• Keine Ergebnisse gefunden

Konkludenter Vertragsabschluss

NATO-Strategie jenseits des Völkerrechts

II. Zu neuen Ufern im Völkerrecht?

4. Konkludenter Vertragsabschluss

Für den Willen zu einem solchen konkludenten Vertragsabschluss müssen aller-dings Anhaltspunkte vorhanden sein. Das Bundesverfassungsgericht hat als Bei-spiel auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft verwiesen, die sich

13 BVerfGE 90, 286 ff., 361.

gelegentlich dieser Form bedienen, »um mögliche Kompetenzmängel der Ge-meinschaft auf diese Weise zu überbrücken oder außer Streit zu stellen.«14

Ähnliche Anhaltspunkte lassen sich auch beim Strategie-Konzept ausmachen.

Der eindeutige Wille, eine verbindliche Erweiterung der Aufgabenstellung der NATO festzulegen, kollidierte offensichtlich mit der Befürchtung, dass eine aus-führliche öffentliche Debatte im Rahmen der Ratifizierungsverfahren in manchen Ländern die Ratifizierung hinauszögern oder ganz verhindern könnte. Diese Be-fürchtung ist aus einsichtigen Gründen nie offen ausgesprochen worden, erklärt sich aber aus den Erfahrungen mit der Ratifizierung der Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien in die NATO, die insbesondere in den USA auf größere Schwierigkeiten gestoßen ist.

Zudem waren sich die Mitgliedstaaten nie ganz einig in Ziel und Ausmaß der Aufgabenerweiterung und haben eine öffentliche Debatte in ihren Ländern ver-mieden. Es besteht begründeter Anlass, dass eine präzise Ergänzung des Art. 5 NATO-Vertrages um einen weiteren Artikel, der zu out-of-area-Einsätzen wie gegen Jugoslawien ermächtigen würde, im Ratifizierungsverfahren mancher Mit-gliedstaaten scheitern könnte. Deshalb hat man diese Erweiterung in ein allgemei-nes Dokument aufgenommen, welches neben analytischen, perspektivischen und programmatischen Aussagen das Bündnis auch auf neue Aufgaben verpflichten soll. Es geht aber nicht an, dass eine neue vertragliche Verpflichtung derart in ei-nem ansonsten unverbindlichen Dokument verpackt wird, um damit das notwen-dige Verfahren zu umgehen.

Die bisherige Praxis der NATO zeigt, dass ihre Repräsentanten sowie die Staats- und Regierungschefs auf dem Strategie-Dokument als verbindlicher Rechtsgrundlage für Einsätze der Krisenbewältigung bestehen. So wie der deut-sche Bundeskanzler und der Außenminister eine Ratifikation nach Art. 59 Abs. II GG abgelehnt haben, haben sie auch die völkerrechtliche Notwendigkeit einer Ratifikation nach Art. 11, 14 WVK nicht anerkannt. Das Dilemma zwischen der gewollten neuen Rechtsgrundlage und der mangelnden Form ist nur dadurch lös-bar, dass man entweder das Scheitern des intendierten Zieles und die Untauglich-keit des Strategiedokuments als Neudefinition der Rechte und Pflichten aus dem NATO-Vertrag feststellt oder die Ratifizierung nachholt.

Aus diesem Dilemma hat auch nicht der Beschluss des Bundestages vom 16. Oktober 1998 zur deutschen Beteiligung am NATO-Einsatz im Kosovo-Kon-flikt herausgeführt. Dieser Beschluss kann nicht als vorweggenommene Ratifizie-rung eines späteren völkerrechtlichen Vertrages gelten. Er mag durchaus als vor-weggenommener Test- und Anwendungsfall der zukünftigen Aufgaben gewertet werden. Allerdings umfaßt er nicht den viel größeren Umfang der neuen

Aufga-14 BVerfGE 68, 1 ff., 82.

ben im Strategiedokument und unterliegt selbst schweren völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken.15

Schließlich kann auch nicht die jeweilige ad-hoc-Ratifikation eines Einsatzes im Rahmen der neuen Krisenbewältigung den Mangel heilen. Der nach dem Grundgesetz notwendige Beschluss des Bundestages für out-of-area-Einsätze kann die Ratifikation einer Änderung des NATO-Vertrages nicht ersetzen. Beide Beschlüsse betreffen unterschiedliche Tatbestände, auf die sie sich beziehen. Dies muss in den Beschlüssen deutlich zum Ausdruck kommen.

