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Im Dokument Impulse Ausgabe 2015/2 (Seite 23-32)

Schauplatzwechsel: Eine Bambushütte am Strand von Java. Hier landen diejenigen, die von der indonesischen Gesellschaft „ausgespuckt“ wer-den: Kinder und Jugendliche, die von zu Hause weggelaufen sind und die Abstand brauchen von ihrem anstrengenden Leben auf den Straßen von Yogyakarta. Die lebendige Stadt ist einer der touristischen Anziehungspunkte auf der bevölke-rungsreichsten indonesischen Insel. Der Ethnolo-ge Dr. Thomas Stodulka war hier in den vergan-genen Jahren immer wieder, um zu forschen, zu arbeiten, zu leben. Seine erste Emotion, erinnert er sich an jene Zeit vor rund 15 Jahren, als er dort seine Magisterarbeit schrieb, sei damals Über-raschung gewesen. Die Jugendlichen hätten so gar nicht dem Bild entsprochen, das man als Europäer von Straßenkindern und Obdachlosen hat. Sie seien stets höflich gewesen, freundlich und interessiert, hätten ihm Tee und Süßigkeiten angeboten, wo immer er aufgetaucht sei.

Thomas Stodulka und Katja Liebal haben als Feldforscher an sich selbst erfahren, wie das ist, wenn man plötzlich im Prozess des wissenschaft-lichen Arbeitens heftige Gefühle durchlebt, sich dieser gewahr wird. Trotzdem gibt es – und das überrascht eigentlich – bisher kaum Erhebungen darüber, welche Emotionen Wissenschaftler bei ihrer Arbeit entwickeln und, entscheidender noch, wie sich diese auf den Prozess des Forschens und damit womöglich auf die Erkenntnisse auswirken, die ja auch veröffentlicht werden. „Vielleicht liegt

W

enn acht Wissenschaftler und sieben Mann Besatzung auf der Insel Java vier Tage lang in einem kleinen Boot im Regenwald Indonesiens unterwegs sind, kann das für den einen Entspan-nung bedeuten, für den anderen Stress. Zumal dann, wenn diese Forscher ganz unterschied-liche fachunterschied-liche Expertise mitbringen. Welche Emotionen das Erkunden einer fremden Kultur oder anderen Art auslöst, erlebten die Teilneh-mer aus Deutschland und der Schweiz nicht nur einmal. „Mit dem Trip durch den Urwald wollte ich zeigen, welches Wechselbad der Gefühle man durchlebt, wenn man tagelang als Freiland-Affenforscher unterwegs ist, um den Tieren zu begegnen, und allmählich die Hoffnung schwin-det; man letztlich womöglich sogar vergebens losgezogen ist“, erzählt Dr. Katja Liebal, Junior-professorin für Evolutionäre Psychologie an der Freien Universität Berlin.

Der Plan der Affenforscherin ging auf: Das Kalei-doskop an Reaktionen und Empfindungen, das sie bei den anderen Teilnehmerinnen und Teil-nehmern beobachtete, habe von Euphorie über Hoffnung, Erschöpfung, Frustration bis letztlich zu tiefer Enttäuschung gereicht. Denn nach kräftezehrender Bootsfahrt und den Anstren-gungen einer sich anschließenden 16 Kilometer langen Wanderung durch den Regenwald war die Ernüchterung jedes Einzelnen in der Gruppe groß, nachdem es zu keiner einzigen Begegnung mit einem Orang-Utan gekommen war.

Text: Isabel Fannrich und Christian Jung (Mitarbeit) // Fotos: Muhammad Fadli

Der Ethnologe und Anthropologe Thomas Stodulka schreibt regel-mäßig in sein Emotions-Tagebuch an Bord des Schiffes, das dem Team eine Woche lang wäh-rend des Aufenthalts in Indonesien zur Verfügung stand. Das Holzboot

dien-te gleichsam als Basissta-tion für die Forschungs-aktivitäten in dieser Zeit.

zusammengearbeitet habe, leben noch acht“, erzählt er. „Ich habe sehr viele emotionale Aus-schläge nach oben und unten erlebt.“

Ob am Schreibtisch, im Labor, im Feld: Überall in der Forschung kommen Emotionen zum Tragen

„Objektivität und Emotion wurden in der Wis-senschaft lange Zeit als Gegensätze gesehen.

