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Literarische Muster und historische Realität

Im Dokument Unter den Händen der Barbaren (Seite 134-138)

5. Die erste Erzählung von indianischer Gefangenschaft deutsch-

5.3.2 Literarische Muster und historische Realität

Die Schilderung des Überfalls beginnt mit einer Szene, die Frieden und Normalität evoziert: le Roys Knecht beginnt früh morgens damit, die Kühe zum Melken von der Weide zu holen. Das pastorale Bild wird durch Gewehrschüsse zunächst gestört und noch im gleichen Satz durch die detaillierte Schilderung des Überfalls zunichte ge-macht:

Er [le Roys Knecht] hörte erst die Indianer 6 mahl schiessen, und bald darauf kamen 8 Indianer zu ihrem Hause, welche zuerst der le Roy ihren Vater mit der Tamehacke erschlugen und hernach mit ihrem Bruder eine lange Zeit gefochten; endlich nachdem sie seiner mächtig geworden, haben sie ihn, nebst der Marie le Roy, und einem kleinen Mägdchen, welches sich damahls in ihrem Haus aufhielt, gefangen genommen: alsdann packten sie alles auf was ihnen in le Roys Hause anstund, trugen es heraus und zündeten das Hauß an. Sie legten in dieses Feuer ihren Vater mit den Füssen und verbranten ihn halb, und liessen ihn mit den zwey Tamahacks, die sie tief in seinen Kopf eingehauen

448 Colonial Records of Pennsylvania 6:656-59.

449 Colonial Records of Pennsylvania 6:650-60. Mühlenberg übte Kritik an den Milizen. Er glaubte, darüber würden die Männer Arbeit und Familie langfristig im Stich lassen, mit vorhersehbaren wirt-schaftlichen Folgen: „Das Land wird darüber arm und von Tage zu Tage verwirrter. Kurtz es sind ge-fährliche Zeiten und verwirrte Umstände in Pennsylvania.“ Aland, Korrespondenz 2:262.

hatten, liegen. Hierauf machten sie noch ein Feur nicht weit vom Hause und lagerten sich an demselben.450

Die nüchterne, sich auf Fakten beschränkende Wiedergabe der Ereignisse ist für cap-tivity narratives aus der Zeit des Französisch-Indianischen Krieges eher unge-wöhnlich, wie ein Vergleich mit dem in der Erzählung William Flemings beschrie-benen Mord an dem Mitgefangenen Hicks zeigt:

I saw him however seized by the Indian who was with Capt. Jacob, whose Name was Jim, who with remorseless Cruelty gave him a Blow with the Back of his Tomahawk which stunn’d him; but before he fell, another was repeated in the same Manner, which brought him to the Ground, where he lay some Minutes motionless: The inhuman Wretch stood over him, in order to discover if any Signs of Life remain’d, and upon finding him stir, and put up his Hand to his Face to wipe off the Blood which quite blinded him, took up the same Tomahawk that had brought him thus near his End, and with one fatal Blow sunk it in his Skull. This tragical Scene renewed their Sport, they affecting to imitate his expiring Agonies: There remained nothing now to compleat their inhuman Barbarity but to scalp him, which was done almost in an Instant. [...] The cruel Monsters all over besmeared with Blood advanced towards me, and told me with an Air of Insult, nothing but my good Behavior for the future, should save me from the same Treatment; [...].451

Der unvermittelte Stimmungswechsel der Szene lässt sich mit der Eingangssequenz der Erzählung Mary Rowlandsons vergleichen, obwohl letztere durch genau beob-achtete Details und emotional und religiös motivierte Einschübe wesentlich umfang-reicher ist.452 Während Rowlandson sich gleich beim Angriff auf ihr eigenes Heim als erzählendes Ich zu erkennen gibt, ist die Geschichte von le Roy und Leininger zu-nächst aus der Perspektive der dritten Person erzählt. Erst am zweiten Tag der Ge-fangenschaft wechselt die Erzählperspektive in die erste Person Plural. Individuelle Erlebnisse eines der beiden Mädchen werden nicht aus der Ich-Perspektive, sondern in der dritten Person geschildert:

Im Februario hate die Barbara Leininger mit einem Englischen Mann Nahmens David Brecken-reach Abrede genommen, um die Flucht zu nehmen, und gab ihrer Cameradin der Marie le Roy davon Nachricht, welche ihr sehr abrieth sich in dieser strengen Jahrs Zeit auf solche weite und beschwerliche Reise zu begeben, [...].453

Diese wechselnden Erzählperspektiven lassen den Text stilistisch ungelenk er-scheinen, besonders im Vergleich mit der eleganteren Lösung für die erzählerische Mehrstimmigkeit, die für die Erzählung der Flemings gefunden wurde.454

Die Schilderung der mehrjährigen Gefangenschaft nimmt bis zum ersten Fluchtplan nur etwa fünfeinhalb der insgesamt vierzehn Seiten der Erzählung ein, gefolgt von viereinhalb Seiten, die die erste Planung der Flucht bis zur Ankunft in Philadelphia beinhalten. Die verbleibenden Seiten werden von einer Liste mit Na-men von ehemaligen Mitgefangenen Maries und Barbaras eingenomNa-men. Der Text ist in Absätze gegliedert, wobei ein neuer Absatz häufig einen Ortswechsel oder eine

450 le Roy/Leininger, Erzehlungen 2.

451 Fleming, Narrative (Philadelphia, printed for the benefit of the unhappy sufferers, 1756) 10-11.

452 Vgl. Rowlandson, Soveraignty 323-25.

453 le Roy/Leininger, Erzehlungen 7.

454 Kelly formuliert die stilistisch begründete Urheberschaft der le Roy/Leininger-Erzählung durch ei-nen ghostwriter als Vorwurf, der den Text aber ungerechtfertigt abwertet. Vgl. Kelly, Pennsylvania 335. Die stilistisch wesentlich höherstehende Erzählung der Flemings stammt vermutlich auch nicht so, wie sie letztendlich publiziert wurde, aus der Feder William Flemings, der vor seiner Heirat als Krämer durch das Land zog.

Zeiteinheit einleitet. Dies erinnert an die Erzählung Mary Rowlandsons, die optisch und inhaltlich in „Removes“ (Reiseabschnitte, die immer weiter von der puritani-schen Zivilisation wegführen) gegliedert ist. Marie und Barbara haben ihre Gefan-genschaft offenbar hauptsächlich als Folge von Ortswechseln in Erinnerung. Die Zeit dazwischen war durch harte Arbeit ausgefüllt: „Die Indianer stelten uns ans Leder gerben, wir musten Schuhe für sie machen, Land klaaren, Welschkorn pflantzen, Holtz schlagen, Hütten bauen, waschen und kochen.“455 Ausführlichere Schilderun-gen einzelner Ereignisse betreffen nicht das Zusammenleben mit den Indianern oder die Art der Beziehungen zu einzelnen Stammesmitgliedern, sondern das seltene Vordringen der Repräsentanten der Zivilisation in die abgeschiedene Wildnis: Colo-nel Armstrongs Angriff auf Kittanning und die weitgehende Zerstörung der Stadt und insbesondere den anschließenden Hinrichtungen englischer Gefangener durch die Indianer, die Zeit bei den Franzosen in Fort Duquesne (hauptsächlich wegen der besseren Verpflegung) und das Erscheinen des Unterhändlers Post.456