Das Ergebnis ist eindeutig: Das Neue Strategische Konzept vom April 1999 stellt nicht etwa eine erweiternde Auslegung des NATO-Vertrages von 1949 dar, sondern enthält eine grundlegende Veränderung und Erweiterung des Gründungs-vertrages mit neuen Rechten und Pflichten der Mitgliedstaaten. Für diese Ände-rung ist eine Ratifikation nach Art. 11, 14 WVK notwendig.

5. Verzicht auf das UNO-Mandat gem. Art. 39/42 UN-Charta – Notstands- und Nothilferecht?

Die inhaltliche und geographische Erweiterung der Aufgaben des Bündnisses ist nicht die einzige Neuerung des Strategischen Konzeptes. Die weitere ist die Mög-lichkeit, bei einem geplanten militärischen Einsatz dann auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrats nach Art. 39, 42 UN-Charta zu verzichten, wenn dieses durch ein Veto eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats verhindert wird, oder die Aus-sichten auf ein Mandat von vornherein als negativ eingeschätzt werden.

Diese neue Formel: UN-Mandat, wenn möglich, ohne Mandat, wenn nötig, ist in dieser Deutlichkeit nicht im Neuen Strategischen Konzept enthalten. Sie ergibt sich jedoch aus dem Zusammenhang und der historischen Situation, in der das Konzept verfasst und verabschiedet wurde. Im Konzept wird zwar mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung

»in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Natio-nen« zu erfolgen hätten. Diese Selbstverständlichkeit wird aber mit dem Hinweis auf das von »ihr auf dem Balkan gezeigte Eintreten für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung« relativiert. Denn auf dem Balkan war der markanteste Kri-seneinsatz im Kosovo-Konflikt gerade ohne UNO-Mandat erfolgt. Die Verab-schiedung des Strategiepapiers fiel in die Zeit des militärischen Einsatzes gegen Jugoslawien, auf den sich die NATO-Politiker als Beispiel für zukünftige Kri-seneinsätze immer wieder beriefen. Das Bekenntnis zum Völkerrecht und zur Charta der Nationen ist nicht identisch mit dem Bekenntnis zu einem UN-Mandat im Falle militärischer Einsätze. Die zahlreichen Rechtfertigungsversuche, auf die noch einzugehen ist, beweisen das.

15 Vgl. Stellungnahme von Staats- und Völkerrechtlern vom 15. Oktober 1998: Militärischer NATO-Einsatz im Ko-sovo ohne UN-Mandat, aber mit deutscher Beteiligung? in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/98 S. 1395 f.

Der Verzicht auf ein UN-Mandat ist eine ganz neue Entwicklung, die in den verschiedenen Strategieerklärungen seit 1991 nicht erwähnt worden ist. In allen drei Fällen des vom Bundesverfassungsgericht am 12. 7. 1994 positiv entschiede-nen out-of-area-Einsatzes der Bundeswehr lag ein explizites Mandat des UN-Si-cherheitsrats vor. Das Gericht brauchte sich deshalb mit der Problematik des feh-lenden Mandats nicht auseinanderzusetzen.

