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Demokratische Fraktion

Achad Ha-am, der 1903 durch Nathan Birnbaum mit der kleinen Monographie Achad ha-am. Ein Denker und Kämpfer der jüdischen Renaissance vorgestellt und dessen Schriften seit der Jahrhundertwende übersetzt wurden, war ein wesentlicher Stichwortgeber eines „geistigen“ bzw. kulturellen Zionismus auch im deutschspra-chigen Europa nach 1900, der wie Birnbaum die Rolle von Sprache, Wissenschaft und Literatur gegenüber der politischen Aufgabe priorisierte. Dieses „kulturzionisti-sche“ Programm wurde zum inhaltlichen Schwerpunkt der sogenannten „Demokra-tischen Zionis„Demokra-tischen Fraktion“, die sich im unmittelbaren Vorfeld des Ende De-zember 1901 in Basel stattfindenden fünften Zionistenkongresses gebildet hatte. Als eine jüngere Generation von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern, unter ihnen Martin Buber, Berthold Feiwel, Adolph Donath und Ephraim Moses Lilien, stellte sie sich kritisch gegen den politischen Zionismus Herzls sowie insbesondere

Max Nordaus. Im Protokoll des Kongresses lässt sich die Debatte nachlesen: Wäh-rend Nordau am 27. Dezember 1901 positivistisch Wissenschaft, Statistik, Fakten und Zahlen über den jüdischen „Volkskörper“ forderte (Protokoll 1901, 100), die

„geistige Hebung“ des Judentums jedoch als „leere Redensart“ und „Phantasien“

abtat (Protokoll 1901, 114‒115) und gegen Achad Ha-am polemisierte, wandte sich Buber in seinem Referat über Jüdische Kunst am gleichen Tag offen gegen Nordaus These. In der Kunst sah er nicht nur die Möglichkeit einer „jüdischen Volkscultur“, ein „Mittel zur Erziehung“ (Protokoll 1901, 151‒152), sondern die Entfaltung eines gemeinsamen „Tätigen“ auf einem gemeinsamen „Boden“: „Unsere Kunst wird […]

uns Zionisten erziehen. Denn die tiefsten Geheimnisse unserer Volksseele, das gros-se Mysterium des Jeschurun wird in ihr offenbar werden […]. Eine wunderbare Ver-tiefung und Verinnerlichung des Zionismus erwarte ich von der jüdischen Kunst.“

(Protokoll 1901, 157) Das erwartete Buber konkreter von den einzelnen Künsten, insbesondere von der bildenden Kunst, die auf dem Kongress mit Ausstellungen und der Anwesenheit u.a. von Ephraim Moses Lilien eine besondere Aufmerksam-keit erhielt. Aber auch die „Dichtung“ sah Buber in der zionistischen Pflicht. Aller-dings ergab sich bei ihr ein Problem, das die Debatten über die deutsch-jüdische Literatur bis um 1933 bestimmte: Anders als für die Bildsprache der Kunst ist bei ihr die Sprache national festgelegt. Dies eben wirft die zentrale Frage der Möglichkeit einer jüdischen Dichtung in deutscher Sprache überhaupt auf:

Die Dichtung entfaltet sich in drei grossen Zweigen: In der hebräischen Moderne, in der Jar-gonpoesie und in der Dichtung in fremden Sprachen. In dieser Dreitheilung drückt sich die ganze Zerrissenheit des heutigen Judenthums aus; hinter dieser Verschiedenheit der Sprachen ist etwas wie eine Zerspaltung der Seele. Und doch liegt wieder ein seltener Reichthum darin […]. Freilich ist es kein heimatlicher Reichtum, nicht der Reichthum des friedlich Gesegneten, in Ruhe Geniessenden, sondern es ist ein Reichthum des Hazard, ein Reichthum der Wander-schaft, der Reichthum eines Königs in der Verbannung. (Protokoll 1901, 166)

Mehr noch: Buber hält „die jüdische Dichtung in nichtjüdischer Sprache für etwas Anormales, Tragisches, beinahe für eine Krankheit.“ (Protokoll 1901, 166) Dennoch erkennt er gerade in dieser „kranken Dichtung“ eine „eigenthümliche Schönheit“, dergestalt sogar, „dass ich sie für eine den anderen Formen ebenbürtige Macht hal-te, dass ich ihrer Entwicklung mit freudiger Hoffnung entgegensehe.“ (Protokoll 1901) Bubers Rede beurteilt die Möglichkeit einer jüdischen Dichtung in deutscher Sprache unter den Vorzeichen des Zionismus damit höchst ambivalent – und das ist kennzeichnend für die Haltung gegenüber der deutsch-jüdischen Literatur im zio-nistischen Kontext bis in die Weimarer Republik: Einerseits postuliert der Zionismus die neue Norm der hebräischsprachigen Literatur, andererseits kann sie die europä-ischsprachigen Literaturen nicht einfach ignorieren, sondern muss diese, zumindest als Übergangsphänomen zu einer neuhebräischen Kultur, in das zionistische Litera-turkonzept integrieren. Das ist Bubers Vorschlag, den er im abschließenden Teil seiner Rede zugleich mit dem Antrag auf Unterstützung des eben gegründeten

