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Möglichkeiten einer jüdischen Literatur in deutscher Sprache

Die Debatten um die Renaissance der jüdischen Kultur im Allgemeinen sowie die Möglichkeit einer jüdischen Literatur in deutscher Sprache im Besonderen variier-ten nicht nur mit Blick auf eine striktere Auslegung des zionistischen Kultur- und Literaturkonzeptes, das sich an der hebräischen Sprachnorm orientiert, sondern auch in Richtung einer offeneren Auslegung des Konzepts, die die Vielsprachigkeit der jüdischen Literatur nicht bloß als Übergangsphänomen, sondern als ein genui-nes Merkmal erachtete, wodurch die deutschsprachige jüdische Literatur eine grö-ßere Berechtigung erhielt. Während die striktere zionistische Kulturtheorie die jüdi-sche Literatur an die (hebräijüdi-sche) Sprache band, begründete die offenere die Literatur über den ‚Stoff‘. Dies entspricht dem Programm, das der Schriftsteller und Journalist Moritz Goldstein in dem vielbeachteten Aufsatz Deutsch-jüdischer Parnaß (1912) formulierte, der einen Disput auslöste, welcher als ‚Kunstwart-Debatte‘ in die Geschichte eingegangen ist. Schon vorher aber setzte sich Goldstein mit dieser Fra-ge auseinander, zuerst in dem Aufsatz GeistiFra-ge Organisation des Judentums, der 1906 in der kulturzionistischen „Monatsschrift für modernes Judentum“ Ost und West erschienen war. Entsprechend dem Programm dieser aufwändig gestalteten Zeit-schrift, die im Kontext der kulturzionistischen Bewegung seit 1901 in Berlin erschien und mit Aufsätzen, literarischen Beiträgen, Musikbeilagen und Kunstreproduktio-nen u.a. von Achad Ha-am, Alfred Nossig, Ephraim Moses Lilien, Martin Buber, Berthold Feiwel, Adolf Donath, Arno Nadel und Else Lasker-Schüler an der Heraus-bildung neuer Begriffe ‚jüdischer Kunst‘, ‚jüdischer Musik‘ und ‚jüdischer Literatur‘

maßgebend mitgewirkt hatte, machte Goldstein die Bildung einer nationalen

Identi-tät von einer „geistigen Organisation“ des Judentums abhängig. Zu diesem Zweck forderte er eine dezidiert „jüdische Wissenschaft“, eine „jüdische Musik“, eine „jü-dische Kritik“ und als „wichtigstes Kampfmittel“ eine „jü„jü-dische Literatur“ – nun aber in deutscher Sprache, konkret die Bildung „einer Art jüdischer Dichterschule in Deutschland“ (Goldstein 1906, 525).

Goldsteins weitere Überlegungen machen jedoch deutlich, wie widersprüchlich eben dieses Programm einer nationalen jüdischen Kultur in Deutschland innerhalb des Kulturzionismus bleiben musste. Zum einen verschärfte es die „seelische Not des deutschen Juden“, nie „ganz jüdisch oder ganz deutsch zu werden“ (Goldstein 1977, 103). Zum anderen wurde es von der Erfahrung des post-emanzipatorischen Antisemitismus mit seiner Logik der Exklusion alles „Jüdischen“ nachhaltig in Fra-ge Fra-gestellt. An Wagner und Bartels stellte Goldstein exemplarisch fest, dass die Deutschen „uns im Tempel ihrer Kultur als eine Gefahr […] betrachten.“ (Goldstein 1912, 283) Wie können sich angesichts dessen, so Goldstein, die Juden innerhalb der deutschen Kultur noch verorten? Als mögliche Antwort prüfte er zunächst den Lite-raturbegriff der Assimilation, freilich nur, um ihn zurückzuweisen. Den „Herren Poeten, die sich als ‚deutsche Dichter‘ unter dem Weihnachtsbaum photographieren und veröffentlichen lassen“, wirft er die „Naivität“ einer deutsch-jüdischen Symbio-se vor, die er als eine auf tragische WeiSymbio-se einSymbio-seitige und „unglückliche Liebe“ ana-lysiert (Goldstein 1912, 287 und 292; dazu Scholem 1970, 10). Die jüdische Kultur bindet er deshalb an die hebräische Sprache zurück: „Ich komme zu der Erkenntnis, daß die geistige Organisation der deutschen Juden ein Traum ist und daß nur mit Hilfe der hebräischen Sprache und international eine jüdische Kultur zu finden ist.“

(Goldstein 1997, 131)

Der „Zionismus für die Kunst“, die „Wiederbelebung hebräischer Sprache und Poesie“ (Goldstein 1912, 290), bleibt für Goldstein dennoch vorerst nur ein Postulat.