Das wollen wir infrage stellen“, sagen Stodulka und Liebal. In Dr. Oliver Lubrich, Professor für Komparatistik und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bern, haben sie einen wichtigen Mitstreiter gefunden. Gemeinsam rückt das For-schertrio mit seinen jeweiligen Arbeitsgruppen nun die Gefühle in den Blickpunkt, die sonst aus Forschungsprozessen ausgeblendet werden. Ziel des Projekts „Die Affekte der Forscher“ ist es, diese für die Wissenschaft und deren eigene Verständ-nisprozesse greif- und nutzbar zu machen. Die VolkswagenStiftung fördert das auf fünf Jahre angelegte Vorhaben, in dessen Rahmen sich auch ein halbes Dutzend Nachwuchswissenschaftler interdisziplinär weiterqualifiziert und das kurz vor seinem Abschluss steht, in der Reihe „Schlüs-selthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“

mit 750.000 Euro.

das einfach daran, dass Wissenschaftlern über Generationen hinweg beigebracht wurde, sie müssten ihre Gefühle bei der Forschung außen vor lassen!“, sagt Stodulka, der aktuell in das Berliner Exzellenzcluster „Languages of Emoti-on“ eingebunden ist. Doch zumindest in man-chen Fächern lasse sich der Einfluss, den solche Gefühle wie die beschriebenen haben, nicht mehr leugnen.

Und so wuchs bei dem Ethnologen, der auch heu-te noch das Leben chronisch kranker Jugendlicher auf den Straßen Yogyakartas erforscht, und der Primatologin, die immer wieder eine Auffang-station für Orang-Utans in Kalimantan besucht, im Laufe ihrer längeren Auslandsreisen die Idee, diese begleitenden Emotionen einmal selbst zum Forschungsthema zu machen. Wenn Thomas Stodulka zurückdenkt, dann nimmt er die hefti-gen, zum Teil widersprüchlichen Gefühle wahr, die immer wieder in ihm hochsteigen: Bewunde-rung für die Art, wie sich die Jugendlichen ohne Geld und Unterkunft durchschlagen, und Ärger über die Gesellschaft, die es ihnen so schwer macht. Anziehung und Abstoßung, Euphorie und Erschöpfung. Einige der Jungen und Mädchen begleitete er beim Sterben im Krankenhaus. „Von 25 Jugendlichen, mit denen ich vor vielen Jahren

Oliver Lubrich bespricht mit Katja Liebal die ersten Affensichtungen.

Fünf Tage lang war eine rund 20-köpfige Grup-pe im Tanjung Puting National Park unter-wegs, um Orang-Utans in ihrer natürlichen Umgebung zu beobach-ten. Im Herbst dieses Jahres treffen sich alle Beteiligten des Projekts zur Nachbetrachtung in Berlin. Dann werden auch die Emotions-Tagebücher einer Analyse unterzogen.

Alexander von Humboldts. „Es gibt im Bericht sei-ner amerikanischen Reise eine sehr schöne Szene, die Landung in Havanna“, nennt er ein Beispiel.

Dort schreibt der Naturforscher, dass der Anblick von Havanna bei der Einfahrt in den Hafen einer der heitersten und malerischsten sei, derer man sich an den Küsten Amerikas nördlich des Äquators erfreuen kann. – Eine Seite später liest man dann das genaue Gegenteil. „Warum diese 180-Grad-Wende?“, fragt Lubrich – und antwortet gleich selbst: „Weil Humboldt beim Rundgang durch Havanna beobachtet, wie Sklaven verkauft werden. In diesem Moment findet ein Übergang von Euphorie, von ästhetischer Exaltation statt zu empfundenem Ekel und politisch motivierter, emotionaler Ablehnung.“

An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich der Blick auf den Gegenstand unmittelbar im Prozess des Forschens ändern kann, wenn sich die Gefühle wandeln. Etwas Ähnliches könne natür-lich auch passieren, wenn der Forscher später seine Berichte studiert und bewertet, konkretisiert der Berner Linguist. „Inwiefern lese ich einen Text anders, wenn ich ihn zum wiederholten Mal lese – unbewusst in Erwartung bestimmter Phasen des ästhetischen Genusses oder mit einer bestimmten Haltung etwa der moralischen Entrüstung? Grun-diert oder steuert all das nicht vielleicht sogar die literaturwissenschaftliche Interpretation?“

Bislang sei es in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen üblich gewesen, Emotionen wie die geschilderten bei der Feldforschung und in der wissenschaftlichen Arbeit beiseitezuschieben, sagt der Literaturwissenschaftler Lubrich. Das verwundere doch sehr, denn: „Ob am Schreibtisch, im Labor oder bei der Feldforschung – überall spielen Emotionen eigentlich eine Rolle.“ Schließ-lich stehe ja am Anfang jeder Forschung ein ganz starkes Gefühl: die Neugier. „Allein die Frage, warum ich überhaupt Interesse an bestimmten Themen habe und an anderen nicht – schon das ist ja zum Teil emotional, psychologisch moti-viert.“ Zudem beeinflussen die Gefühle nicht nur den Forschungsgegenstand und womöglich die Darlegung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern möglicherweise bereits vorab Entschei-dungen, die mit Blick auf die Methodik getroffen werden, oder gar das ganze Forschungsdesign. „All das blieb bisher weitgehend ausgeblendet und wurde in der wissenschaftlichen Dokumentation nicht systematisch und überindividuell themati-siert“, fasst der Forscher zusammen.

Oliver Lubrich beschäftigt sich schon seit Länge-rem mit den Emotionen von Forschenden und hat vor dieser Folie unter anderem Texte von Virginia Woolf, Samuel Beckett und Max Frisch betrachtet, die das nationalsozialistische Deutschland berei-sten. Besonders interessiert ihn die Reiseliteratur

Zurück zu Forschungsgegenstand und -region unseres Trios. „In den involvierten Disziplinen Ethnologie, Primatologie und auch meiner eige-nen wird die Funktion, die Affekten zukommt, allzu sehr ausgeblendet“, stellt Lubrich fest. „Dabei ist es doch naheliegend, dass die Emotionen des Wissenschaftlers gerade in der Feldforschung, bei der Betrachtung einer anderen Kultur oder Art eine vermutlich sogar wesentliche Rolle spielen.“

Der individuelle Blickwinkel sei entscheidend: So könnten Forschungsberichte jeweils ganz anders aussehen in Abhängigkeit davon, ob man den Affen zum Beispiel mit einer durchweg senti-mentalen Haltung begegne oder ihre aus unserer Menschensicht gewalttätigen Handlungen in den Vordergrund rücke.

Gerade weil Primaten dem Menschen so ähnlich sind, fließen in die Analysen ihres Verhaltens oft menschliche Gefühle ein, die zudem bei Männern und Frauen teils unterschiedlich sind. So beschrei-ben Wissenschaftlerinnen die Affen vielfach wie Kinder, die weitgehend unverdorben ihren Impul-sen folgen. Männliche Affenforscher hingegen charakterisieren sie oft als Individuen, die Gewalt ausüben, vergewaltigen, foltern und verstüm-meln. Ist es da nicht sogar zu erwarten, dass die Gefühle das Forschungsergebnis schon teilweise vorwegnehmen, ohne dass die Wissenschaftler es überhaupt merken?

„Und wenn eine so bekannte Affenforscherin wie Biruté Galdikas sich für den Schutz von Orang-Utans einsetzt und an ihrem Engagement zu scheitern droht, fließt dann solch eine emotionale Erfahrung, diese gefühlte, intensiv empfundene Belastung in ihre wissenschaftlichen Texte ein?“, schiebt Lubrich ein anders gelagertes Beispiel nach.

Neues Werkzeug für die Forscher: das Emotions-Tagebuch zur Dokumentation eigener Gefühle Die Ansätze, die das Forschertrio verfolgt, sind eng verwoben. Sie kombinieren Methoden aus den beteiligten Disziplinen auf jeweils eigene Art. Dabei sollen die Emotionen der Ethnologen und Affenforscher im Feld zum einen durch Selbstbeobachtung der Beteiligten, aber auch durch Erhebungen und Betrachtungen vonseiten der anderen – unter denen gerade den Literatur-wissenschaftlern qua Profession ein ganz ande-rer Blickwinkel allein auf die Forschung als sol-che zu eigen sein dürfte – empirisch-quantitativ erfasst und in deren (wissenschaftlichen Nieder-) Schriften analysiert werden.

„Die Forscher, die ins Feld gehen, erhalten zum Bei-spiel sogenannte Emotions-Tagebücher, in denen sie ihre Gefühle dokumentieren sollen: nicht nur im Feld, sondern auch bevor sie ins Feld fahren

Da oben sind sie, die Affen. Endlich, nach Tagen des Unterwegs-seins und zur Freude der Forschungsreisenden. Einige wie (von links) Mira Shah, Samia Dinkelaker und Fermin Suter sind auf dem Boot geblieben und schreiben beim Dahintuckern durch den Tanjung Puting National Park in ihren Tagebüchern, in denen sie Beobachtungen, Eindrücke und ihre Stimmungslage erfassen.

Später werden die Schriften von anderen Forschern analysiert.

und nachdem sie wiedergekommen sind“, sagt Liebal. Später wollen sie diese Tagebücher mit den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern auswerten, um zu erkennen, ob und wie deren Gefühle ihre Fragestellungen und Beobach-tungen vielleicht beeinflusst haben. Katja Liebal ist sich sicher, dass es solche Einflüsse gibt – schon aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen bei der Beob-achtung von Affen.

Stodulka, Liebal und Lubrich bezeichnen das „Emo-tions-Tagebuch“, das sie gemeinsam konzipiert haben, als „wichtigen Meilenstein“. Das neue Werk-zeug, das die Projektgruppe während ihrer Indo-nesienreise im Frühjahr 2015 ausgiebig testete, soll die emotionalen Erfahrungen von Feldforschern sowohl quantitativ und qualitativ dokumentieren, vergleichbar und erforschbar machen als auch zu den im Feld erhobenen Daten in Bezug setzen. Mit diesem Hilfsmittel könnten künftig zudem nicht nur Forscher, sondern auch Reiseschriftsteller, Ent-wicklungshelfer oder Journalisten vor Ort festhal-ten, welche Gefühle sie oder ihn in welcher Weise gerade im Schaffensprozess beschäftigen und was sie bei der Arbeit bestärkt oder hindert.

Auch in der Habilitationsarbeit von Thomas Stodulka spielt das Emotions-Tagebuch eine zen-trale Rolle. Der Wissenschaftler nimmt die Gefüh-le anderer Forscherinnen und Forscher unter die Lupe und steht dafür mit vierzig Ethnologen und Primatologen auf der ganzen Welt in Kontakt.

Egal ob jemand in Moskau über Organhandel forscht, in Paris und Mali über charismatische religiöse Führer oder in Osttimor über die Aufar-beitung der gewalttätigen Vergangenheit – alle nutzen das Tagebuch zur regelmäßigen Selbstbe-obachtung und -reflexion. Das Interesse sei groß, freut sich der Berliner Ethnologe: „Viele Feldfor-scher sind begeistert, dass sich endlich jemand wissenschaftlich mit der Emotionalität in frem-den Kontexten beschäftigt. Denn wenn ich diesen Teil von mir, der eine Rolle spielt in der Interak-tion mit dem Forschungsgegenstand, ausblende, dann fehlt da was.“

Auch die ins Projekt integrierten Doktorandinnen und Doktoranden arbeiten mit dem Emotions-Tagebuch: Samia Dinkelaker folgt indonesischen Arbeitsmigrantinnen auf ihrem Weg nach Hong-kong. Sie hat das sechswöchige Training einer

Katja Liebal (links) spricht gerade mit der Biologin Julia Keil über ihre Arbeit mit Affen und erläutert typische Verhal-tensweisen und Aktionsmuster der Primaten. Doch vor allem teilen beide den Zauber vieler Begegnungen mit den Tieren, die derweil oben über den Köpfen der Forscherinnen in den Baumkronen turnen und durchs Blätterdach springen.

