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Deutschland – Bedrohungsperzeptionen und Machtstrategien

Mit dem Ende der Ost-West-Systemkonfrontation entstand global eine neuartige Situation. Dabei waren die staatliche Einheit und die Wiedererlangung der vollen Souveränität Deutschlands von zentraler Bedeutung für das politische, ökonomi-sche und auch militäriökonomi-sche Kräfteverhältnis in Europa und darüber hinaus. Der

»deutsche Weg« durch die Jahrhunderte europäischer Geschichte hat damit eine neue Facette bekommen. Eine Kontinuität der Außen- und Militärpolitik des ge-einten Deutschlands aus der Vergangenheit heraus konnte es – von Einzelelemen-ten abgesehen – nicht geben.

Vor 1990 war die »Bedrohung« primär geprägt durch Phobien bei der Perzep-tion der Gegenseite. Eine unmittelbare, reale militärische Systembedrohung zwi-schen den USA und der Sowjetunion, NATO und Warschauer Pakt und zwizwi-schen den beiden deutschen Staaten hat es während des kalten Krieges niemals gegeben.

Das Vehikel der gegenseitigen militärischen »Abschreckung« und ein gerüttelt Maß beidseitiger Realpolitik funktionierten. Bedrohungslegenden wurden primär als Disziplinierungsinstrument der Innenpolitik eingesetzt, stellten aber keine äußere Realität dar. Die »System-Bedrohung«, eher System-Destabilisierung, war ein innenpolitischer, primär sozial und ökonomisch bedingter Faktor; insbeson-dere für den Osten, wie der Umbruch ab 1985 zeigte. Aber auch für den Westen, wie die folgenden weltwirtschaftlichen Krisen und gesellschaftspolitischen Ver-änderungen dokumentieren.

In der gegenwärtigen Strategiediskussion spielt der Begriff der »Bedrohung«

in Deutschland keine bemerkenswerte Rolle. Er taucht eher untergeordnet und eindimensional in militärisch-terroristischen Zusammenhängen oder bei der Cha-rakterisierung objektiver Erscheinungen, meist globaler nichtmilitärischer Pro-bleme auf, wie Armutsbekämpfung, Energie- und Wasserversorgung, Klimaände-rungen, Migrationströme, Nahrungs- und Ressourcensicherheit, Ökologie und Umweltschutz, Pandemien u. ä. Zentrale Begriffe der sicherheits- und militärpoli-tischen Diskussion sind dagegen »Herausforderungen«, »Interessen« und »Risi-ken«.

Heutige Regionalkrisen- und -kriege, geschweige denn »Bedrohungen« durch sogenannte »Terrorstaaten« wie Iran, Nordkorea, Venezuela usw., stellen ein überkommenes Ersatz-Feindbild dar. Sie sind weder real, noch existenziell ge-fährlich für die westliche Zivilisation und für deren Wohlstand und Prosperität.

Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung, die Nord-Süd-Asymmetrie entfal-tet sich militärisch, wirtschaftlich und sozial. Die Folge ist eine langfristige Über-legenheit der hochentwickelten Staaten. Das Gefälle zwischen der Nord- und

großen Regionen der Südwelt, insbesondere auf technologischem Gebiet, hat sich seit 1950 von ca. 100 auf gegenwärtig über 200 Jahre vergrößert.

Militärpolitische Entwicklungen

Im Rahmen der Bestimmung deutscher Interessen nach 1990 galt es auch, das mi-litärpolitische Umfeld neu zu bewerten. Völkerrechtliche Grundlagen dafür waren insbesondere der »2+4«-Vertrag, die Charta der Vereinten Nationen, das Grundge-setz Deutschlands und die KSZE-Schlussakte. Dabei ging es aus deutscher Sicht um eine klare Prioritätensetzung. Vorrang hatte die Herstellung der deutschen Einheit. Dafür galt es die militärpolitischen Bedingungen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu erfüllen: wirksame Maßnahmen zur Rüstungskon-trolle, Abrüstung und Vertrauensbildung; keinerlei Gebietsansprüche gegen an-dere Staaten; von deutschem Boden darf nur Frieden ausgehen; verfassungsrecht-liche Strafbarkeit der Vorbereitung zur Führung eines Angriffskrieges; und dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Natio-nen. Darüber hinaus wurde der Verzicht auf die Herstellung und den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen bekräftigt und die Streitkräfte Deutschlands auf eine Personalstärke von 370 000 Mann beschränkt.1

