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Allgemeine Entwicklungen

Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 stand die Ent-wicklung einer Literatur, die sich in einer diskursiven Selbstverständigung nach innen bzw. nach außen mit Bezug auf das Judentum positioniert oder in der direkt oder indirekt Fragen jüdischer Existenz, Tradition und Perspektive behandelt wer-den innerhalb Deutschlands unter wer-den grundlegend veränderten Vorzeichen exis-tenzieller Verfolgung und Ausgrenzung ihrer Verfasser in nahezu allen Bereichen des politischen, sozialen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Lebens. Nach der ersten Massenemigration von 1933 hatten noch etwa 1.700 jüdische Schriftsteller und Intellektuelle die Aufnahmeanträge für den Reichsverband Deutscher Schrift-steller gestellt, dessen Mitgliedschaft Voraussetzung für jede Art der Veröffentli-chung im kulturellen Leben Deutschlands wurde. Namen wie Gertrud Kolmar (1894‒1943), Hans Keilson (1909‒2011), Nelly Sachs (1891‒1970), Jakob Picard (1883‒1967), Rudolf Frank (1886 ‒1979), Martin Beradt (1881‒1949), Arno Nadel (1878‒1943), Ludwig Meidner (1884‒1966), Leo Hirsch (1903‒1943), Max Samter (1908‒1999), Mascha Kaléko (1907‒1975), Ludwig Strauß (1892‒1953), Arthur Eloes-ser (1870‒1938), Franz Hessel (1880‒1941), Hilde Marx (1911‒1986), Arthur Silber-gleit (1881‒1944), Karl Escher (1885‒1972), Gerson Stern (1874‒1956), Herbert Frie-denthal (d.i. Herbert Freeden, 1909‒2003), Martha Wertheimer (1890‒1942), Man-fred Sturmann (1903‒1989), Fritz Rosenthal (d.i. Schalom Ben-Chorin; 1913‒1999), Georg Zivier (1897‒1974) oder Ilse Blumenthal-Weiss (1899‒1987) stehen dabei für viele jüdische Autorinnen und Autoren, die nach 1933 nicht oder zunächst nicht aus Deutschland auswandern konnten oder mochten. Durchaus unterschiedlichen poli-tischen, religiösen und künstlerisch-ästhetischen Anschauungen verpflichtet, sahen sich dabei alle in Deutschland Gebliebenen mit der Frage konfrontiert, ob und wie nach einer gescheiterten Emanzipation und angesichts einer wachsenden existenzi-ellen Bedrohung noch öffentlich gesprochen werden konnte oder sollte. Zogen sie eine Veröffentlichung überhaupt noch in Betracht, die nicht selten auch ihre mate-rielle Existenz zu sichern half, waren sie spätestens seit den Massenausschlüssen von Schriftstellern jüdischer Herkunft aus der Reichsschrifttumskammer im Früh-jahr 1935 auf einen schubweise ghettoisierten und vom deutschen Kulturleben ab-gegrenzten jüdischen Kulturbereich verwiesen – und damit auch in ihrer schriftstel-lerischen Arbeit auf eine Daseinsform, die sie mehrheitlich kaum kannten. Je länger sich die von den Restriktionen Betroffenen dabei dem Korsett nationalsozialistischer

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Kulturpolitik ausgeliefert sahen und je einschneidender dessen Maßnahmen wur-den, desto spürbarer veränderte sich in vielen Fällen der individuelle Blickwinkel.

Nicht selten verschoben sich die in den 1920er Jahren geäußerten künstlerisch-ästhetischen Positionen. Die Nicht-Zionistin Eva G. Reichmann sprach von einem

„geistigen Umbruch in der gesamten Judenheit“ (Reichmann 1974, 46‒47). Ausge-löst durch die historischen Ereignisse verschärfte sich nicht nur das Empfinden, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, sondern ebenso die Notwendigkeit einer Sinngebung jüdischer Existenz. Der äußere Zwang, eine ‚jüdische Kultur‘ zu schaffen, hatte in den folgenden Jahren seine Kehrseite in einem Vorgang, den Arnold Zweig in seiner Schrift Bilanz der deutschen Judenheit auch für die Entwick-lungen im Exil als „Selbstbesinnung auf jüdische Herkunft und jüdische Zukunft“

(Zweig 1934, 305) bezeichnete. Insbesondere innerhalb Deutschlands beinhaltete dies die Suche nach einem positiv formulierten eigenen Selbstverständnis – den Versuch einer Bewahrung und Findung eigener Identität im Moment, da diese von außen vollständig in Frage gestellt war.

Veränderte künstlerisch-ästhetische Konzepte entwickelten sich vor dem Hin-tergrund der in einem (separierten) jüdischen Kulturkreis geführten ‚öffentlichen‘

Debatten um eine spezifisch „jüdische Literatur“, die im Hinblick auf „neue Frage-stellungen oder Formen der Auseinandersetzung mit dem ‚Jüdischen‘ intensiviert, verschärft oder mit neuen Akzenten versehen [hat], was in dieser oder jener Form in der Literatur vor 1933 schon vorgegeben oder zumindest andeutungsweise vorhan-den war“ (Shedletzky 1993, 4). Unter dem Zwang staatlich legitimierter Rassenpoli-tik und Zensur und damit unterschieden vom pluralistischen literarischen Leben der Weimarer Republik, erfassten diese Diskussionen praktisch ein ganzes literarisches Feld und verliehen der Literatur jener Jahre eine charakteristische Prägung. Sie kann heute – neben den literarischen und künstlerischen Arbeiten des Exils – als Beginn einer Literatur und Kunst gelesen werden, die auf die soziale Entrechtung, Ausgrenzung und Ermordung großer Teile des europäischen Judentums reagierte.

Dabei spiegeln die bis 1938 einem begrenzten jüdischen Publikum öffentlich gewordenen Texte häufig nur verdeckt deren äußeres Dasein – einen Alltag von Beschränkungen und Entrechtung, von Demütigungen und Zwangsarbeit. Im Span-nungsfeld von Antisemitismus und Identitätssuche beschreiben sie vielmehr die tiefen Erschütterungen jener Jahre in Darstellungen der inneren Befindlichkeit einer ausgegrenzten und verfolgten Bevölkerungsgruppe oder sie führen vermittelt auf das dem öffentlichen Wort Versagte.

Eine geradezu explosionsartig einsetzende Flut von Gedichten, Romanen, No-vellen, Broschüren und Zeitungsaufsätzen ist für diese Entwicklungen ein denk-würdiger zeit- und literarhistorischer Beleg. Die von Henry Wassermann 1989 vorge-legte Bibliographie des Jüdischen Schrifttums in Deutschland 1933‒1943 verzeichnet allein 1.292 veröffentlichte Buchtitel. Neben etwa 30 jüdischen Verlagen wurden an die 146 jüdische Zeitungen und Zeitschriften (davon 51 Gemeindezeitungen) mit

zum Teil umfangreichen literarischen Beilagen und Auflagenstärken bis zu 55.000 Exemplaren in jenen Jahren zu wichtigen literarischen Foren. Die Aktivitäten der Jüdischen Künstlerhilfe sowie die Gründung des „Kulturbundes Deutscher Juden“

im Sommer 1933 (im April 1935 zwangsweise in „Jüdischer Kulturbund“ umbenannt) eröffneten dem literarischen Schaffen jüdischer Autoren darüber hinaus in einem zunehmend ghettoisierten jüdischen Kulturkreis im nationalsozialistischen Deutschland die Möglichkeit begrenzten öffentlichen Wirkens.

