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Die NATO des 21. Jahrhunderts

NATO-Strategie jenseits des Völkerrechts

I. Die NATO des 21. Jahrhunderts

Das nach längeren Vorbereitungen schließlich am 24. April 1999 verabschiedete Neue Strategische Konzept enthält drei wesentliche Momente: 1. die Erweiterung der Kernfunktion der NATO, 2. der Kriseneinsatz auch ohne UNO-Mandat, und 3.

die Festschreibung der Option des nuklearen Ersteinsatzes2.

1 Deutsche Fassung in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 24 v. 3. Mai 1999, S. 221 ff.

2 Auf dieses Element wird hier nicht eingegangen, Vgl. dazu die Beiträge von Otfried Nassauer und Bernd Hahn-feld in diesem Band.

1. Die Erweiterung der Kernfunktion der NATO

Ausgehend von dem unveränderten Zweck, »die Freiheit und Sicherheit aller ih-rer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu gewährleisten« (Ziffer 6) betont das Konzept gleich zu Beginn die Neuartigkeit der sicherheitspoliti-schen Herausforderungen, die eine Anpassung der NATO-Strategie und des Instrumentariums erfordere:

»In den letzten zehn Jahren sind jedoch auch komplexe neue Risiken für den euro-atlantischen Frieden und die Stabilität aufgetreten, einschließlich Unter-drückung, ethnischer Konflikte, wirtschaftlicher Not, des Zusammenbruchs politi-scher Ordnungen sowie der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.« (Z. 3)

»Zu diesen Risiken gehören Ungewißheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung nationaler Krisen an der Peri-pherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. Einige Länder im und um den euro-atlantischen Raum sehen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Ge-bietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzungen von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lo-kaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Span-nungen können zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, so-wie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergreifen oder in anderer Weise, auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren.« (Z. 20) »Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Ri-siken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen.« (Z. 24)

Zur Bewältigung dieser neuen Aufgaben stellt das Konzept neben die klassi-schen Aufgaben der Abschreckung und Verteidigung das neue der »Krisenbewäl-tigung« (Z. 10).

Krisenbewältigung ist jedoch ein aliud gegenüber dem klassischen, in Artikel 5 des NATO-Vertrages umschriebenen Verteidigungseinsatz. Deshalb betont das Konzept an verschiedenen Stellen ausdrücklich, dass die Krisenreaktionskräfte ein zusätzliches militärisches Mittel darstellen, die aus dem Rahmen des Art. 5 fallen (Z. 29 u. 31). Im Teil IV – Streitkräfterichtlinien heißt es unter den Über-schriften »Grundsätze der Bündnisstrategie« und »Das Streitkräftedispositiv des Bündnisses Die Aufgaben der Streitkräfte des Bündnisses«:

»Sie (die Mitgliedstaaten) müssen auch bereit sein, einen Beitrag zur Konflikt-verhütung zu leisten und nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze durchzuführen.« (Z. 41) »Die NATO-Streitkräfte müssen auch weiterhin fähig sein, die kollektive Verteidigung zu gewährleisten und gleichzeitig wirksame

Kri-senreaktionseinsätze, die nicht unter Art. 5 fallen, durchzuführen.« (Z. 47) »Indem sie ihren Beitrag zur Bewältigung von Krisen durch militärische Einsätze leisten, werden sich die Streitkräfte des Bündnisses mit einem komplexen und vielfältigen Spektrum von Akteuren, Risiken, Situationen und Anforderungen auseinanderzu-setzen haben, darunter auch humanitäre Notfälle. Einige Krisenreaktionseinsätze, die nicht unter Artikel 5 fallen, können ebenso hohe Anforderungen stellen wie einige kollektive Verteidigungsaufgaben.« (Z. 49) »Umfang, Bereitschaftsgrad, Verfügbarkeit und Dislozierung der Streitkräfte des Bündnisses werden sein Be-kenntnis zur kollektiven Verteidigung und zur Durchführung von Krisenreaktions-einsätzen widerspiegeln. Dies kann manchmal kurzfristig, weit vom Heimatdorf und auch jenseits des Bündnisgebiets erfolgen.« (Z. 52)

Das Wesentliche dieser neuen Strategie läßt sich in zwei Elementen zusam-menfassen: Zum einen kann sie sich nicht mehr auf die Verteidigung der territo-rialen Integrität ihrer Mitgliedstaaten beschränken, sondern muss sich ihrer strate-gischen, politischen und ökonomischen Interessen annehmen, die durch Krisen in weit entfernten Regionen gefährdet werden können. Kurz gefasst: von der Territo-rial- zur Interessenverteidigung, wie es die Außenministerin Madeleine Albright auf den Ministertreffen im NATO-Rahmen immer wieder deutlich gemacht hat.3

Das hat zur Folge, dass zum anderen der militärische Aktionsradius nicht auf das Bündnisgebiet beschränkt bleiben kann, sondern sich auch auf weit entfernte Krisengebiete außerhalb des Bündnisgebietes wie die Golf-Region oder die Straße von Taiwan zu erstrecken hat. Der mehrfach benutzte Begriff des »euro-atlantischen Raumes« stellt dabei nur eine unzureichende geographische Begren-zung dar. Er mag zwar den pazifischen Raum und auch die Straße von Taiwan ausschließen, ist aber so unbestimmt, dass das Bündnisgebiet des NATO-Vertra-ges nur den geringsten Raum seines Aktionsradius ausmachen dürfte.

Eine derartige inhaltliche und geographische Erweiterung des Handlungsrah-mens soll in den Beratungen zwar nicht unumstritten gewesen sein, hat sich je-doch in dem unterzeichneten Strategiedokument folgerichtig durchgesetzt. Diese Erweiterung wird auch in den neuen Vorschlägen von 2010 nicht angetastet.

2. Der Kriseneinsatz auch ohne UNO-Mandat

Die Krise in Jugoslawien und die Entschlossenheit der NATO-Staaten, nach dem Scheitern der Verhandlungen von Rambouillet und Paris Anfang 1999 militärisch in Jugoslawien zu intervenieren, machte die Anwendung der neuen Strategie schon vor ihrer Verabschiedung im April notwendig. Die militärische Intervention war nicht die Antwort auf einen Angriff seitens Jugoslawiens, sondern eine typi-sche Krisenreaktion. Da keine rechtliche Grundlage – sei es Art. 39/42 oder 51

3 Vgl. Karl-Heinz Kamp, Das neue Strategische Konzept der NATO, Entwicklung und Perspektiven, in: Aus Poli-tik und Zeitgeschichte Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 11/99 v. 12. März 1999, S. 19 ff., 23.

UN-Charta – gegeben war, musste die Frage entschieden werden, ob für derartige Krisenoperationen, die über die Selbstverteidigung hinausgehen, überhaupt eine Legitimation der UNO notwendig sei. Der militärische Einsatz im Kosovo war bewusst und ausdrücklich ohne ein derartiges Mandat erfolgt.

Das Fehlen eines ausdrücklichen Bekenntnisses zu einem Mandat der UNO im Falle von Krisenreaktionseinsätzen und der allgemeine Hinweis auf die »späteren Beschlüsse« zum Einsatz auf dem Balkan machen deutlich, dass die NATO ihre militärischen Einsatzoptionen nicht von einem UNO-Mandat abhängig macht.

Nachdem die einzelnen Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Weise der »Activa-tion Order« des NATO-Rates für militärische Einsätze im Oktober 1998 zuge-stimmt hatten – so auch der 13. deutsche Bundestag mit seinem Beschluss vom 16. Oktober 19984– wurde in den Kreisen, die mit dem Beratungsprozess vertraut waren, davon ausgegangen, dass diese Entscheidung als Muster für die neue Stra-tegie gilt: »Die NATO wird sich in ihrem neuen Strategischen Konzept nicht auf Formulierungen festlegen, die eine Einschränkung der militärischen Handlungs-freiheit des Bündnisses – sei es durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder durch die OSZE – bedeuten würden. Ein Mandat einer dieser beiden Organi-sationen wird deshalb eine zwar wünschenswerte, aber keine zwingende Voraus-setzung für ein militärisches Engagement der NATO sein.«5

Genauso geschah es. Die widerstreitenden Positionen hatten sich auf die De-vise »Mit der UNO, wenn möglich, ohne die UNO, wenn nötig«, geeinigt. Dies wurde z. T. mit Mängeln des Völkerrechts bzw. einer Lücke in der UNO-Charta in Fällen innerstaatlicher Konflikte begründet, z. T. mit unabdingbaren Handlungs-notwendigkeiten aus humanitären Gründen. Bundeskanzler Schröder kleidete die Abkoppelung von den Vereinten Nationen noch am Konferenzort in die Worte:

»Wir waren uns einig, dass es auch in Zukunft nur dann Interventionen geben kann, wenn im Prinzip ein Sicherheitsratsbeschluss vorliegt. Eng begrenzte Aus-nahmen können zugelassen werden, dürfen aber nicht die Regel werden und kön-nen überhaupt nur in Frage kommen, wenn sich zeigt, und zwar nachweisbar, dass der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist.«6