Die sicherheitspolitische Diskussion und Praxis in Deutschland ist z. Zt. mi-litärisch überfrachtet: Militärpolitische Leitlinien und Weißbücher werden publi-ziert; Strukturen, Aufgaben und Einsatzgrundsätze der Bundeswehr diskutiert;

Auslandseinsätze organisiert und ausgeweitet. Seit 1998 waren über 400 000 Bun-deswehr- und Polizei-Angehörige rotierend im Auslandseinsatz. Dies korrespon-diert nicht mit den realen Krisen und Herausforderungen, mit denen Deutschland konfrontiert ist. Kanzler Schröder charakterisierte die Situation dezidiert auf der Sicherheitskonferenz in München, am 12. Februar 2005: »Nicht nur die USA, auch Europa braucht heute einen militärischen Angriff auf seine Grenzen nicht mehr zu fürchten ... Die strategischen Herausforderungen liegen heute sämtlich jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantik-Paktes. Und sie erfordern primär keine militärischen Antworten.«

Der Einsatz militärischer Macht steht vor neuartigen Problemen, wie die Praxis der letzten Jahre zeigt. Die Zerstörung einer Volkswirtschaft und der Sturz der entsprechenden Führungskräfte durch hochentwickelte Staaten sind relativ ein-fach in Szene zu setzen. Aber es gelingt nicht, eine wirtschaftlich produktive, ge-schweige denn demokratische Nachkriegsordnung zu schaffen. Im Gegensatz zur früheren Kolonialgeschichte sind die heutigen regionalen Konflikte und Kriege

1 Vgl. (2+4)-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn September 1990, S. 38 ff.

für die Großmächte relativ verlustarm an Menschen, aber insgesamt unprofitabel und ökonomisch sowie finanzpolitisch destabilisierend. Ein Problem der »strate-gischen Überdehnung«. Nur ein sehr beschränktes Segment der Wirtschaft, mit al-lerdings überproportionalem Einfluss, oft erfasst mit dem Begriff von D. Eisen-hower »militärisch-industrieller Komplex« realisiert Vorteile aus dem Konflikt.

Die Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt verlieren jedoch an Stabilität. Die jüngsten Kriege im Irak und in Afghanistan und ihre binnen- und außenwirt-schaftlichen Folgen für die USA, sind dafür symptomatisch.

Bündnisstrukturen.Das geeinte Deutschland gehört der NATO an. Diese aber verlor ihren Widerpart und ist seitdem in einer Sinnkrise. Die USA-Führung hat dies nach 1990 frühzeitig erkannt und Konsequenzen gezogen. Forderungen von Bush senior nach einer »Neuen Weltordnung«, die Übertölpelung der Verbünde-ten mit der neuen NATO-Einsatzstrategie im Zusammenhang mit dem völker-rechtswidrigen Kosovo-Krieg 1999; spätestens jedoch die Ereignisse seit dem Irakkrieg 2003 und der damit praktizierten Bildung eines »Bündnis der Willigen«

zeigen dies überdeutlich. Die NATO ist mit der Aufnahme immer neuer Staaten Ost- und Südosteuropas und der gleichzeitigen Entwicklung kooperativer Politik zu Russland politisch und militärisch überdehnt und nur noch begrenzt hand-lungsfähig. Das Scheitern der »Willigen« im Irak und die sich abzeichnende mi-litärische Niederlage (von OEF und auch ISAF) in Afghanistan, forcieren diesen Prozess.