Den kulturzionistischen „Sprung in die neuhebräische Literatur“ erachtet er insbe-sondere für die deutsch-jüdischen Literaten, und damit auch für sich selbst, als letztlich nicht einlösbar: „Wir deutschen Juden […] können ebenso wenig hebräi-sche Dichter werden, wie wir nach Zion auswandern.“ (Goldstein 1912, 290‒291) Stelle man nämlich die „jüdische Nationalliteratur“ unter die Bedingung der jüdi-schen Sprachen, sei es des Hebräijüdi-schen oder des Jiddijüdi-schen, hätten „wir Westeuro-päer freilich nicht mitzureden“ (Goldstein 1913, 2), so Goldstein auch in seinem umfangreichen Essay Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur, der 1913 im Jüdischen Verlag erschien. Er forderte deshalb, und dies ist der Kernpunkt seines Programms, „eine Nationalliteratur zu begründen ohne Nationalsprache“

(Goldstein 1913, 5). Es war dies das Programm eines bewusst „westjüdischen“ oder

„europäischen“ Kulturzionismus, der sich gleichzeitig einerseits vom strikteren neuhebräischen Kulturzionismus wie andererseits vom Assimilationskonzept der Kultur unterschied, wonach „deutsche Werke deutscher Juden zur deutschen Litera-tur und nicht zur jüdischen [gehörten], ungeachtet aller jüdischen Stoffe.“

(Gold-Jüdische Renaissance und Kulturzionismus | 109

stein 1913, 6) Beiden hielt Goldstein entgegen, dass die deutsch-jüdische Literatur nicht über die Sprache, sondern über die „Stoffe“ als „jüdisch“ gelten kann: „Unter den produktiven Juden Deutschlands und Westeuropas hat nun die Behandlung jüdischer Stoffe in jüngster Zeit ungeheuer zugenommen. Einer nach dem anderen setzt sich, mehr oder weniger bestimmt, mit dem Judenproblem auseinander, einer nach dem anderen entdeckt das Judenproblem als sein Problem. Und das ist das letzte und vielleicht wirksamste Palliativ, das ich vorzuschlagen weiß.“ (Goldstein 1912, 293) Wenn Goldstein auf dieser Basis einen „Judenroman“ und ein „Judendra-ma“ forderte, dann zur Selbstbehauptung einer kulturellen jüdischen Identität.

Goldsteins Konzept lässt sich innerhalb seines historischen Kontextes auf zwei Ebenen beurteilen: einerseits theoretisch-konzeptuell, andererseits praktisch. Auf der konzeptuellen Ebene ist sein Programm einer deutschsprachigen jüdischen Nationalliteratur durch die linguistisch begründete Widersprüchlichkeit charakteri-siert, d.h. durch das Auseinanderklaffen von Sprache und Stoff. Auf der anderen Seite aber beschrieb er präzise damit die Praxis einer jüngeren Generation jüdischer Schriftsteller im deutschsprachigen Europa, die eben nicht hebräisch schreiben konnten. Das lässt sich auf beiden Seiten belegen: Die konzeptionelle Debatte ist wesentlicher Teil der sogenannten Kunstwart-Debatte im Anschluss an Goldsteins Deutsch-jüdischer Parnass (vgl. Schoeps u.a. 2002). Goldsteins Programm wurde dabei sowohl aus der Sicht des älteren liberalen und assimilativen Konzepts deutsch-jüdischer Literatur als auch eines konsequent gedachten Zionismus, ganz zu schwei-gen von völkischer Seite, scharf kritisiert. Die Position der Assimilation, die nament-lich Ernst Lissauer, Jakob Loewenberg und Ludwig Geiger vertraten, forderte gegen die Zwischenlösung einer deutschsprachigen jüdischen „Nationalliteratur“, so Lis-sauer: „entweder auswandern; oder: deutsch werden. Dann aber: sich eingraben, einwurzeln mit aller Kraft, mit allen Muskeln sich zum Deutschen erziehen.“ (Lissa-uer 1912, 12; Loewenberg 1912; Geiger 1912; aus der Sicht des Centralvereins Julius Goldstein 1912) Aus zionistischer Perspektive äußerten sich u.a. Cheskel Zwi Klötzel und Ludwig Strauß. Gegen Goldstein wie Lissauer richtete sich Strauß unter dem Pseudonym Franz Quentin, indem er gegen die deutsch-jüdische „Zwitterkultur“