Firma besucht, die Haushaltshilfen rekrutiert – und analysiert über das Tagebuch ihre Gefühle zu diesem Betrieb, der die Frauen wie Unterge-bene behandelt. Ihr Kollege Ferdiansyah Thajib untersucht das Spannungsverhältnis zwischen Homosexualität, Islam und Emotionen in der indo-nesischen Gesellschaft. Ein Jahr lang haben beide nahezu täglich das Emotions-Tagebuch geführt;

entstanden sind zwölf „einzigartige kleine Bücher“, wie Stodulka sagt. Gemeinsam mit den Aufzeich-nungen der Ethnologen bilden sie ein „einzigarti-ges“ Text-Corpus. Für den Herbst 2015 lädt er die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler zur Evaluation nach Berlin ein.

Moderne Methoden der Textanalyse machen verborgene Emotionen in Berichten sichtbar Die interdisziplinäre Arbeit ist im Forschungspro-jekt durch das Prinzip der Rotation zwangsläufig sehr ausgeprägt. Jeder macht einmal alles, begibt sich in das Arbeitsgebiet des jeweiligen Gegen-übers und gewinnt dadurch einen Einblick – und:

ein Gefühl. Die Teilnehmer lernen, mit welchen Methoden die anderen Disziplinen arbeiten, wie deren Fragestellungen lauten und mit welchen Problemen sie zu tun haben. Oliver Lubrich etwa steuert vonseiten der Literaturwissenschaft eine neue, komplementäre Betrachtungsweise bei: Wie zum Beispiel Affekte in Texten erkannt und kennt-lich gemacht werden können, illustrierte er gleich zu Beginn des Forschungsprojekts in einem mehr-tägigen Workshop, bei dem es um Methoden der Textanalyse und die Rhetorik der Affekte ging.

Seinen Kollegen aus den empirisch arbeitenden Wissenschaften führte er vor, wie man mithil-fe von zwei Dutzend philologischer Methoden Reiseliteratur und Aufzeichnungen von Feldfor-schern zerlegt, um affektive Dynamiken sichtbar zu machen. „Diese sind den Verfassern selbst vielleicht gar nicht bewusst“, erläutert Lubrich. Er prüft etwa, ob ein Autor bestimmte Sprachbilder verwendet, die zum Beispiel Furcht andeuten.

Verändert sich der Sprachrhythmus bei der Begeg-nung mit einem Affen? Lässt sich aufgrund eines

veränderten Satzbaus auf Nervosität schließen?

Verändert sich die Handschrift oder häufen sich bestimmte Satzzeichen? Die Affekte können sich auch in den Wörtern selbst verstecken. Der Com-puter hilft bei der Kenntlichmachung und mar-kiert Textteile farbig oder übersetzt sie in Zahlen.

Die Textanalyse zeigt, ob es Muster im zeitlichen Ablauf der Emotionen gibt. „Diese Frage wurde in den Literaturwissenschaften bislang nicht untersucht“, sagt Oliver Lubrich. „Aber wenn man fünfzig Texte auf solche Weise vergleicht, lassen sich vielleicht Regelmäßigkeiten oder Entwick-lungsprozesse in den Empfindungen der Forscher beobachten.“ Nach den bislang gängigen Theo-rien des erlebten Kulturschocks folgen bei einem Feldaufenthalt teils widerstreitende Gefühle einander wie Anfangseuphorie, Ermüdung und

„Schlängelnder Pfad ins Landesinnere“: Auch die Wege des Urwalds bedürfen zu Land und zu Wasser erläuternder Hin- weise. Fermin Suter ist Ph.D.-Student; sein Interesse gilt der Reiseliteratur über Indonesien und Feldforschungstagebüchern.