Europäische Alternativen wurden bereits 1992 zögerlich in Gang gesetzt. Im Unionsvertrag von Maastricht wurde die »Festlegung einer gemeinsamen Vertei-digungspolitik (...), die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte«2beschlossen. Der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg und die zu-nehmende USA-Spaltungspolitik gegenüber der EU, insbesondere vor und wäh-rend des Irak-Krieges, sowie im Zusammenhang mit der geplanten Stationierung von Raketenabwehrsystemen in neuen EU-Mitgliedstaaten, treiben diese Ent-wicklung voran. Kanzler Schröder traf den Punkt, als er auf der bereits erwähnten Sicherheitskonferenz 2005 anmerkte, dass die NATO »nicht mehr der primäre Ort (ist), an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsul-tieren und koordinieren. Dasselbe gilt für den Dialog zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, der in der heutigen Form weder dem wach-sendem Gewicht der Union noch den neuen Anforderungen transatlantischer Zu-sammenarbeit entspricht.«

In einem mittelfristigen Übergangsstadium, ist mit verschiedenen Kombinatio-nen der US-geführten NATO und der ESVP zu rechKombinatio-nen. Längerfristig ist jedoch eine Führungsrolle der USA zur Wahrnehmung europäischer und deutscher Inter-essen unnötig. Damit steht die NATO als militärische Organisation zur

Disposi-2 Vgl. DER VERTRAG, Europäische Gemeinschaft, Europäische Union, Presse und Informationsamt der Bundes-regierung, Bonn 1993, S. 179.

tion. Das hat Konsequenzen für die konzeptionelle Gestaltung der deutschen Mi-litär- und EU-Politik. Die ESVP, einschließlich der Schaffung einer europäischen Armee, bekommt zunehmende Bedeutung. Allerdings verstärkt sich angesichts der pro USA-Positionen einer größeren Anzahl von EU-Staaten, die eine US-Führungsrolle für unabdingbar halten, auch bei der militärischen Integration die Entwicklung hin zu einem offenen (!) Kerneuropa. Deutschland und Frankreich stellen dabei den Kristallisationsraum dar. Eine Vereinbarung des Elysee-Vertra-ges von 1963, der eine Koordinierung der Außen- und Militärpolitik beider Staa-ten vorsah, würde damit seine langfristige Realisierung in der ESVP finden. Die künftige Rolle der OSZE, als euroatlantischem Gremium ist dabei neu auszuloten.

Neue Streitkäfte.Die Streitkräfte Deutschlands durchlaufen seit der deut-schen Einheit einen nicht abgeschlossenen, tiefgreifenden Wandlungsprozess von der Verteidigungs- zur Armee im Einsatz. Sie waren vor 1990 im NATO-Rahmen auf die Fähigkeit zur Landesverteidigung ausgerichtet. Diese kombinierte Ele-mente einer Glaubwürdigkeit vergeltender Kriegsführung mit Fähigkeiten der Ab-schreckung. Als Hauptbedrohung wurden die Sowjetunion und der Warschauer Vertrag gesehen. Entsprechend waren die Militärstrategie, die Einsatzgrundsätze, die Organisation und Ausbildung sowie Bewaffnung der Bundeswehr auf einen Verteidigungskrieg gegen einen nahezu spiegelbildlichen Gegner ausgerichtet.

Die gegenseitige Abschreckung funktionierte dahingehend, dass im Ergebnis ei-nes nuklearen oder konventionellen Krieges die Vernichtung bzw. nicht hinnehm-bare Verluste für beide Seiten drohten. Die unmittelhinnehm-bare Kriegsvorbereitung war dabei auf beiden Seiten eine Drohgebärde, die der realen Situation widersprach.