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schen Verlags unterstrich, den er als das „jüdische Haus“ bewarb, in das „jüdische Kunst getragen wird, jüdische Musik, jüdische Bilder, jüdische Lectüre“ (Protokoll 1901, 167).

Dies war im Übrigen nicht allein Bubers Vorschlag, sondern derjenige der „De-mokratisch-Zionistischen Fraktion“ insgesamt. Im Juni 1902 stellte sie sich in Hei-delberg mit dem Programm und Organisations-Statut der Demokratisch-Zionistischen Fraktion (1902) vor, das ebenfalls an Achad Ha-am anschließt, wonach sich die zio-nistische Arbeit eben nicht im Politischen erschöpfen dürfe, sondern wesentlich auch die „national-kulturelle Thätigkeit“ umfassen müsse. Das Programm ist von derselben Ambivalenz wie Bubers Rede geprägt: Zwar sei diese Tätigkeit „stets als Synthese zwischen jüdischem Geist und allgemeiner Kultur aufzufassen“, dennoch seien „von besonderer Bedeutung“

diejenigen Arbeiten […], welche unmittelbar zur Förderung des geistigen Niveaus führen. […]

1. Die Erlernung der hebräischen Sprache. 2. Das Studium der jüdischen Geschichte. 3. Die För-derung der hebräischen Nationallitteratur. 4. Die FörFör-derung der jüdisch-nationalen Litteratur in jüdisch-deutschem Dialekte und in den verschiedenen europäischen Kultursprachen […].

(Programm 1902, 16)

Auch damit gewann die Position des deutschsprachigen Kulturzionismus weiter an Kontur: Im Unterschied zu den russischen Kollegen, die die hebräische Sprache klar priorisierten und eine neue hebräische Verlags- und Buchkultur begründeten, tat dies der deutsche Kulturzionismus durch eine nationaljüdische Kunst und Literatur in deutscher Sprache mit einem deutschen Verlag und deutschen Zeitschriften. Die ersten Bücher des Jüdischen Verlags setzten dieses Programm mit dem Selbstbe-wusstsein moderner jüdischer Buchkunst konsequent um, namentlich der von Bert-hold Feiwel herausgegebene Jüdische Almanach auf das Jahr 5663 (1902) sowie der von Buber herausgegebene umfangreiche Band Jüdische Künstler (1903).

In den folgenden Jahren wurde dieses Argumentationsmuster vielfach weiter-entwickelt und in Abschattungen variiert. Geschichtsphilosophisch erweitert, ar-gumentierte beispielsweise der aus dem polnischen Lemberg stammende, in Zürich promovierte und in Berlin wirkende zionistische Sozialwissenschaftler, Schriftstel-ler und Bildhauer Alfred Nossig in Moderne jüdische Dichtung (1907); Nossig legte 1887 unter dem Titel Proba rozwiazania kwestji zydowskiej („Versuch zur Lösung der jüdischen Frage“) die erste zionistische Schrift in Polen vor und stellte auf dem Fünften Zionistenkongress Skulpturen aus. Auf der einen Seite akzeptierte auch er die Mehrsprachigkeit als Charakteristik der jüdischen Literatur, wobei er vor allem die „jungjüdischen Dichter“ im Berlin seiner Zeit hervorhob, darunter neben Buber Berthold Feiwel, Adolf Donath und Theodor Zlocisti: „Vergebens würden wir uns nach einer anderen literarisch tätigen Nation umsehen, deren Harfe so viele Saiten aufweist und in so zahlreichen Idiomen erklingt. In sämtlichen germanischen, sla-vischen, romanischen Sprachen, ungarisch und arabisch dichten heute die Juden.“

(Nossig 1907, 2) Dennoch hielt er dagegen die Literatur in den jüdischen „National-sprachen“, primär der hebräischen, wobei er eine temporale Achse in die Argumen-tation einzog: Im Verhältnis zu ihr erachtet er alle anderen jüdischen Literaturen als bloße „Einübung“ und „Verheißung“, während der hebräischen Literatur allein die künftige „Erfüllung“ zukomme. Die „Fülle“ und „Vielsprachigkeit“ der jüdischen Literatur wird in der zionistischen Moderne dergestalt einer „Verjüngung“ unterzo-gen: einer Rückführung auf ihre „Originalität“, die in der hebräischen Sprache al-lein garantiert ist. (Nossig 1907, 4) Die Literatur der „deutschschreibenden Juden“

ist demnach weder ursprünglich noch zukunftsfähig, sondern eine vorübergehende Expansion der jüdischen Literatur, die – so Nossig dennoch bewundernd – nament-lich in der Berliner Moderne „fast den ganzen äußeren Apparat der Dichtung, das Theaterwesen und die Kritik“ bestimmt. (Nossig 1907, 7)

Bemerkenswert ist auch die Etablierung eines eigenen – und prominent besetz-ten – zionistischen Kulturfonds als Paralleleinrichtung des Nationalfonds; im Direk-torium waren neben dem Vorsitzenden Moses Farbstein u.a. Schmarja Levin, Na-hum Sokolow, Menachem Ussischkin und Chaim Weizmann. Anlässlich seiner Begründung 1914 in Berlin wurden die kulturzionistischen Argumente noch einmal systematisiert, wobei sie weniger der deutsch-jüdischen als der strikteren Ausle-gung nahe standen, wie aus programmatischen Texten in der Welt und in der Schrift Jüdische Kulturarbeit ersichtlich wird. Das Programm der „Renaissance des jüdi-schen Geistes im Vaterlande“ (Feldstein 1914, 512) ist hier kulturzionistisch begrün-det, aber institutionell gedacht: Wenn der nationalen eine kulturelle Sammeltätig-keit an die Seite gestellt wird, dann analog dem jüdischen Nationalfonds ein jüdischer Kulturfonds: „Wie der Nationalfonds ein ewiger Besitz des jüdischen Vol-kes für wirtschaftliche Leistungen ist, so ist der Kulturfonds ‚Kedem‘ dazu bestimmt, ein ewiges Gut unserer Nation für ihre kulturellen Bedürfnisse zu sein, die sichere, dauerhafte, materielle Basis und die Zentralstelle für ihre Geisteswerke zu bilden“

(Feldstein 1914). Konkret geht es dabei um Institutionen im Jischuw – und nicht etwa in Deutschland: um Lehrbücher, eine „hebräische Sprachakademie“ und, als größtes Projekt, eine jüdische Nationalbibliothek, die sich zionistisch begründen ließ: „Können wir auch nicht alle Zerstreuten Israels im Lande der Väter sammeln, aber die zerstreuten Bücher Israels, die überall herumgetragenen Gedanken des hebräischen Geistes zu sammeln, dazu sind wir imstande, und diesen Gedanken, der Gründung einer hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem, hat sich der Ke-dem zu eigen gemacht.“ (Anonymus 1914, 14)

Mit diesem Programm stimmte im Übrigen insbesondere auch der schon ge-nannte Heinrich Loewe überein, der im ‚Kedem‘ ebenfalls aktiv war. Seit seinem Engagement im Verein Chowewe Sefat Ewer (1891) propagierte er die Sprache als entscheidendes kulturelles Kriterium nationaler Identität, wie er bereits 1895 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Zion ausführte: Ihm erscheinen „‚Nation‘ und

‚ererbte Sprachgenossenschaft‘ […] deshalb identisch, weil die Sprache das äußere

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Verständigungsmittel ist, das den Nationen zum Ausdruck der Gedanken dient […].

Die Sprache ist das Bindemittel, um die geistige Gemeinschaft aller Glieder einer Nation […] dauernd zu erhalten.“ (Loewe 1895, 33) In seiner Monographie Die Spra-chen der Juden (1911) erweiterte Loewe die These der Sprache als dem „Band […], welches alle Glieder einer Nation zu einer geistigen Gemeinschaft verknüpft“, womit er das Hebräische meinte: Sie „ist die Sprache des freien Judenvolkes. […] Die schwere Krankheit unseres leidenden Volkes […] ist […] das Galut. Und nur durch das Hebräische werden wir gesunden.“ (Loewe 1911, 145) Analog argumentierte Loewe, der selbst Bibliothekar war, mit dem Vorschlag der Gründung einer jüdi-schen Nationalbibliothek, den er auf dem Siebten Zionistenkongress im Juli 1905 in Basel vorlegte und zugleich in dem Essay Eine jüdische Nationalbibliothek (1905) weiter ausführte. Vergleichbar mit den kulturzionistischen Großprojekten ‚geistiger Sammlung‘ wie Achad Ha-ams jüdische Enzyklopädie oder Bialiks neuhebräischem Kanon verstand auch Loewe – wie später der ‚Kedem‘ – die Errichtung einer jüdi-schen Nationalbibliothek als geistige Sammlung, die der politijüdi-schen vorangehen müsse.