oppenheim veröffentlichte eine Beobachtungen dazu erstmals 1902 mit der vorläufigen Mitteilung „Zur Pathologie der Hautreflexe an den unteren Extremitäten“.363

Witzelsucht:

„auch die „Witzelsucht“ in der Stirn stammt von O.“364

Sie ist heute als Stirnhirn- oder Frontalhirnsyndrom bekannt, resultierend aus einer um-schriebenen Schädigung des Gehirns unterschiedlicher Ursache, z. B. bei Hirntumoren oder -abszessen, Hirnatrophie, intrazerebraler Blutung, zerebraler Durchblutungsstörung sowie progressiver Paralyse. Symptome sind je nach Schädigungsort, z. B. Riechstörungen, Affektlabilität, Steigerung des Antriebs oder Moria (Witzelsucht) mit Neigung zu inadä-quatem, läppischem Verhalten.

Fressreflex:

„der seltenere Freßreflex Oppenheims wurde weniger bekannt.“365

Oppenheim entdeckte ihn 1904 erstmalig, z. B. bei „passiv-bulbärischen Lähmungen von Kindern“, ausgelöst „durch Berührung mit den Lippen am harten Gaumen“.366 Er gilt als primitiver Hirnstammreflex mit Kau-, Saug- und Schluckbewegungen bei Bestreichen der Lippen und der Zunge. Natürlicherweise kommt er bei Säuglingen vor und kann spä-ter als Enthemmungsphänomen infolge einer Hirnschädigung, z. B. beim apallischen Syndrom (Klüver-Bucy-Syndrom) wieder auftreten.

Bulbärparalyse/Bulbärerkrankungen:

Oppenheim arbeitete am „Ausbau der Lehre von der Bulbärparalyse“ und wurde damit bereits während seiner Zeit an der Charité bekannt. Seine Monographien über das Thema zeugen von einem „fein beobachtenden Kliniker“. Zusammen mit Siemerling hatte er „die arteriosklerotischen sog. Pseudoformen dieses Leidens anatomisch studiert“. Oppenheim beschrieb als Erster die „infantile Form der zerebralen Glossopharyngolabialparalyse“

sowie deren charakteristische Einzelsymptome, den „Fressreflex“ und die „akustiko-motorische Uebererregbarkeit“. In einem Fall sah er bei Mutter und Kind ein ähnliches Krankheitsbild, das 25 Jahre später in einer Arbeit mit Cécile Vogt als Krankheit

„stri-362 Vgl. Stern 100. Geburtstag Confin. neurol. S. 389.

363 Oppenheim Bibliographie 1902.

364 Stern 100. Geb. Confin. neurol. S. 389. Ich danke Herrn Dr. med. W. Piecha für die wertvollen Anregungen.

365 Stern 100. Geburtstag Confin. neurol. S. 389.

366 Stern 100. Geburtstag Ha-Refua.

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ärer Genese festgestellt wurde“.367 Die Bulbärparalyse ist ein Sammelbegriff für neuro-logische Krankheitsbilder, die durch umschriebene beidseitige Schädigung motorischer Hirnnervenkerne in der Medulla oblongata (verlängertes Mark zwischen Rückenmark und Kleinhirn) entstehen. Es gibt drei verschiedene Ursachen: akute Blutungen oder Embolien sowie Entzündungen, eine wahrscheinlich autosomal-rezessiv vererbte fami-liär infantile Form, beginnend zwischen dem 2. und 12. Lebensjahr fortschreitend und eine progressive Form bei Muskeldystrophie vom Typ Duchenne im höheren Lebensalter durch degenerative Veränderungen im Kerngebiet der Hirnnerven (motorischer Anteil), VII, IX, X und XII. Symptome sind Sprechstörungen, Stimmlosigkeit, Störung der Schluck- und Kaubewegungen, Zungenatrophie. Bulbäre Symptome kommen auch bei Krankheiten wie z. B. bei neurogener Muskelatrophie, amyotrophischer Lateralsklerose, Poliomyelitis, Medullatumoren, Neurosyphilis und Botulismus vor.