den zionistischen „Übergang zur neuhebräischen Literatur“ einforderte: „Die deut-schen Juden befinden sich in einem Übergang. Ein Teil wird völlig unter den Deut-schen aufgehen, ein Teil wird zum nationalen Judentum zurückfinden. Setzt der Zionismus sein Programm durch, so wird in Palästina ein kulturelles Zentrum für die Judenheit der ganzen Welt geschaffen, dem auch das Geistesleben der deut-schen Juden sich angliedern wird.“ (Strauß 1912, 243‒244) Doch obwohl Strauß bekennt, „diesen Weg zu begehen“, bleibt die Ambivalenz der Sprachenfrage auch für ihn bestehen: „Freilich werde ich wohl stets auch in deutscher Sprache schrei-ben müssen: es wäre lächerlich, das Deutsche, das sich mit uns verwoschrei-ben hat, zu leugnen. Soweit in uns aber das Jüdische überwiegt, müssen wir es bewusst und bestimmt in den Mittelpunkt unseres Lebens und Schaffens stellen, um etwas

Gan-zes zu werden.“ Dann aber, so Strauß, werde auch der Weg von der deutschen zur hebräischen Sprachkultur möglich, womit er sich der Position Bubers anschloss:

„Ich glaube aus guten Gründen, dass die nationaljüdische Bewegung in Deutsch-land früher oder später alle Kraft an die Verbreitung der hebräischen Sprache wen-den wird, wen-denn nur sie wird fähig sein, uns unser Juwen-dentum vollends zur Wirklich-keit zu machen.“ (Strauß 1912, 244)

Goldsteins differenzierende konzeptuelle Überlegungen mussten zwar, wie die historische Debatte zeigt, allen eindeutigen Positionen als unentschlossen und halbherzig und daher letztlich als theoretisch unakzeptabel erscheinen. Sie lag allerdings – wie Strauß‘ persönliche Konsequenz erkennen lässt – nahe an der Sprachpraxis auch und gerade der zionistischen Intellektuellen und Schriftsteller seit 1900 und beschreibt damit einen beträchtlichen Teil jüdischer Literaturproduk-tion in deutscher Sprache von der Jahrhundertwende bis in die Weimarer Republik.

Entstanden ist eine deutschsprachige jüdische Literatur, die sich entschieden jüdi-schen Themen zuwandte, seien sie historisch, religiös oder zeitgeschichtlich-politisch. Markant waren zunächst die belletristischen Autoren, die in einschlägigen Organen wie dem Jüdischen Almanach von 1902 oder der Zeitschrift Ost und West (seit 1901) ausdrücklich zu jüdischen Themen übergingen. Dabei zeigt sich noch einmal der Unterschied zu Herzl, dessen Altneuland als ein nicht weniger markantes Beispiel dafür gelten kann. Am Beispiel eines deutsch-jüdischen Décadent macht der Roman deutlich, dass Emanzipation und Assimilation als Konzepte der jüdi-schen Moderne gescheitert waren, indem sie zu seiner Selbstauflösung führten und den Antisemitismus nicht aufhalten konnten; in Folge dessen war ein ganz neues, utopisches Modell zu denken: die Zukunft der Juden in einem eigenen Staat. Den Kulturzionisten wurde allerdings zum Stein des Anstoßes, dass Herzl dieses künfti-ge „Altneuland“ als durchweg säkulare, fortschrittliche und moderne Musterkünfti-gesell- Mustergesell-schaft imaginierte, die hochtechnisiert und modern-wissenMustergesell-schaftlich, kulturell höchststehend und ökonomisch genossenschaftlich organisiert sein sollte, eine Gesellschaft also, die keineswegs jüdisch, sondern plurikulturell und kosmopoli-tisch, ja transnational und poststaatlich gedacht war. Vor allem deshalb stieß der Roman bei Kulturzionisten wie Achad Ha-am auf scharfe Kritik (Achad Ha-am 1903).

Im Unterschied also zu Herzls unjüdisch-jüdischem Staat konstruierten und restitu-ierten die deutsch-jüdischen Kulturzionisten in der Folge von Achad Ha-am und Buber eine jüdische Kultur in deutscher Sprache, für die nicht nur parteinahe und in diesem Sinn ideologische Schriftsteller wie Berthold Feiwel, Theodor Zlocisti und Felix Theilhaber stehen können, sondern weitgehend unideologische wie Karl Wolfskehl oder Else Lasker-Schüler, die mit ihren Hebräischen Balladen (1913) wie mit ihrer mythisierenden und orientalisierenden Prosa (Die Nächte der Tino von Bagdad, 1907, Der Prinz von Theben, 1914) eine dezidiert literarisch-imaginäre jüdi-sche Renaissance schuf.

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