Nach dem zwingenden Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta kommen völ-kerrechtlich nur zwei Grundlagen für ein militärisches Eingreifen gegen einen an-deren Staat in Betracht: sei es als individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen rechtswidrigen bewaffneten Angriff gem. Art. 51 UN-Charta oder im Rahmen einer Zwangsmaßnahme der UNO auf der Basis der Artikel 39, 42 UN-Charta bzw. mit der Ermächtigung gem. Art. 43 oder 48 UN-UN-Charta. Dies ist heute unbestrittenen Meinung. Einsätze zur Krisenbewältigung sollen laut Strategi-schem Konzept gerade neben und außerhalb von Einsätzen nach Art. 5 NATO-Vertrag vorgenommen werden. Da Art. 5 nichts anderes als eine Konkretisierung des Art. 51 UN-Charta ist, kommt eine Berufung auf Selbstverteidigung schon per definitionem nicht in Betracht. Dies ist beim Kosovo-Einsatz deutlich geworden, es fehlte an einem Angriff auf ein Bündnismitglied. Eine ausdehnende Interpreta-tion, indem innere Vorgänge wie die blutige Unterdrückung eines Volksteils nicht nur als massive Verletzung der Menschenrechte, des Minderheitsschutzes und evtl. auch des Selbstbestimmungsrechts eingestuft, sondern dem Angriff gleichge-stellt werden, wird allenfalls von nicht-völkerrechtlichen Autoren vertreten.16

In Bürgerkriegen ist allen Staaten nach dem geltenden Völkerrecht strikte Neu-tralität gegenüber den Konfliktparteien aufgegeben. Nur der UN-Sicherheitsrat kann in derartigen Situationen nach Art. 39 u. 42 UN-Charta eingreifen. Deshalb waren auch gelegentliche Versuche, für den Kosovo-Einsatz das kollektive Verteidi-gungsrecht über ein »Nothilferecht für die Kosovo-Albaner« zu aktivieren, nicht möglich. Völker oder Minderheiten sind zwar Träger von Menschen- und Minder-heitsrechten, so des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sind jedoch keine Sub-jekte des Völkerrechts, was für Anwendung des Art. 51 UN-Charta notwendig wäre.

Die juristische Begründungsnot – die zahlreichen philosophischen und soziolo-gischen Begründungsversuche im Falle des Kosovo-Konfliktes bleiben hier außer Betracht –,17schlug sich in den Bemühungen nieder, die Entscheidung zum mi-litärischen Einsatz doch noch »irgendwie« unter das Dach der UNO zu bekommen.

Der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel begründete seinerzeit einen entsprechenden Kabinettsbeschluss: »Im Lichte des Unvermögens des Sicher-heitsrats, seinem Gewaltmonopol bei dieser besonderen notstandsähnlichen

Situa-16 Vgl. etwa O. E. Kempen, Was man tut und was man darf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 28. April 1999; D. Senghaas, Recht auf Nothilfe, in: FAZ v. 12. Juli 1999, S. 12.

17 Vgl. etwa A. Zielcke, Individuen, hört die Signale, Süddeutsche Zeitung 17./18. April 1999; J. Habermas, Bestia-lität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: DIE ZEIT Nr. 18 v. 29. April 1999, S. 1 ff.

tion gerecht zu werden, fußt die Rechtsgrundlage angesichts der humanitären Krise im Kosovo auf Sinn und Logik der Sicherheitsratsresolutionen 1160 und 1199 in Verbindung mit dem Gesichtspunkt der humanitären Intervention und ei-nem Mindeststandard in Europa für die Einhaltung der Menschenrechte, dem wir die Qualität eines sich entwickelnden regionalen Völkerrechts beimessen. Dies ist ein Fall, in dem das Völkerrecht ein militärisches Tätigwerden zur Abwendung ei-ner unmittelbar bevorstehenden humanitären Katastrophe erlaubt.«18

Es ist richtig, dass der Sicherheitsrat seine Aussagen zum Zustand im Kosovo auf das Kapitel VII gestützt hat. Er hat aber trotz der Bemühungen der USA nicht die Konsequenz von Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta gezogen. Inso-fern sprachen »Sinn und Logik« gerade nicht für ein militärisches Tätigwerden, sondern für weitere diplomatische und politische Vermittlungen. Der Sicherheits-rat hatte in Res. 1199 ausdrücklich beschlossen, »weitere Schritte und zusätzliche Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens und der Stabilität in der Region zu prüfen, falls die in dieser Resolution sowie in Resolution 1160 (1998) geforderten konkreten Maßnahmen nicht getroffen werden.« Das ist deut-lich genug, um militärische Maßnahmen vorerst auszuschließen. Fehlt ein aus-drückliches Mandat des UN-Sicherheitsrats, so verstößt eine militärische Inter-vention gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot.