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Die neue Funktion der Krisenbewältigung – eine verbindliche Änderung des Nordatlantikvertrages

NATO-Strategie jenseits des Völkerrechts

II. Zu neuen Ufern im Völkerrecht?

2. Die neue Funktion der Krisenbewältigung – eine verbindliche Änderung des Nordatlantikvertrages

Diese Verteidigungsfunktion ist durch das Neue Strategische Konzept vom April 1999 um eine weitere Funktion der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung außerhalb des Bündnisgebietes ergänzt. Den Staats- und Regierungschefs in Was-hington war genauso wie den sie vorbereitenden und begleitenden Kommentato-ren und InterpretatoKommentato-ren die Neuartigkeit der Aufgaben bewußt. Das Dokument

10 BVerfGE 90, 286 ff., 350 f.

selbst spricht an verschiedenen Stellen von »nicht unter Art. 5 fallende Krisenre-aktionseinsätze« und Helmut Schmidt hat dies ebenfalls in der Jubiläumsnummer der NATO-Briefe zum 50-jährigen Jubiläum bestätigt: »Die heutige Debatte über die zukünftigen Aufgaben unserer Allianz geht also – zumal von amerikanischer Seite – über die vertraglichen Definitionen hinaus. Wenn gleich nicht vom Vertrags-text gedeckt, kann man sich gleichwohl gut vorstellen, dass das Bündnis im Einver-nehmen der Bündnispartner in fremde Kriege, die indirekt oder unmittelbar die Bündnispartner gefährden, eingreift oder sie präventiv verhindert.« Dazu »wäre eine ratifizierungsbedürftige Ergänzung des Nordatlantikvertrages erforderlich.«11

Die historische Verbindung zu dem ersten Ansatz eines neuen Strategischen Konzeptes von 1991 wird immer wieder betont, desgleichen die Gewissheit, dass mit dem Konzept von 1999 dieser langwierige Prozess nunmehr zum Abschluss gekommen ist. Rechtlich ist dabei von Bedeutung, ob mit dem neuen Konzept eine verbindliche Änderung des NATO-Vertrages beabsichtigt ist oder ob man es bei einer allgemeinen Neuorientierung und Richtungsdefinition programmatischer Art belassen wollte. Diese Entscheidung ist nicht nur für die verfassungsrechtliche Frage der Mitwirkung des Parlaments nach Art. 59 Abs. 2 GG entscheidend, son-dern auch für die völkerrechtliche Verbindlichkeit gem. Art. 11 ff. Wiener Über-einkommen über das Recht der Verträge (WVK) v. 23. 5. 1969.

Denn im Extremfall könnte die völkerrechtliche Verbindlichkeit für die Bun-desrepublik eingetreten sein, ohne daß die nach Art. 59 Abs. 2 GG notwendige Zustimmung des nationalen Parlaments eingeholt worden ist. Nach Art. 11 WVK kann »die Zustimmung eines Staates, durch einen Vertrag gebunden zu sein, ...

durch Unterzeichnung, Austausch von Urkunden, die einen Vertrag bilden, Ratifi-kation, Annahme, Genehmigung oder Beitritt oder auf eine andere vereinbarte Art ausgedrückt werden.« Diese Vorschrift findet gem. Art. 39 WVK auch auf die Än-derung von Verträgen Anwendung.

Der NATO-Vertrag gibt über das Verfahren zur Vertragsänderung keine Aus-kunft. Grundsätzlich besteht im Völkerrecht Formfreiheit und auch schriftlich abgeschlossene Verträge können durch formlosen zwischenstaatlichen Konsens modifiziert werden. Die Tatsache jedoch, dass Art. 11 WVK für die Gründungs-staaten die Ratifikation des Vertrages vorsah und dieses Verfahren ebenfalls bei späteren Beitrittsstaaten verlangt, legt den Schluss nahe, dass auch für grundle-gende Änderungen des Vertragsinhalts die Ratifikation durch die Vertragsstaaten notwendig ist. Dieser Rückschluß liegt nahe, da eine grundlegende inhaltliche und geographische Änderung des Vertrages für die Mitgliedstaaten mindestens ebenso einschneidende Auswirkungen hat wie die Aufnahme eines oder mehrerer weiterer Mitgliedstaaten.

11 H. Schmidt, Das atlantische Bündnis im 21. Jahrhundert, in: NATO-Brief Jubiläumssonderausgabe 50 Jahre NATO, April 1999, S. 20 ff., 22, 23.

3. »Dynamisch«, »authentische« Interpretation oder »implied powers«?

Ein Ratifikationsverfahren war weder in der Vorbereitung des Konzepts noch von den Staats- und Regierungschefs selbst in Erwägung gezogen worden. Gleichzei-tig haben aber alle keinen Zweifel daran gelassen, dass diese neue Funktionsbe-stimmung definitiv und verbindlich sein sollte. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob bereits im Jahre 1994 eine derartige Funktionserweiterung verbind-lich vorgesehen war. Dies hatten die vier Richter, die 1994 die Entscheidung vom 12. 7. 1994 getragen hatten, verneint, weil sie in den Erklärungen und Beschlüs-sen bis dahin keine grundlegende Veränderung des ursprünglichen Vertragskon-zeptes sahen, sondern lediglich politische Handlungsabsichten ohne den Willen zu einem formellen Vertragsabschluss.12

a) Ihre Ansicht, dass die damals schon formulierte Funktionserweiterung in Richtung Krisenbewältigung »keine Änderung des NATO-Vertrages (enthält), sondern ... im Rahmen des bestehenden Vertrages die Aufgaben und Handlungs-instrumente der NATO dem neuen strategischen Umfeld anzupassen (sucht)«

(S. 371), ist allerdings nicht überzeugend. Die Richter berufen sich auf die Mög-lichkeit einer »dynamischen Auslegung« wie sie vor allem bei »Verträgen hoch-politischen Charakters« angesagt sei. Ihnen pflegen »weitgefasste normative Auf-gabenbestimmungen und Zielvorgaben zu entsprechen, die den Vertragsparteien, vor allem wenn und soweit sie einvernehmlich handeln, die Einstellung auf neue Entwicklungen im internationalen Bereich erlauben.« (S. 361 f.)

Allerdings ist die normative Aufgabenbestimmung im NATO-Vertrag äußerst präzise in Art. 5 gefasst, dessen Anpassung an veränderte Außenbedingungen sehr wohl eine Änderung des Vertrages bedeuten kann. Sodann ist die wiederholte Be-teuerung, dass die Verteidigungsfunktion, der defensive Charakter des Bündnisses sowie »die Hauptaufgabe der Streitkräfte des Bündnisses, die Sicherheit und terri-toriale Unversehrtheit der Mitgliedstaaten zu gewährleisten« unangetastet bleibe (S. 370), kein Argument dafür, dass dieser Funktion und Aufgabe nicht eine ganz neue und den Charakter der Organisation entscheidend verändernde Funktion hin-zugefügt wird. Derartige Versicherungen sind auch in dem Strategischen Konzept 1999 enthalten. Eine Veränderung des Inhaltes hängt nicht davon ab, dass die alte Funktion aufgegeben und durch eine neue ersetzt wird. Auch die Funktionserwei-terung ist bereits eine Veränderung des Vertrages, wie es die vier überstimmten Richter in ihrem abweichenden Votum ausgeführt haben: »Diese wiederholten Beteuerungen, auf der Grundlage des ursprünglichen Vertrages zu handeln, recht-fertigen angesichts der offensichtlichen Erweiterung seines Aufgabenspektrums nicht den Schluss auf eine bereits im Gründungsvertrag angelegte Fortentwick-lung des Vertrages.« (S. 374)

Vor allem aber geben weder die Präambel des NATO-Vertrages mit ihrem Be-kenntnis zu den Menschenrechten und zur Entschlossenheit, im Interesse des

in-12 BVerfGE 90, 286 ff., 359 ff.

ternationalen Friedens und der internationalen Sicherheit einander Beistand zu leisten, noch Art. 2 mit der Absicht der Parteien, »zur weiteren Entwicklung fried-licher und freundschaftfried-licher internationaler Beziehungen bei(zu)tragen« oder die Konsultationspflicht des Art. 4 Anhaltspunkte für eine dynamische Erweiterung des Vertragszwecks in Richtung einer Aufgabe zur Friedensschaffung mit mi-litärischen Mitteln außerhalb des Bündnisses.

b) Gleiches gilt für die von den Richtern ebenfalls in Anspruch genommene

»authentische Interpretation« entsprechend Art. 31 Abs. a WRVK. Nur dann, wenn die Krisenbewältigung auch nur in Ansätzen im NATO-Vertrag angelegt ge-wesen wäre, hätte man den langjährigen Prozess der strategischen Neukonzeption allenfalls auf dem Wege der »authentischen Interpretation« als Entfaltung des bis-herigen Vertragsinhaltes auch ohne Ratifikation akzeptieren können. Eine Ausle-gung ist jedoch dann nicht mehr authentisch, wenn sie einen weder im Vertrags-text noch im Gründungszweck der Organisation erkennbaren neuen Inhalt hinzufügt. Die »spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen« (Art. 31 Abs. 3 a WVK) kann dann nicht mehr den Begriff der Auslegung für sich in An-spruch nehmen, wenn dem Vertrag ein ganz neuer Sinn und Zweck hinzugefügt wird – frei nach Goethes Xenien: »Im Auslegen seid frisch und munter, legt ihr nicht aus, so legt was unter.«