Weitere methodische Werkzeuge sind entstanden oder in Planung: ein Interview-Leitfaden für Feld-forscher, Ärzte, Kriegsreporter und Reiseschrift-steller; ein Handbuch, Trainings für angehende Feldforscher, ein Dokumentarfilm. Auch für Expe-rimente ist Platz. Katja Liebal und Oliver Lubrich haben zwei Standardwerke unter die Lupe genom-men: den Roman „King Kong“ von Delos W. Love-lace und den Feldforschungsbericht „Gorillas im Nebel“ der Zoologin Dian Fossey. Beide beschrei-ben, wie eine westliche Frau in das Reservat der Affen eindringt und eine emotionale Beziehung zu ihnen aufbaut. Überraschenderweise habe sich der wissenschaftliche Text als viel emotionaler und sensationalistischer gezeigt als der Roman, dieser wiederum wissenschaftlicher als erwartet, sagen beide. „Wir lesen die Literatur wie Wissen-Faszination, durchbrochen oder abgelöst von

Lan-geweile, Fremdheitsekel, Rückkehrschmerz und Abschiedsnostalgie. Thomas Stodulka hält die in den Theorien formulierte Abfolge jedoch für nicht hinreichend ausdifferenziert beziehungsweise dem Einzelnen und der jeweiligen Forscher- und Forschungssituation entsprechend: „Emotionale Zustände sind viel kurzlebiger und viel individu-eller“, sagt er. „Sie sind auch nicht so ichzentriert wie bislang angenommen, sondern extrem abhängig vom Umfeld und von der Begegnung mit anderen Menschen.“ Der Ethnologe möchte den phasenhaften Ablauf von Gefühlen deshalb mit einer detaillierteren Beschreibung verbinden.

Dazu beitragen soll das Emotions-Tagebuch – als eine Art „Gefühlsthermometer“ im Feld.

Den interdisziplinären Anspruch bekräftigen die Arbeiten der beiden Doktoranden aus der Litera-turwissenschaft und ihrer Kollegin aus der Evolu-tionären Psychologie, die ebenfalls in das Projekt eingebunden sind. Sie analysieren Reisereportagen, Feldtagebücher und Berichte der Affenforscher, wollen die Bedeutung einzelner Gefühle ent-schlüsseln und Dramaturgien erkennen, die die Emotionen von Forschern oder Reisenden während eines Aufenthalts in der Fremde regelmäßig durch-laufen. Mira Shah untersucht die „Rhetorik der Pri-matologie“ daraufhin, wie der Affe literarisch und kulturell konstruiert wird. Fermin Suter widmet sich den „Emotionen des Reisens“ und wie diese in den Reise- und Forschungstexten über Indonesien inszeniert werden. Und Julia Keil analysiert das Verhältnis von Tierforschern zu ihrem Gegenüber.

Katja Liebal brieft (von links) Mira Shah und Ferdiansyah Thajib über deren Arbeit in dem Projekt und klärt über das neue

Instru-ment „Emotions-Tagebuch“ auf. Die beiden jungen Nachwuchs-forscher sollen während ihres Besuchs in der Aufzuchtstation Camp Leakey Beobachtungen zum Verhalten der Affen erfassen.

Aufgeblättert an einer x-beliebigen Stelle: die

Emotions-Tagebücher von Katja Liebal, Thomas Stodulka und Samia Dinkelaker (von links)

So manche Erfahrung, ob während der Feldfor-schung oder bei der Exkursion, falle in die Kategorie

„unerwartete emotional herausfordernde Situa-tion“, sagt die Affenforscherin. Letztlich habe die Reise alle darin bestätigt, wie komplex solch eine Forschungssituation sei und wie viel kulturelle Kompetenz man für Feldforschung in fremdem Umfeld brauche. „Häufig beherrscht man eine Sprache nicht, es fehlt das Wissen um die richtigen Ansprechpartner vor Ort, und man ist verunsichert durch kulturelle Unterschiede“, erzählt Liebal. Das löse viele Emotionen aus, die neben die eigentliche Forschung wie hier mit den Orang-Utans träten.

Oliver Lubrich ist zuversichtlich, dass sich mit dem Projekt eine Lücke schließen lässt: „Das Thema ist gesellschaftlich relevant, weil es nicht nur um die Wahrnehmung anderer Kulturen und Arten geht, sondern indirekt auch um unsere eigene Identität.

Oliver Lubrich ist zuversichtlich, dass sich mit dem Projekt eine Lücke schließen lässt: „Das Thema ist gesellschaftlich relevant, weil es nicht nur um die Wahrnehmung anderer Kulturen und Arten geht, sondern indirekt auch um unsere eigene Identität.

Im Dokument Impulse Ausgabe 2015/2 (Seite 23-32)