Die militärischen Herausforderungen haben sich in den letzten zwei Jahrzehn-ten grundsätzlich gewandelt. Deutschland hat nur verbündete NachbarstaaJahrzehn-ten, ein militärischer Konflikt in Zentraleuropa ist unrealistisch und ein globaler Groß-krieg nahezu ausgeschlossen. Dem gemäß wurden 1992 und 2003 Verteidigungs-politische Richtlinien und 2006 ein Weißbuch verabschiedet, die dieser veränder-ten Situation Rechnung tragen sollveränder-ten. Auf dieser Grundlage werden die aktuellen militärpolitischen Ziele und Einsatzgrundsätze der Bundeswehr bestimmt. Dabei geht es insbesondere um die künftigen militärpolitischen Herausforderungen, den modularen Aufbau der Kampfeinheiten, eine flexible, den Herausforderungen ei-nes asymmetrischen Krieges entsprechende Bewaffnung. Das heißt u. a. Kampf-hubschrauber statt schwerer Panzer, Aufklärungskapazitäten sowie Fähigkeiten zum Luft- und Seetransport. Die Operationsfähigkeit sollte dabei realistischer-weise auf Europa und seine Randzonen beschränkt bleiben.

Im konventionellen Bereich hat Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten den Rüstungshaushalt nicht wesentlich gesteigert (2006 ca. 31 Mrd. €) und im Verhältnis zum BIP abgesenkt (weniger als 1,5 Prozent). Die »Modernisierung«

der Bundeswehr impliziert eine Absenkung der Truppenstärke (1990 340 000, ge-genwärtig 265 000, Option unter 200 000), die Aussetzung der Wehrpflicht und den Übergang zur Berufsarmee. Ziel ist die Schaffung einer modernen

Einsatz-Armee. Vorstellungen über einen Ausbau der Infrastruktur zur permanenten Teil-nahme an Kampfhandlungen in bis zu fünf Konfliktherden, die auch noch erfolg-reich beendet werden sollen, sind angesichts der interventionistischen Erfahrun-gen der letzten Jahre jedoch völlig absurd.

Im nuklearen Bereich traf Deutschland zwei Grundsatzentscheidungen: Ers-tens verzichteten beide deutsche Staaten schon 1969 auf Kernwaffen und traten dem Vertrag über nukleare Nichtweiterverbreitung bei. Zweitens wurde im Jahre 2000 der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Deutschland hat damit als industrieller Großstaat und Militärmacht objektiv eine Vorbildfunktion im mi-litärischen und ökonomisch-technologischen Sinne übernommen. Dahingehend ist die nachhaltige Forderung nach Abzug der letzten US-amerikanischen Nu-klearwaffen aus Deutschland nur folgerichtig. Die vieldiskutierte Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihre Trägermittel sind der selbstverschuldete

»Fluch der bösen Tat«. Die nuklearen Großmächte haben die Chancen zur nuklea-ren Abrüstung – einer Bedingung des Nichtweiterverbreitungsvertrages von 1969 – verkommen lassen. Ob die Obama-Initiative greift, ist mittlerweile mehr als fragwürdig.

Diese Entwicklungen gehen einher mit einer Änderung deutscher Gesamtpoli-tik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Hauptorientierung auf nichtmi-litärische, friedlich-marktwirtschaftliche Integration in Europa, gewährleistete ei-nen historisch einmaligen Aufstieg Deutschlands in der Weltwirtschaft, eiei-nen nachhaltigen Wohlstand der Bevölkerung, stabilisierte die Entwicklung der Nach-barstaaten und der Europäischen Union. Damit erweiterte sich auch der interna-tionale Einfluss und Handlungsspielraum Deutschlands.