c) Auch die Anwendung der sog. »implied powers«-Lehre führt zu keinem an-deren Ergebnis. Nach dieser Lehre können einer Organisation weitere über die vertraglich festgelegten Kompetenzen hinausgehende Funktionen zustehen, so-weit diese zur Erfüllung des Vertragszwecks notwendig sind. Man könnte geneigt sein, die Sicherheitsfunktion des Bündnisses über seinen unmittelbaren territoria-len Rahmen hinaus auch auf Drittstaaten zu erstrecken, »wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind« (Art. 4).

Abgesehen von der Unsicherheit, was im einzelnen als Bedrohung der Sicher-heit eines Bündnismitgliedes angesehen werden kann – von einem militärischen Angriff über die Unterbrechung der Energieversorgung bis zu den Flüchtlings-strömen aus einer unruhigen Region – sieht Art. 4 lediglich Konsultationen, nicht aber militärische Maßnahmen vor. Wem diese Schlussfolgerung angesichts der er-weiterten Aufgaben der NATO zu eng ist, muss sich schon über den klaren Wort-laut hinwegsetzen, der bei einer Bedrohung die Konsultation (Art. 4) aber erst bei einem »bewaffneten Angriff« die militärische Verteidigung (Art. 5) erlaubt. Es würde erhebliche Rechtsunsicherheit verbreiten, wenn nach dem Satz »erlaubt ist, was nicht verboten ist«, alle die Funktionen in die Handlungsmöglichkeiten einer Organisation hinein interpretiert werden können, die nicht ausdrücklich verboten sind. Das könnte der NATO schließlich Funktionsräume erschließen, die bisher noch nicht einmal angedacht worden sind, sich aber aus der Dynamik der Ent-wicklung einmal als wünschbar oder notwendig ergeben. Die NATO hatte in

ihrem Gründungsvertrag ursprünglich nichts von dem angelegt, was mit der neuen Strategie nun zum neuen Vertragszweck gemacht werden soll. Die Krisen-bewältigung im euro-atlantischen Raum ist nicht umsonst so treffend als Interes-senverteidigung bezeichnet worden, weil sie mit der Territorialverteidigung des Art. 5 nichts gemein hat. Ohne einen mindesten Anknüpfungspunkt im Vertrag an die nun geforderten Aktivitäten außerhalb des Bündnisses lassen sich aber keine darauf abzielenden implied powers begründen.

d) Schließlich lässt sich auch mit der weiteren Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 3 c WVK, »jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht«, kein anderes Ergebnis erreichen. Über vierzig Jahre diente der Vertrag ausschließlich Verteidigungszwecken, auch wenn er seinen Sinn allein mit der Abschreckung er-füllte und niemals militärische Maßnahmen angewandt werden mussten. Erst nach der Beendigung des Kalten Krieges und dem Verlust des ursprünglichen Gegners begannen die Bemühungen um eine neue Identität und Funktion für die NATO. Man kann auch nicht die verschiedenen Erklärungen und Beschlüsse zur neuen Strategie als »Übung bei der Anwendung des Vertrages« nehmen. Und der militärische Einsatz der NATO gegen Jugoslawien wurde ausdrücklich von allen Seiten als Ausnahme bezeichnet.

So präzise der neue Organisationszweck in dem Strategie-Dokument politisch zum Ausdruck kommt, so sehr möchte es seine rechtliche Einordnung – ob aut-hentische Interpretation oder Vertragsänderung – im Unklaren lassen. Die Unter-suchung hat jedoch eindeutig ergeben, dass das Strategie-Dokument nicht als Auslegung des NATO-Vertrages in Betracht kommt. Eine verbindliche neue Funktion neben Art. 5, wie sie von den Mitgliedstaaten gewollt ist, entfernt sich zu weit von dem Ziel und Zweck des Gründungsvertrages und widerspricht gera-dezu den Auslegungsregeln nach Art. 31 Abs. 1 und 2 WVK.

Für die Hinzufügung neuer Verpflichtungen der Krisenbewältigung und Kon-fliktverhütung zu der alten Verteidigungspflicht bleibt daher nur der Weg einer vertraglichen Änderung, wie es die vier überstimmten Richter bereits für die Si-tuation im Jahre 1994 angenommen haben. Dabei muss es sich nicht unbedingt um den Abschluss eines formalen Vertrages mit genauer Artikel-Angabe handeln, sondern kann auch als konkludenter Vertragsschluß erfolgen.13