Poliomyelitis (= epidemische spinale Kinderlähmung):

Mit ihr beschäftigte sich Oppenheim bereits erfolgreich während seiner Zeit bei Westphal.368 1887 erschien die Arbeit „Ueber die Poliomyelitis anterior chronica“.369

Polymyositis:

Auch die Polymyositis gehörte zu Oppenheims ersten Forschungsthemen:370

„Auf einen viel beachteten Vortrag in der Hufeland’schen Gesellschaft über das interes-sante Krankheitsbild der Polymyositis, die jetzt erneut unser Interesse fesselt und immer noch viel verkannt wird, sei im Anschluss darauf hingewiesen. Neben der Beteiligung der Haut hat er auch die der Schleimhaut, die bis dahin der Aufmerksamkeit entgangen war, hervorgehoben.“371

Heute versteht man darunter eine den Kollagenosen zugeordnete Autoimmunkrankheit, die vor allem die Muskulatur, beim Dermatomyositis-Polymyositis-Komplex auch die Haut betrifft. Es treten Schmerzen in den körperstammnahen Muskelgruppen und meist gleichseitig am Schulter- und Beckengürtel sowie an Armen und Beinen auf, so dass der Betroffene oft nicht aus dem Sitzen aufstehen kann. Weiterhin können Augenstörungen (Schielen), Schluckstörungen und -lähmungen sowie Fieber und allge-meines Krankheitsgefühl auftreten.

Erkrankungen der peripheren Nerven:

Auch seine Arbeiten über Krankheiten des peripheren Nervensystems wurden wegen der Vielfalt ihrer Beschreibungen als „Fundgrube für jeden Diagnostiker“ bezeichnet.

372 Oppenheim stand auch an vorderster Front der Forscher, die notgedrungen aus den Kriegserfahrungen neue Erkenntnisse schöpften, z. B. bei der Polyneuritis.

367 Liepmann Nekrolog S. 3. Marburg Nekrolog S. 1296-1297. Finkelnburg Nekrolog S. 473. Cassirer Nekrolog S. 669-670.

368 Finkelnburg Nekrolog S. 473.

369 Oppenheim Bibliographie 1887.

370 Finkelnburg Nekrolog S. 473.

371 Cassirer Nekrolog S. 670.

372 Marburg Nekrolog S. 1296-1297.

Polyneuritis (= Nervenentzündung):

Wie Cassirer schrieb, „hat er an dem Ausbau der Lehre von der Polyneuritis sehr wesent-lich mitgewirkt“, da am Anfang seiner wissenschaftwesent-lichen Tätigkeit dieses Gebiet noch größtenteils unbearbeitet vorlag. Er beschrieb „arteriosklerotische und senile Formen des Leidens“ und widmete der Prognose wegen des oftmals eher ungünstigen Ausgangs des Krankheitsbildes immer wieder seine Aufmerksamkeit.373

Chronische Muskelerkrankungen/neurotische Muskelatrophie (= Muskelschwund):

Auch diese Lehre brachte er voran, indem er feststellte, „dass die neurotische Muskelatrophie kein einheitliches anatomisches Substrat hat“.374

Spinale Hemiplegien (= zum Rückenmark gehörende vollständige Lähmung einer Körperhälfte:

Besonders auf diesem Gebiet konnte Oppenheim seine Feindiagnostik einsetzen, die de-tailgenau und frei von Spekulationen war.375

Meningitis serosa spinalis circumscripta/Meningitis serosa chronica:

1906 beschrieb Oppenheim die Meningitis serosa spinalis circumscripta. Wie Liepmann schrieb, war sie „ein Nebenergebnis seiner auf die Rückenmarksgeschwülste gerichteten Studien“. Er war der erste, der sie gemeinsam mit Krause einer operativen Behandlung zuführte. Differentialdiagnostisch ergaben sich Probleme bei der Abgrenzung zur Meningitis serosa chronica, die Oppenheim zuerst 1888 als „Fall von primärem, idiopa-thischem, chronischem Hydrozephalus mitteilte“. Es blieb eine offene Frage, „ob es ein dem zerebralen Pseudotumor ähnliches Krankheitsbild im Rückenmark gibt“.376

Multiple Sklerose (= MS/Encephalomyelitis disseminata):

