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Anfänge des Zionismus in Europa

Diese elementare und flächendeckende Infragestellung der rechtlichen, gesell-schaftlichen und kulturellen Integration der Juden führte auf jüdischer Seite zu zwei Reaktionen: Die einen gingen auf die Forderung der verstärkten Assimilation ein und glaubten, dem Antisemitismus auf diese Weise den Grund entziehen zu kön-nen, wofür in Deutschland neben dem 1893 gegründeten Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens etwa Walter Rathenau mit seinem Aufruf Höre, Israel! (1897) sowie die Philosophen Hermann Cohen und Constantin Brunner be-sonders prominente Beispiele waren (vgl. Kilcher 2014).

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Die zweite Antwort ging genau in die Gegenrichtung: Sie bestand darin, das Projekt des liberalen Judentums zu verabschieden und nicht mehr auf Assimilation, sondern auf Dissimilation zu setzen. Diese weitreichende Wende zeigt sich sympto-matisch am Begriff der ‚Selbstemanzipation‘, den der russische Arzt und Journalist Leon Pinsker in seiner anonym in Berlin in deutscher Sprache erschienenen Schrift Auto-Emanzipation (1882) geprägt hat. Pinsker selbst vollzog 1881 unter dem Ein-druck der Pogrome eben diese Wende von der Befürwortung hin zur Überwindung der Assimilation. In seinem Essay mit dem Untertitel Mahnruf an seine Stammesge-nossen von einem russischen Juden plädierte er für eine „Wiedergeburt der jüdischen Nation“: „Die bürgerliche und politische Gleichstellung der Juden genügt nicht, sie in der Achtung der Völker zu heben. Das rechte, das einzige Mittel wäre die Schaf-fung einer jüdischen Nationalität, eines Volkes auf eigenem Grund und Boden, die Autoemancipation der Juden […].“ (Pinsker 1882, 35) Pinskers „Mahnruf“ wurde die Leitschrift der frühzionistischen Chibbat Zion-Bewegung (vgl. Schoeps 2005), wobei u.a. in Odessa nationaljüdische Vereine entstanden sowie im polnischen Kattowitz im November 1884 eine erste nationaljüdische Konferenz zustande kam. (Gelber 1919; Kohn 1920/21)

Die neuen Stichworte ‚Selbstemanzipation‘ und ‚Wiedergeburt‘ gewannen in den folgenden Jahren auch in Westeuropa an Profil. Nathan Birnbaum griff sie in seiner in Wien erscheinenden Zeitschrift Selbst-Emancipation (1885‒1893) pro-grammatisch auf, die eben jene Wende unterstrich: weg von der „selbstmörderi-schen“ „Assimilerei“ (Birnbaum 1885, 2), der „Assimilationssucht“ (Birnbaum 1884), hin zu „erlösender“ „nationaler Selbsthilfe“ (Birnbaum 1885, 1), hin zur Nati-onalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, so der Titel eines pro-grammatischen Essays von 1893 mit dem Untertitel „Als Mittel zur Lösung der Ju-denfrage“: „Möchten doch endlich alle Nationen die Eitelkeit ablegen, um jeden Preis das belanglose Bekenntnis des Deutschtums, Slawentums u.s.w. von uns zu fordern; möchten sie uns doch als ihre Brüder jüdischer Nation in ihre Reihen auf-nehmen.“ (Birnbaum 1910, Bd. 1, 16) Zu einer analogen Einschätzung kam in dieser frühzionistischen Phase in Deutschland unter anderem auch Heinrich Loewe. Be-reits als Student in Berlin hatte er in Artikeln wie Antisemitismus und Zionismus (1884) als Antwort auf die „deutsche Judenfrage“ die Behauptung eines „gesunden jüdischen Selbstbewusstseins“ und darauf bauend die Bildung einer dezidiert „jüdi-schen Nation“ gefordert (Loewe 1884, 14). In diesem Zusammenhang wurde er Mitbe-gründer mehrerer Zeitschriften und Vereine wie des Russisch-jüdisch wissenschaft-lichen Vereins (1889), des Vereins zur Pflege der hebräischen Sprache, Chowewe Sefat Ewer (1891), von Jung-Israel (1892), der Vereinigung Jüdischer Studierender VjSt (1895) und der Berliner Zionistischen Vereinigung (1898) (vgl. Eloni 1987). Als Theo-dor Herzl 1896 mit seiner Programmschrift Der Judenstaat auftrat, war der Zionis-mus auch in Deutschland bereits als erkennbare Alternative der Jüdischen Moderne ausformuliert, um den Titel eines weiteren einschlägigen Vortrags von Nathan Birn-baum zu zitieren, der 1896 im Druck erschien. Wie BirnBirn-baum präsentierte Herzl

seine Schrift als Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Dabei konzentrierte er sich auf den politischen und ökonomischen Aspekt der zionistischen Idee, um mit dieser Ausrichtung auch den ersten Zionistenkongress vorzubereiten, der im August 1897 in Basel stattfand und (u.a. auch mit der Gründung der Zionistischen Weltorganisation) der Idee des Zionismus erstmals eine erkennbare institutionelle Form und eine internationale Plattform gab.

Kulturzionismus

Es geht in diesem Beitrag nicht darum, die Geschichte des politischen Zionismus darzustellen, sondern vielmehr darum zu zeigen, welche Rolle dabei Kultur, Spra-che, Wissenschaft und insbesondere die Literatur spielten, und dies wiederum mit Blick auf die deutsch-jüdische Literatur, die unter diesen Vorzeichen ebenso umge-deutet werden musste wie das Projekt ‚Jüdische Moderne‘ allgemein.

In der politischen Begründung des Zionismus hatte die Literatur zunächst im Allgemeinen eine untergeordnete Bedeutung. Das zeigt sich symptomatisch daran, dass sich Herzl den künftigen Judenstaat als wesentlich europäisch kulturalisiert und kosmopolitisch vorstellte: vielsprachig, säkular, keineswegs aber als ‚jüdisch‘

oder ‚neuhebräisch‘. Herzl ging es nicht um eine Erneuerung des Judentums, seiner Sprache und Kultur, sondern vielmehr um eine „moderne Lösung der Judenfrage“, um einen Ausweg aus der Verfolgungsgeschichte nach dem Muster des europäi-schen Nationalstaatsgedankens. Dennoch erhielt die Literatur auch bei Herzl einen nicht unerheblichen Stellenwert: Sie sollte eine didaktisch-moralisch-politische Funktion übernehmen und in ihren dramatischen, narrativen und gleichnishaften Formen die Möglichkeit des künftigen Staates entwerfen und durchspielen. Tatsäch-lich stellte Herzl selbst in „philosophischen Erzählungen“ wie Das lenkbare Luft-schiff (1896) sowie insbesondere in seinem Zukunftsroman Altneuland (1902) das literarische Schreiben mit in den Dienst des zionistischen Projekts, indem es einmal gleichnishaft, einmal utopisch den Weg aus der gescheiterten europäisch-jüdischen Moderne in eine neue zionistische Zukunft aufzeigt und damit die Möglichkeiten der zionistischen Idee durchspielt.

Gleichwohl haben Kultur und Literatur im politischen Projekt des durch Kon-gresse und Vereinigungen institutionalisierten Zionismus eine marginale Stellung.

Die um 1900 explodierende ‚Literatur‘ des Zionismus ist vielmehr pragmatisch-publizistisch, feuilletonistisch. Das offensichtliche Fehlen von im eigentlichen Sin-ne kulturellen Perspektiven haben nicht wenige, insbesondere auch deutsch-jüdische Intellektuelle wie namentlich der junge Martin Buber bald nach den ersten Kongressen kritisiert. Dabei beriefen sie sich auf das Korrektiv des politischen durch einen „geistigen“ Zionismus, das Ascher Ginsberg alias Achad Ha-am bereits um 1895 in Odessa im Umkreis der Chibat-Zion-Bewegung eingefordert hatte. Die „Zionsliebe“

deutete Achad Ha-am entschieden kulturalistisch: Er war der Überzeugung, „dass

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die Befreiung unseres Geistes unserer nationalen Befreiung vorangehen müsse“

(Achad Ha-am 1923, Bd. 1, 1), oder folgerte: „Die für die Konzentration des Volkes in Zion notwendige Vorbereitungsarbeit besteht also in der Konzentration des Volks-geistes auf die Liebe zu Zion.“ (Achad Ha-am 1923, Bd. 1, 14) Konkret bedeutete dies die Forderung erstens der „Renaissance“ des Hebräischen als der genuin jüdischen Sprache, der Renaissance sodann des jüdischen Wissens überhaupt, das Achad Ha-am in dem Projekt einer „jüdischen Enzyklopädie in hebräischer Sprache“ skizzier-te, sowie der Renaissance einer Neuhebräischen Literatur, die um 1900 besonders in Odessa Gestalt annahm. Daran wirkte seit 1900 u.a. auch Achad Ha-ams Schüler, der neuhebräische Schriftsteller Chaim Nachman Bialik, wesentlich mit, insbeson-dere mit seinem Projekt eines neuen „Kanons“. In seinem Aufsatz Das hebräische Buch, der 1913 in der hebräischen Zeitschrift Ha-Shiloach und 1919 auch in deutscher Sprache erschien, forderte er „gegen die historische Plage der Vielsprachigkeit der jüdischen Literatur“ für „unser bücherliebendes Volk“ die Rückführung der europä-isch-jüdischen Diaspora-Literatur in „ihre Urheimat“ des hebräischen Buches. (Bia-lik 1919, 31‒32) Als Mittel dazu schlägt er die Neuschaffung eben jenes hebräischen Kanons (Chatima) vor, gewissermaßen ein „neuer Talmud“, in dem die althebräi-sche Literatur neu ediert sowie die neuzeitliche, in europäialthebräi-schen Sprachen ge-schriebene jüdische Literatur ins Hebräische übersetzt werden sollte. Im Begriff des

„hebräischen Buches“ wird die jüdische Literatur also an das Hebräische zurückge-bunden und einer gemeinschafts- und traditionsstiftenden Funktion unterstellt.

„Wiederum werden den Bücherschrank des gebildeten Hebräers viele ansehnliche Bände schmücken, ein neuer Talmud, die Essenz des jüdischen Gedankens und Gefühls aller Zeiten enthaltend. Das hebräische Buch bekommt seinen früheren Glanz, das jüdische Herz kehrt zum Urquell zurück, das Band zwischen dem jüdi-schen Denken und dem jüdijüdi-schen Schrifttum wird erneut.“ (Bialik 1919, 29)