Armstrongs Expedition sollte dazu dienen, das angeschlagene Selbstbewusst-sein der Kolonie nach der Eroberung Fort Granvilles am 31. Juli 1756 durch fran-zösische und indianische Truppen unter der Führung von Captain François Coulon de Villiers und Kriegshäuptling Captain Jacobs wiederherzustellen. Durch seine Ü-bermacht und das Überraschungsmoment gelang es Armstrong, die Stadt, die eine wichtige Basis der Delawaren war, zu zerstören. Captain Jacobs hatte angeordnet, dass Frauen und Kinder im Wald Schutz suchen sollten, und so wurden auch Marie und Barbara in Sicherheit gebracht. Captain Jacobs machte sein Haus zum Kern des Widerstandes, doch als das Dach in Brand gesetzt, und er aufgefordert wurde, sich zu ergeben, zog er den Tod im Kampf vor. Elf der Gefangenen gelang es zu den eng-lischen Truppen zu fliehen. Ihre Namen wurden in der Pennsylvania Gazette im An-schluss an den Artikel über die Schlacht, sowie in den Hoch-Deutsch Penn-sylvanischen Berichten veröffentlicht.457 Von diesen elf sind vier nicht namentlich genannt, ein Name jedoch ist zusätzlich zum Ort der Gefangennahme mit der Natio-nalität versehen: „Catherine Smith, a German Child, taken near Shamokin.“458

Bereits hier lässt sich ablesen, dass die Feststellung der nationalen Identität eines Gefangenen aus vielerlei Gründen erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird: Die Namen deutscher Siedler sind in offiziellen Dokumenten zumeist angli-siert worden, d.h. die Orthographie orientiert sich an der Aussprache oder der Name wird durch das englische Äquivalent ersetzt, beispielweise wird „Holtz“ zu

455 le Roy/Leininger, Erzehlungen 4.

456 Durch diese objektiv überprüfbaren Ereignisse ist die Authentizität der Erzählung nachgewiesen.

Post, der 1742 nach Amerika gekommen und an unterschiedlichen Missionsorten gewirkt hatte, war zwischen 1758 und 1762 für Pennsylvania als Diplomat tätig. Da er kein Militärangehöriger war wie Conrad Weiser und nicht auf indianisches Land spekulierte wie der Indianeragent George Croghan, genoss er das besondere Vertrauen der Delawaren. Vgl. Chase, Post 55-66. Owen Gibson, der ge-meinsam mit Marie und Barbara aus der Gefangenschaft flüchtete, und eigentlich Hugh Gibson hieß, hatte die Geschichte seiner Gefangenschaft erst 1886 im Alter von fünfundachtzig Jahren, fünf Mona-te vor seinem Tod, Reverend Timothy Alden erzählt, der sie aufzeichneMona-te und der Massachusetts Historical Society zur Veröffentlichung sandte. Gibson war im Juli 1756 bei Fort Robinson gefangen-genommen und von dem bedeutenden Delawaren Bisquittam adoptiert worden. Er lebte bei Kittaning, Kuskusky und Muskingum, wo er Barbara und Marie traf. In seiner Erzählung konzentriert er sich weniger auf die Flucht als auf seine Erlebnisse während der Gefangenschaft. Religiöse Konnotationen fehlen gänzlich. Vgl. Gibson, „Account“.

457 PG 1448 (23. 9. 1756) [3]; PB (2. 10. 1756) o.P.

458 In den Hoch-Deutsch Pennsylvanischen Berichten ist der Name wieder in der deutschen Version zu lesen: „Catharina Schmittin ein teutsches Kind war bey Schamockin genommen.“

„Wood“.459 Daher sind sie von englischen schwer oder nicht mehr zu unterscheiden.

Sehr junge Gefangene können sich häufig nicht mehr an ihre Taufnamen erinnern, da die Akkulturation bei Kindern schnell vonstatten geht. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist die Geschichte Regina Leiningers, der jüngeren Schwester Barbaras. Ihre Er-zählung aus indianischer Gefangenschaft wird im letzten Kapitel dieser Arbeit be-sprochen. Selbst die Erstellung von Verlustlisten nach einem Überfall ist beim Feh-len von Augenzeugen schwierig, da die Namen den Außenstehenden nicht bekannt sind und sie sich auf vage Zahlenangaben beschränken müssen.460 Davon legen die Artikel in Saurs Zeitung Zeugnis ab. Die restlichen befreiten Gefangenen sind, wie aus der Überschrift der Liste hervorgeht, englischer Nationalität.