Diese war ein Lieblingsthema von Oppenheim. Erstmals erschien 1887 eine Arbeit „ue-ber multiple Sklerose“ von ihm.377 Er beschrieb als Erster die Formenvielfalt der MS sowie das somatisch bedingte Zwangslachen, das „nicht auf Demenz zurückzuführen ist“. Er erkannte als einer der ersten „die dominierende Bedeutung der Optikussymptome und die „Blasen- und sensiblen Symptome“. Später wies er noch auf das frühe Auftreten von Gesichtslähmungen hin. Weiterhin beschäftigte er sich mit der schwie-rigen Differentialdiagnose gegenüber Tumoren und der Lues cerebrospinalis (Hirnlues), die damals vor Entdeckung der Wassermann’schen Reaktion378 sehr schwierig war. Er beschäftigte sich immer wieder mit der MS und besonders mit ihrer Abgrenzung zur Pseudosklerose (Wilson-Krankheit). Noch am Ende seines Lebens publizierte er über ab-weichende Formen der MS. Gegenüber v. Leyden zeigte er „klinischen Scharfsinn“ und

373 Cassirer Nekrolog S. 670.

374 Ebd. S. 670.

375 Cassirer Nekrolog S. 671. Marburg Nekrolog S. 1296-1297.

376 Liepmann Nekrolog S. 4. Marburg Nekrolog S. 1296-1297. Finkelnburg Nekrolog S. 474. Cassirer Nekrolog S. 670-671.

377 Oppenheim Bibliographie 1887.

378 Vgl. Hubenstorf Wassermann S. 325: 1906 von A. P. Wassermann (1866-1925) entdeckte Komplement-Fixation zur Syphilisdiagnostik („Syphilisreaktion“).

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wehrte sich „gegen die Einbeziehung der Sklerose in die übrigen Myelitisformen“. Von seinen Enzephalitisforschungen ausgehend, beurteilte er die Beziehungen der MS zu an-deren Enzephalomyelitisformen.379 Heute versteht man darunter eine primär entzündliche ZNS-Erkrankung mit derben, grauweißen Entmarkungsherden (Sklerose) und zu 80%

primär schubförmigem oder primär chronisch progredientem Verlauf. Die Symptome sind vielfältig: ca. 45% der Fälle beginnen mit Lähmungen, 40% mit Sensibilitätsstörungen und 30% mit Retrobulbärneuritis (Sehnervenentzündung).

Encephalitis (= Entzündung des Gehirns) und Hirnabszess (= Eitergeschwür):

Oppenheim beschäftigte sich parallel zur MS mit der differentialdiagnostischen Abklärung zu anderen disseminierten Enzephalomyelitisformen und zum Hirnabszess:

„Die grosse Grippeepidemie von 1889/90 hatte, in einigem Gegensatz zu der jüngsten Epidemie, zu zahlreichen Enzephalitiserkrankungen Anlass gegeben. Oppenheim konnte beobachten, dass die Prognose dieser anscheinend so schweren Krankheitsfälle relativ gün-stig war. Er hat die otogene Unterform der Krankheit beschrieben und ihre Abgrenzung vom Hirnabszess festgelegt. Eine monographische Darstellung des schwierigen Gebietes erfolgte in Nothnagel’s Handbuch, für das er auch noch das ebenso heikle Kapitel des Hirnabszesses behandelte.“380

Aphasie (= zentrale Sprachstörung nach abgeschlossener Sprachentwicklung):

Wie Cassirer schrieb, hat Oppenheim dieses Gebiet mit wenigen, aber wichtigen Erkenntnissen bereichert:

„Es gibt wohl kein Gebiet der organischen Neurologie, für das er nicht Beiträge geliefert hat; am geringsten ist die Zahl der für die Aphasie in Betracht kommenden, er hat in ei-ner frühen Abhandlung sich mit dem Verhalten der musikalischen Ausdrucksbewegung bei motorischer Aphasie beschäftigt und hat später auf das praktisch-diagnostisch bedeutsame Vorkommen der sog. Optischen Aphasie beim Hirnabszess hingewiesen.“381

Lues cerebri und cerebrospinalis (= Neurosyphilis):

Oppenheim beschäftigte sich bereits während der Zeit bei Westphal in umfangreichen Arbeiten mit diesem Thema und besonders mit der Abgrenzung zur MS. Cassirer hob hervor:

„ein besonders schönes Beispiel ausdauernder und zielbewusster klinischer Beobachtung bildet hier der Nachweis der flüchtigen bzw. in ihrer Intensität von einem Tag zum andern wechselnden Hemianopsie, die auf das seiner Natur nach unbeständige pathologisch-ana-tomische Substrat der syphilitischen Neubildung bezogen wird. “382

Er erweiterte das Wissen über die Meningitis gummosa basalis und beschrieb Fälle, in denen die Erkrankung der Hirnhäute auf die Hinterstränge und hinteren Wurzeln des

379 Nonne Andenken S. 388. Liepmann Nekrolog S. 3. Marburg Nekrolog S. 1296-1297. Finkelnburg Nekrolog S. 473. Cassirer Nekrolog S. 669. Stern 100. Geburtstag Ha-Refua. Stern 100. Geb. Confin.

neurol. S. 389.

380 Cassirer Nekrolog S. 669.

381 Ebd. S. 670.

382 Ebd. S. 669.

Rückenmarks übergriff. Daraus formte er den Begriff der „Pseudotabes syphilitica“.383 Dieses Kranheitsbild kommt seit Einführung der Penicillintherapie nur noch selten vor und dann zumeist selbstheilend. Die Syphilis ist eine in Stadien verlaufende meldepflichtige Geschlechtskrankheit. Man unterscheidet in Frühsyphilis (Haut- und Augenerscheinungen, Lymphknotenschwellungen, Fieber mit allgemeinem Krankheitsgefühl etc.) und Spätsyphilis (Gummen, d. h. eingeschmolzene und zur Defektbildung neigende Knoten in allen Organen, Befall des Rückenmarks mit Lähmungen und Untergang grauer Hirnsubstanz etc.).

Tabes dorsalis (= Rückenmarksschwindsucht) und Pseudotabes:

Auf diesem Gebiet führte Oppenheim umfangreiche Untersuchungen zur „Klinik und pathologischen Anatomie“ durch und erwarb neue Erkenntnisse über Pharynxkrisen, Beteiligung des Solitärbündels des N. vagus und peripherer Nerven. Sie tritt bei ca. 2-3% der Betroffenen im Spätstadium der Syphilis mit einer Latenzzeit von 8-20 Jahren auf. Die Hirnnerven und Hinterstränge des Rückenmarks degenerieren, die Wurzeln der Rückenmarknerven entzünden sich granulomatös. Symptome sind z. B. schmerz-hafte tabische Organkrisen, Ataxie und Gangstörungen als Hinterstrangsymptome, Sensibilitätsstörungen mit Verletzungs- und Infektionsgefahr durch Geschwüre (beson-ders an den Fußsohlen), Pupillenstörungen (in 80% Argyll-Robertson-Phänomen mit beeinträchtigter Licht-, aber erhaltener Konvergenzreaktion), Augenmuskellähmungen etc.384

Traumatische Neurose/Neurosen:

Das Krankheitsbild der traumatischen Neurose wurde im Zusammenhang mit der 8.

Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte ausführlich behandelt.385 Oppenheim ging in seiner Definition von molekularen Verschiebungen aus. Auch das Gebiet der Neurosen allein hat Oppenheim in ca. 20 seiner Arbeiten behandelt. Am be-kanntesten wurden seine in drei Auflagen erschienenen „Psychotherapeutischen Briefe“.

Er gab hauptsächlich Anregungen „zum Ausbau der Symptomatologie“, erhielt allerdings weniger fachliche Anerkennung als auf anderen Gebieten.386 Unter Neurose ist heute eine psychische oder psychosoziale Störung ohne nachweisbare organische Grundlage zu ver-stehen, bei der im Gegensatz zur Psychose der Realitätsbezug wenig oder gar nicht ge-stört ist.

Unfälle:

Oppenheim war Gutachter im Rahmen der Unfallversicherung. Hier galt es, den Zusammenhang zwischen Unfall und neurologischer Schädigung aufzudecken, auch wenn die Art der Verletzung nicht vordergründig das Nervensystem, sondern andere Organe be-traf. Als Sachkundiger erwarb er sich bei der Aufdeckung kausaler Zusammenhänge in Fällen, die „zu Unrecht ins Gebiet der Simulation und Aggravation“ eingeordnet wurden, ein hohes Verdienst. Sein Wissen gab er im Rahmen von Vorlesungen an Studenten und

383 Liepmann Nekrolog S. 2-3.

384 D. Argyll-Robertson (1837-1909), Augenarzt aus Edinburgh.

385 Vgl. Kap. VI.10.9.

386 Cassirer Nekrolog S. 671. Henneberg Nekrolog S. 576. Stern 100. Geb. Confin. neurol. S. 390.

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Ärzte weiter“.387

Beobachtung von Einzelsymptomen:

„Oppenheim war auch der erste, der die Hyporeflexie der Hornhaut als Anfangszeichen für einen Ausfall des Trigeminus bezeichnete.“388

Die Hornhaut Kornea wird sensorisch von einem Zweig (N. ophthalmicus) des V.

Hirnnerven (N. trigeminus) innerviert. Die Funktion des N. ophthalmicus wird geprüft, indem der Untersucher ein Wattestäbchen seitlich gegen das Auge führt und kurz die Hornhaut berührt, wobei bei uneingeschränkter Funktion ein kurzes Zucken (Reflex) aus-gelöst wird.

Psychologie:

Hiermit beschäftigte sich Oppenheim bereits 1884 in seiner Arbeit „Zur Frage des Gesichtsausdrucks bei Geisteskranken“ und weiter mit Themen, wie z. B. die „Lehre von den psychasthenischen Krämpfen“ oder mit der Frage „Hat die Psychopathie ei-nen Überwert?“, die er positiv beantwortete. Weitere Gegenstände seiner Betrachtung waren die Angstzustände, die „Psychopathologie und Nosologie der russisch-jü-dischen Bevölkerung“, „Musik und Nervosität“, die „Psychopathologie des Geizes“,

„Nervenkrankheit und Lektüre“ sowie „Nervenkrankheit und Erziehung“.389 Wie Moll schrieb, hat er „durchaus nicht, wie Einzelne es annehmen, das Psychogene bei der Entstehung von Nervenkrankheiten so niedrig veranschlagt“.390 Ebenso entdeckte er Neues:

„1902 etablierte er das Symptom des „Lachschlags“ (oder auch „Lachschwindel“,

„Lachohnmacht“), wobei der Patient beim Lachen ohnmächtig zu Boden fällt. O. besaß ein scharfes Beobachtungsvermögen, welches nicht verdorben wurde von Spekulationen oder Einbildungsvermögen.“391

Er interessierte sich für Psychotherapie und besonders für die Beziehungen der Psychologie zur Medizin. Über die 1906 erschienen „Psychotherapeutischen Briefe“, schrieb Stern:

„Jeder, der noch aus einem „common sense“ an der psychotherapeutischen Methode, sollte jene „Psychotherapeutischen Briefe“ lesen, die voll Weisheit sind mit vielen Anspielungen auf die Wichtigkeit der Mitarbeit des Patienten, die Arbeitstherapie, Sublimation und ge-waltigen Glaubenswillen“.392

Musik:

In einer Arbeit von 1906 erforschte er die musikalischen Ausdrucksformen des Körpers und 1908 in einem Aufsatz den Zusammenhang zwischen Musik und Nervosität.393Letzteres publizierte er in der Zeitschrift „Der Musiksalon“ unter der Rubrik „Wissenschaftliche

387 Simon Nekrolog S.553.

388 Stern 25. Todestag. Ha-Refua.

389 Stern 100. Geb. Confin. neurol. S. 390.

390 Moll Nekrolog S. 382. Stern 25. Todestag Ha-Refua.

391 Stern 100. Geburtstags Ha-Refua.

392 Ebd.

393 Stern 100. Geburtstag Ha-Refua.

Grenzgebiete“. Hierfür war sicher die Entwicklung seines Sohnes nicht unbedeutend. So heißt es in den Richtlinien über den Zweck der Zeitschrift:

„1. der jungen Künstlerschaft zu dienen, ihre Interessen zu vertreten, ihr den schweren Weg in die große Oeffentlichkeit nach Kraft und Möglichkeit zu ebnen (...).“394

Organische Nervenkrankheiten: Gehirn- und Rückenmarkstumoren:

Über Oppenheims Vorkämpferrolle hieß es:

„auf dem Gebiet der Klinik der organischen Nervenkrankheiten ist Oppenheim in den letz-ten 20 Jahren der ersletz-ten einer, vielleicht der erste gewesen.“395

Mit seinen Monographien „Die Geschwülste des Gehirns“, „Die syphilitischen Erkrankungen des Gehirns“ und „Die Encephalitis und der Hirnabscess“, erschienen in Nothnagel’s Sammelwerk „Specielle Pathologie und Therapie“, erlangte er Weltruhm.

Oppenheim verknüpfte eigene Erfahrungen mit vorherigen Publikationen, so dass ihm eine übersichtliche und einheitliche Darstellung „eines grossen Theiles der speciellen Pathologie und Therapie des Gehirns“ gelang.396 „Ihm ist der große Fortschritt in der Hirn- und Rückenmarkschirurgie in Deutschland zu verdanken“.397 Gemeinsam mit sei-nem Freund Bruns forschte er schon früh vorzugsweise auf dem Gebiet der organischen Nervenkrankheiten. 1885 publizierte er seine erste Arbeit über Hirntumoren als einfachen kasuistischen Beitrag und 1889 folgte die Diagnose eines Kleinhirnbrückenwinkeltumor s, für die er vor der Sektion dem Obduzenten seine Zeichnung mit der Tumorlokalisation übergab und seine Diagnose während der Sektion bestätigt bekam.398 1890 berichtete er „ueber den ersten in Deutschland operativ entfernten Hirntumor, der in der rechten motorischen Region saß“. Die Operation führte Rudolf Albrecht Köhler (1841-1911), Oberstabsarzt und von 1883-1895 dirigierender Arzt der chirurgischen Nebenabteilung der Charité, aus. Wenig später publizierte Oppenheim eine weitere große Arbeit „über 23 genau beobachtete Tumoren des Grosshirns“ und erörterte die Frage nach deren Operabilität. Noch galt die These von Bergmanns: „die Chirurgie der Hirntumoren ist die Chirurgie der Tumoren der motorischen Zone“, die auch in Oppenheims Monographie

„Die Geschwülste des Gehirns“ (1897) noch Anwendung fand.

Eine Neuentdeckung folgte 1899: mit Hilfe der 1895 entdeckten Röntgenstrahlen sah Oppenheim als Erster im Röntgenbild eine knöcherne Veränderung der Keilbeinhöhle als Hinweis auf eine Aufweitung der Sella turcica („Türkensattel“) bei Hypophysentumor.399 Auch wenn die Magnetresonanztomographie (MRT) inzwischen Verfahren der Wahl ist, werden noch immer zur Planung des operativen Zugangsweges bei Hypophysenadenomen röntgenologische Sellazielaufnahmen angefertigt.400 Frühzeitig würdigte Oppenheim die Entdeckung der Röntgenstrahlen in Bezug auf die Neurologie. Zum Buch seines Schülers Fürnrohr „Die Röntgenstrahlen im Dienste der Neurologie“, das auf Oppenheims

394 Oppenheim Bibliographie 1909: Musik und Nervosität - Vorwort.

395 Nonne Andenken S. 388.

396 Oppenheim Bibliographie 1896, 1897. Vgl. Dtsch. Zschr. Nervenhk. 12 (1898) S. 483-486 (Hoche).

397 Marburg Nekrolog S. 1296-1297.

398 Cassirer Nekrolog S. 670.

399 Ebd. S. 670.

400 Thurn/Büchler Radiologie S. 643.

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Anregung hin entstand, schrieb er das Vorwort und hob hervor, dass er sich gleich nach Entdeckung der Röntgenstrahlen bemüht hatte, „diesen bedeutenden Fortschritt in der Erkennung krankhafter Zustände auch für die Neurologie fruchtbar zu machen“. Anlass für seine Rechtfertigung war die „Wiederentdeckung“ der o. g. Erweiterung der Sella turci-ca bei Hypophysengeschwulst, die den radiologischen Fachgenossen auf Grund einer nur kurzen Notiz entgangen war und auf dem 1. Röntgenkongress als Neuentdeckung dekla-riert wurde.401 Langsam entwickelten sich differenziertere Ansichten zur Topographie von Hirntumoren. Gemeinsam mit von Bergmann, „der Oppenheim hoch schätzte und über-all hinzuzog“, wurden die Operationsgebiete erweitert. Voraussetzung war zunächst die Sicherstellung der Allgemeindiagnose. Erst allmählich sichtbare Schwierigkeiten galt es zu überwinden. So wies Oppenheim in seiner Arbeit „Die Prognose der Gehirnkrankheiten im Kindesalter“ auf Symptome hin, die auf eine Neubildung in der motorischen Zone hin-wiesen, jedoch untypisch verliefen und sich wieder zurückbildeten.Über die Pathogenese konnten nur Vermutungen angestellt werden, da es an anatomischen Befunden man-gelte. Nach anschließenden Literaturstudien entwickelte Oppenheim die Lehre vom Pseudotumor cerebri.402 Heute versteht man darunter eine, vor allem bei übergewichtigen jungen Frauen vorkommende, Erkrankung mit Hirndrucksteigerung und Hirnödem unbe-kannter Ursache, gepaart mit Symptomen wie Stauungspapille, Kopfschmerz und evtl.

Bewusstseinsstörung, die den Symptomen bei Hirntumoren und Hirnvenenthrombose ähneln (syn. benigne intrakranielle Hypertension). Oppenheims Arbeiten zur Lokal- und Differentialdiagnostik der Gehirn- und Rückenmarkstumoren zeugen von „kri-tischer Feinarbeit, Beobachtungsgabe und Scharfblick“.403 Besonders akribisch arbeitete er an der Differentialdiagnose, der Abgrenzung zur Lues, serösen Meningitis, Urämie und zum Pseudotumor cerebri sowie an der Lokaldiagnose und ihrer Hilfsmittel, z. B.

dem frühzeitigen Erkennen einer Areflexie der Kornea bei Geschwülsten der hinteren Schädelgrube.404 Auf dem Gebiet der Diagnostik von Rückenmarksgeschwülsten war er führend, so dass bei frühzeitiger Diagnostik zunehmend mehr operative Erfolge er-zielt werden konnten. Neue Erkenntnisse gewann er über die atypischen Verlaufsformen, sogenannte „abweichende Beobachtungen, die sich dem ursprünglichen Schema nicht fügten, wo die Sensibilitätsstörungen nicht dem ursprünglich gezeichneten Bilde ent-sprachen, die Schmerzen fehlten und anderes mehr“.405 Er war der erste unter den deut-schen Neurologen, der einem Chirurgen als Diagnostiker und neurologischer Berater zur Seite stand. Durch seine langjährige Zusammenarbeit mit der chirurgischen Klinik von Bergmanns u. a. hervorragenden Chirurgen, wie Sonnenburg, Krause, Borchardt und Bier, erwarb er sich umfangreiche Erfahrungen, so dass sich mit der Zeit „eine Art spezialis-tischer Ruf entwickelte“, der ihn zu Konsilien ins Ausland führte.406 Anderseits blieb er stets bescheiden und kritikfähig, da „die Resultate aller diagnostischen Bemühungen nicht im Verhältnis standen zu den therapeutischen Errungenschaften“. Oft blieben schmerz-liche Erfahrungen nicht aus. In einer Arbeit von 1907 hieß es:

„dass von neun oder zehn für die chirurgische Therapie sorgfältig ausgewählten und grösstenteils richtig diagnostizierten Fällen von Gehirngeschwulst nur einer Aussicht auf vollen Erfolg der operativen Behandlung hat.“407

401 Schmidts Jb. ges. Med. 293 (1907) 109-110. Vgl. Fürnrohr Röntgenstrahlen Vorwort.

402 Cassirer Nekrolog S. 670.

403 Nonne Andenken S. 388.

404 Liepmann Nekrolog S. 4.

405 Cassirer Nekrolog S. 670-671.

406 Saenger Nekrolog S. 830. Stern 100. Geburtstag Ha-Refua.

407 Cassirer Nekrolog S. 670.