Forschungslage

Eine über Jahrzehnte vorherrschende Ausblendung der kaum marginal zu nennen-den Entwicklungen jüdischer Literatur im NS-Deutschland, die noch immer in kei-ner einschlägigen Geschichte deutschsprachiger Literatur auch nur Erwähnung fin-det, ist Teil der politischen wie kulturellen Nachkriegsentwicklung beider deutscher Staaten und partiell auch der USA und Palästinas bzw. Israels. In den unterschied-lich motivierten, disparaten Haltungen der damals Beteiligten zur öffentunterschied-lichen Wahrnehmung einer jüdischen Kultur im NS-Deutschland verschränkten sich dabei zentrale politische und kulturpolitische Debatten der letzten Kriegs- und Nach-kriegsjahre um Exil und Innere Emigration, um die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die Verantwortung an den Verbrechen des Krieges, um politische und kulturelle Traditionsbildungen sowie um Ansätze einer politischen, kulturellen und literarischen Neuorientierung. Rückblickend offenbaren sich jedoch vor allem die nicht geführten Debatten und blinden Flecken in einem gesellschaftlichen Erinne-rungsdiskurs. Zerrieben zwischen konträren politischen, kulturpolitischen wie künst-lerisch-ästhetischen Interessen und mit einem noch immer virulenten Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland konfrontiert, fiel das literarische und künstlerische Schaf-fen der nach 1933 in Deutschland gebliebenen Schriftsteller, Künstler und Intellektuel-len jüdischer Herkunft zunächst durch alle Raster (vgl. Schoor 2010, 11‒36).

Durch nationale und internationale Forschungen wurden bis in die Gegenwart Dokumentationen und Geschichtsdarstellungen zu Verfolgung, Vertreibung und schließlich zur Vernichtung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, Arbeiten über den Antisemitismus, zum Leben der Juden unter nationalsozialistischer Herr-schaft, zu deren Kampf um Selbstbehauptung und Widerstand in größerem Umfang vorgelegt (Simon 1959; Weltsch 1963; Adler-Rudel 1974; Kwiet und Eschwege 1984;

Benz 1988; Gruner 1995, 1996, 2005 u.a.). Verstärkt seit Ende der 1970er Jahre er-schienen Bibliographien (Stern 1970, Wassermann 1989; Heuer 1981‒1996 u.a.), materialreiche Studien und Überblicksdarstellungen zu Institutionen sowie den weiteren Rahmenbedingungen literarischer Produktion und kultureller Aktivitäten der Juden in Deutschland nach 1933, speziell zum „Jüdischen Kulturbund“ und dessen Theater, zu Verlagen und Presse (Edelheim-Mühsam 1956; Freeden 1956, 1963, 1964, 1983, 1986, 1987, 1993 u.a.; Dahm 1979, 1989 und 1993; Belke 1983;