Nach fast zwei Jahrzehnten deutscher Einheit ist die Widersprüchlichkeit und Langwierigkeit der militärpolitischen Wandlungsprozesse des neuen Deutsch-lands überdeutlich. Die politische Klasse – von Rechts bis Links – stellt sich den damit verbunden Aufgaben zunehmend und durchaus auch erfolgreich. Mehrheit-lich ist sie jedoch noch im west-/östMehrheit-lichen Sozialisierungsprozess befangen, hängt ewig-gestrigem Abschreckungsdenken an und hinkt somit den notwendigen Ent-wicklungen im konzeptionellen Denken und praktischen Handeln hinterher. Die Neugestaltung deutscher Verteidigungspolitik nach der Einheit ist demgemäß am-bivalent, klebt an überholten militaristischen Konzepten und wagt nur inkonse-quent zeitgemäße Ansätze. Der militärische Faktor wird, im Rahmen einer Ge-samtstrategie weiterentwickelt, v. a. aber – und hier zeigt sich ein beachtenswerter Realismus – in Ergänzung und untergeordnet (!), der die Zukunft entscheidenden ökonomischen Expansionsstrategien Deutschlands.

Ökonomische Expansion

Die 1990 erhaltende volle Souveränität und die Einheit, schafft für Deutschland eine qualitativ neue wirtschaftliche Situation. Erneut besteht die Möglichkeit zum Aufstieg von einer europäischen Mittelmacht zu einer global agierenden, ökono-misch und technologisch einflussreichen Macht (»Großmacht«). Bei dieser For-mulierung besteht berechtigte Zurückhaltung, begründet durch die dunklen Seiten der deutsche Geschichte. Dennoch ist es angebracht die Problematik an dieser Stelle zuzuspitzen, um die Rolle und die konstruktiven, wie auch destruktiven Möglichkeiten Deutschlands in Europa und global realistisch zu bewerten.

Unmittelbar im Prozess der deutschen Einheit wurde das außenpolitische Prin-zip der »Selbstbeschränkung« diskutiert, um Ängste und Befürchtungen anderer Staaten und Völker abzubauen. Dies betraf sowohl die politisch-militärischen Aspekte als auch die ökonomische Dimension. Seitdem wird die »Politik der Selbstbeschränkung« im Rahmen der deutschen Sicherheits- und Wirtschaftspoli-tik instrumentalisiert. Dieses Diktum darf jedoch nicht zu einer Fehleinschätzung, insbesondere zur Unterschätzung der wirtschaftlichen Machtpotentiale lands führen. Insbesondere dann, wenn es, entgegen der EU-Einbindung Deutsch-lands, zu Tendenzen einer Renationalisierung deutscher Wirtschaftpolitik kommt.

Eine Entwicklung, der konservativ-rechte und auch linke Kräfte in Deutschland mit einer Anti-EU-Politik Vorschub leisten.

Lassen wir die letzten anderthalb Jahrhunderte aus deutscher Sicht Revue pas-sieren:

1870/71 bis 1918.Mit der Einheit Deutschlands setzte eine starke Wirtschafts-entwicklung ein. In wenigen Jahrzehnten wurde ein Produktionspotential aufge-baut, das mehr als den begrenzten mitteleuropäischen Raum versorgen konnte.

Deutschland und Frankreich übernahmen um 1900 globale ökonomisch-technolo-gische Führungspositionen. Aus der Konzentration des Kapitals entstanden Wirt-schafts- und Systemkrisen. Der Druck entlud sich im Ersten Weltkrieg, einem Kampf um die Neuaufteilung der Beschaffungs- und Absatzmärkte, den Deutsch-land verliert.

1919 bis 1945.Deutschland baut sich aggressiv erneut zur Großmacht auf. Es folgt ein weiteres Scheitern bei dem Versuch einer militärischen Lösung der öko-nomischen u. a. innerer Probleme. Nur eine Weltkoalition unter Führung der neuen Großmächte Sowjetunion und USA konnte Deutschland und seine Verbün-deten aufhalten.

1945 bis 1990.Deutschland wird besetzt und gespalten. Seine Souveränität be-züglich »Deutschland als ganzes und Berlin« wird durch die Siegermächte we-sentlich eingeschränkt und bleibt in der Hoheit des Alliierten Kontrollrates. Beide deutsche Staaten steigen in ihren jeweiligen Systemen zu führenden Wirtschafts-und Wohlfahrtsstaaten auf. Zentrale Entwicklungsfaktoren sind dabei u. a.: Mi-litärische Beschränkung und »Pazifizierung« durch die Siegermächte.

Gleichzei-tig wird das enorme Humankapital vorrangig in der Friedens- und Zivilproduk-tion eingesetzt (»Wirtschaftswunder«) und – im Vergleich mit den Großmächten – unterproportional rüstungsökonomisch verschleudert. Prozesse europäischer Inte-gration unter Einbindung der deutschen Staaten wurden in Gang gesetzt.

Die Führungskräfte in Europa und Deutschland haben, bei aller Widersprüch-lichkeit, wesentliche Lektionen aus zwei Weltkriegen gelernt. Der offensive Ein-satz des militärischen Machtfaktors, von der Bevölkerung in fast allen Staaten Eu-ropas mehrheitlich abgelehnt (Deutschland über 60 Prozent), wird nicht mehr als Hauptinstrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen gesehen und einge-setzt; vorrangig wird auf ökonomische und politische Kooperations- und Macht-strategien gesetzt. Hier zeigt sich, spätestens seit der US-amerikanischen Nieder-lage im Vietnam-Krieg Mitte der 1970er Jahre, ein strategischer konzeptioneller Bruch zwischen Europa und den USA.

1990 bis in die Gegenwart.Deutschland, vereinigt und integriert in die Eu-ropäische Union und in der NATO, realisiert in historisch kurzer Frist mehrere strategische Aufgaben:

(1) Die deutsche Einheitwird vorangetrieben. Dabei geht es insbesondere um die Stabilisierung der Volkswirtschaft, die Absicherung des Wohlstandes der Ge-samtbevölkerung und die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost-West. Letzte-res ist bislang nur partiell erreicht und bedarf langwieriger, mehrere Generationen umfassende Anstrengungen. Die dafür notwendige Entwicklung ist eng verkop-pelt mit einer politischen und ökonomischen tiefgehenden Umgestaltung Deutschlands.

(2) Die Beschleunigung der europäischen Integration.Die Einbindung in die EU ist eine Strategiekonstante deutscher Politik. Für beide deutsche Staaten war das Prinzip »Multilateralismus« ein Merkmal ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.

Im Vordergrund stand dabei die europäische, jeweils einseitige West- bzw. Ost-Einbindung. Das geeinte Deutschland hält – bei Auflösung der Einseitigkeit – im Wesen daran fest. Egon Bahr formulierte zugespitzt »Europa über alles«3. Zu ver-weisen ist in diesem Zusammenhang auf die Annahme des Unionsvertrages von Maastricht; die Währungsunion, eine finanzpolitisch-ökonomische Machtprojek-tion; die Lissabon-Strategie von 2000 und die Annahme des Grundlagenvertrages, der einer sehr differenzierten Bewertung bedarf. Von besonderer Bedeutung sind die nachhaltigen deutschen Aktivitäten zur Ausdehnung der EU auf die Staaten Ost- und Südosteuropas.

Die ökonomische Stärke Deutschlands und sein globales Potential sind in dieser regionalen Integration begründet. Über 70 Prozent der deutschen Außen-wirtschaftsbeziehungen werden seit Jahrzehnten mit EU-Staaten (und Russland) abgewickelt. Für die deutsche Wirtschaft ist damit ein Jahrhundert-Problem fried-lich gelöst, die Schaffung eines ökonomischen Raumes mit über 500 Mio.

Eu-3 Vgl. Bahr, Egon (2000): Deutsche Interessen, Siedler Taschenbuch, Bertelsmann, S. 29.

ropa-Bürgern; ein Beschaffungs- und Absatzmarkt, der wesentliche Wirtschafts-kapazitäten profitabel auslastet und ca. 25-30 Prozent der deutschen Arbeits-plätze sichert.