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sel 1988, 1992; Ausstellungskatalog: Geschlossene Vorstellung 1992; Geisel und Broder 1992 u.a.). Insbesondere Volker Dahm leistete 1979 mit seiner Untersuchung über die Ausschaltung jüdischer Autoren, Verleger und Buchhändler und Salman Schocken und seinen Verlag sowie seinem 1988 veröffentlichten Beitrag zum Kultu-rellen und geistigen Leben in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Band über Die Juden in Deutschland 1933‒1945 einen entscheidenden Schritt zur Aufarbeitung dieses Abschnitts literaturgeschichtlicher Entwicklung in Deutschland. Richtete die historische Forschung seit den 1980er Jahren ihre Aufmerksamkeit zunehmend auch auf das innerjüdische Leben (u.a. Richarz 1982; Ginzel 1984; Rosenstrauch 1988; Kaplan 1993), ließ die Literaturwissenschaft diese Perspektive in Bezug auf die Analysen literarischer Texte zunächst noch weitgehend unbeachtet. Interpretatori-sche Arbeiten über Ludwig Strauß von Hans-Peter Bayerdörfer (1982/1995) und später Hans Otto Horch (1994 u.a.), Ruth Dinesens Buch über Frühe Gedichte und Prosa der Nelly Sachs (1987) oder Silvia Schlenstedts vergleichsweise frühe Sicht auf die Dichterin Gertrud Kolmar im Kontext der Kulturarbeit deutscher Juden nach 1933 in Deutschland (1989) stehen exemplarisch für einen sich in den 1980er Jahren ab-zeichnenden und sich schließlich in den 1990er Jahren durchsetzenden Perspekti-venwechsel auch in literaturwissenschaftlicher Forschung. 1993 differenzierte Ernst Loewy in seinem Aufsatz Zum Paradigmenwandel in der Exilliteraturforschung be-reits überraschend selbstverständlich literarhistorische Entwicklungen der Jahre nach 1933, indem er den allgemeinen Entwicklungen deutschsprachiger Literatur der 1930er und 1940er Jahre eine Darstellung der literarischen Kultur deutscher Juden im nationalsozialistischen Deutschland als einen weiteren Teilbereich gleich-berechtigt zur Seite stellte. Er kennzeichnete diesen darüber hinaus als nach außen hin nicht so abgeschlossen, wie es die damals noch vergleichsweise streng getrenn-ten Forschungen zu zeitgleichen Entwicklungen in der Exil- und in der innerdeut-schen Literatur nach 1933 suggerieren konnten. Markiert wurde damit in den frühen 1990er Jahren eine Leerstelle wie ein notwendiges Feld künftiger Forschungen, das auch mit jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten bislang eher eröffnet als erschlossen werden konnte. Noch 1997 resümierte Saul Friedländer in seinem Buch über Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution, 1933‒1939, dass man in vielen wis-senschaftlichen Darstellungen „die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer gene-rellen Hoffnungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern“, diese „in ein stati-sches und abstraktes Element des historischen Hintergrundes verwandelt“ habe (Friedländer 2000, 12). Vor diesem Hintergrund gewannen auch die Texte jüdischer Autoren kaum an Kontur, denen man zudem undifferenziert – und vielfach ohne Kenntnis der noch immer unzureichend erschlossenen Quellentexte – mangelnden literaturhistorischen Rang oder fehlende künstlerisch-ästhetische Bedeutsamkeit unterstellte. Die auffällig späte Entdeckung des literarischen Werks von Gertrud Kolmar, einer der bedeutendsten Dichterinnen jener Jahre, sowie dessen mehr als wechselhafte Publikationsgeschichte erscheinen in dieser Hinsicht exemplarisch

(Jäger 1998; Nörtemann 2003, Bd. 3, 57‒89; 2005, 199‒215). Bereits die 1992 eröffnete Ausstellung Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933‒1941 in der Akademie der Künste in Berlin sowie die 1995 überraschend erfolg-reiche Herausgabe der Tagebücher des Romanisten Viktor Klemperer („Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher 1933‒1945) im Berliner Aufbau-Verlag hatte dagegen in den 1990er Jahren das gewachsene Interesse einer breiteren Öf-fentlichkeit an der Wahrnehmung der Judenverfolgung auch aus der Perspektive der Verfolgten signalisiert. Insbesondere die literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Kolmar-Forschung sowie die umfassenden Untersuchungen von Saskia Schreu-der (2002), Kerstin Schoor (1998‒2014, 2010), Friedrich Voit (1998, 2005), Hans Otto Horch (2012, 2010) und anderen reagierten zudem im letzten Jahrzehnt verstärkt auf die Beobachtung, dass „bedeutende Forschungsergebnisse zur antisemitischen Literaturpolitik des NS-Regimes einerseits und zur verlegerischen Tätigkeit von Juden im Deutschland der 1930er Jahre andererseits“ zwar vorlagen, die Untersu-chungen diese Texte jedoch „ausschließlich als Verlagsprodukte [berücksichtigten], ohne deren literarischen Sachgehalt zu würdigen“ (Schreuder 2002, 2). Sie lassen die verfolgten Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen jüdischer Herkunft nun auch als Träger und Akteure einer literarischen Kultur sui generis sichtbar werden – in dem Bewusstsein, dass dieser Kultur engste zeitliche, politische und inhaltliche Grenzen gesetzt waren und die jüdische Literatur im nationalsozialistischen Deutschland alles andere als autonom war.