(3) Durch eine beschleunigte technologische Modernisierungist Deutschland am Anfang des 21. Jahrhundert in allen wesentlichen Technologiebereichen unter den ersten fünf Staaten der Welt. Partner und Konkurrenten sind v. a. Frankreich, Japan, Großbritannien und die USA. Alle anderen Staaten – Russland, China, In-dien, Brasilien usw. – sind auf absehbare Zeit nur in einzelnen Bereichen, nicht aber in der Komplexität und der Breite der zehn zukunftsträchtigsten Felder der Hochtechnologie konkurrenzfähig4. Auch dadurch wurde Deutschland 2001 erste Handelsnation der Welt. Absehbar war, dass diese Position quantitativ nicht halt-bar ist und China hat mittlerweile diesen Platz übernommen. Entscheidend ist, aber die qualitative, die technologische Struktur der Wirtschaft und der Aus-tauschbeziehungen, in der Deutschland einen führenden Platz hat.

(4) Die globale ökonomische ExpansionDeutschlands und die Schaffung stra-tegischer Partnerschaften ab der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Im Mittelpunkt stehen dabei die Großstaaten Eurasiens, der arabische Raum und die USA.

Russland:In diesem Zusammenhang war es in den letzten Jahrzehnten eine vorrangige Aufgabe, die Beziehungen zur östlichen Militär- und wachsenden En-ergie-Großmacht Russland auf neuartige Grundlagen zu stellen. Das ist gelungen.

Schlüsselbegriffe sind dabei die »Strategische Partnerschaft« und ihre Erweite-rung auf eine »ModernisieErweite-rungspartnerschaft«. Dahinter stehen widersprüchliche Traditionen, auf die mit den Stichworten »Bismarcksche Balancepolitik«, »Ra-pallo-Vertrag« und »West-Ost-Politik« verwiesen werden kann. Kurzfristig sind die letztlich kontinuierlichen Aktivitäten der letzten drei Bundesregierungen her-vorzuheben. Von Kanzler Kohl, mit seiner Initiative, Russland in den Kreis der G7 aufzunehmen und russische Sicherheitsinteressen im Zuge der deutschen Ein-heit zu berücksichtigen sowie der Aktivitäten zur Schaffung des NATO-Russland-Kooperationsrates; über Schröders energiepolitische Russland-Politik und die zu-nehmend kritische Haltung zur »abenteuerlichen« USA-Militärpolitik, die in der Ablehnung deutscher Beteiligung am Irak-Krieg gipfelte. Bis hin zu Kanzlerin Merkel, die, wenn auch zögerlich, daran anknüpft und sich entsprechend dem

Schlüsselbegriffe sind dabei die »Strategische Partnerschaft« und ihre Erweite-rung auf eine »ModernisieErweite-rungspartnerschaft«. Dahinter stehen widersprüchliche Traditionen, auf die mit den Stichworten »Bismarcksche Balancepolitik«, »Ra-pallo-Vertrag« und »West-Ost-Politik« verwiesen werden kann. Kurzfristig sind die letztlich kontinuierlichen Aktivitäten der letzten drei Bundesregierungen her-vorzuheben. Von Kanzler Kohl, mit seiner Initiative, Russland in den Kreis der G7 aufzunehmen und russische Sicherheitsinteressen im Zuge der deutschen Ein-heit zu berücksichtigen sowie der Aktivitäten zur Schaffung des NATO-Russland-Kooperationsrates; über Schröders energiepolitische Russland-Politik und die zu-nehmend kritische Haltung zur »abenteuerlichen« USA-Militärpolitik, die in der Ablehnung deutscher Beteiligung am Irak-Krieg gipfelte. Bis hin zu Kanzlerin Merkel, die, wenn auch zögerlich, daran anknüpft und sich entsprechend dem