Im Oktober 1758 findet sich in einer Ausgabe von Saurs Pennsylvanischen Berichten ein seltenes und kostbares Lebenszeichen von entführten Siedlern:

GERMANTON.

Ein Brief welcher an den Drucker gesandt worden von etlichen Gefangenen/ welche ohnweit der Ohio gefangen sind.

Sara Benjamins läst ihre Kinder wissen, daß sie noch gesund ist, sie hat hinter Bradhäds gewohnt.

Mary Dävinson läst ihren Vatter und Kind wissen, daß sie noch gesund ist, desgleichen thut Johann Dävinson von Canogotschick. Märy Huglers von der Sudbränsch, läst ihre Schwester und Brüder grüssen. Hanna Grie, Mary Brie, Johann Grie, Mary Basket, Samuel Enswurd, Mary Fabel, Henrich Hensch, diese Alle grüssen ihre Freunde und Anverwandte, und bitten nicht allein ihre Anverwandte und bekanten, sondern alle Christliebende Seelen vor sie zu GOtt zu bitten, daß sich ihre Erlösung bald nahen möchte; sie bitten auch den Drucker, er wolle ein gutes Christliches Werck thun, und diesen Brief in die Zeitung setzen, damit es ihre Freunde wissen möchten. Es sind bey vier hundert Gefangene unter den Indianern.461

Im gleichen Monat schlossen die Sechs Nationen mit Pennsylvania in Easton einen Friedensvertrag. Diese Neuigkeit wurde von Christian Friedrich Post, der schon während des Krieges diplomatisch tätig war, auf einer langen Reise durch das Ohio-Allegheny-Gebiet unter den Indianern bekannt gemacht und trug dazu bei, das Bündnis mit den Franzosen und deren Widerstand in diesem Gebiet zu beenden: Als General Forbes am 25. November 1758 die Gabelung des Ohio erreichte, stellte er fest, dass Fort Duquesne evakuiert und am Tag zuvor von den Franzosen nieder-gebrannt worden war. Posts Aufzeichnungen während seiner Missionen sind in sei-nen Tagebüchern überliefert.462 Aus dem Tagebuch, das er während seiner ersten Rei-se ins Ohiogebiet führte, wird ersichtlich, dass er sich von Ende August bis zum 8.

September in Kuskusky aufhielt.463 Da der Friedensvertrag über die Köpfe der Alle-gheny-Stämme hinweg ausgehandelt worden war, verweigerten sie zunächst dessen Anerkennung. Die Lage spitzte sich derart zu, dass Post sogar in Lebensgefahr ge-riet. Marie und Barbara gaben in ihrer Erzählung die Drohungen der Indianer und

459 Siehe Wolf, Village 140-41. Lediglich anhand von Unterschriften kann auf die Herkunft des Un-terzeichners geschlossen werden, da die deutsche Handschrift sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sehr von der englischen unterschied.

460 Verlustlisten, die die Namen und die Anzahl der skalpierten und getöteten Opfer und der ver-missten Familienmitglieder enthalten, wurden im Auftrage Conrad Weisers u.a. von Angehörigen des Militärs angefertigt und befinden sich heute in den Conrad Weiser Papers der Pennsylvania Historical Society in Philadelphia, Pa.

461 PB (14. 10. 1758) o.P.

462 Siehe Thomson, Enquiry, und Post, Second Journal.

463 Siehe dazu die Einträge für den 4. bis 7. September.

rer französischen Verbündeten gegen den Missionar wieder.464 Als Ergebnis des Frie-densvertrages wurden auch die Gefangenen entlassen, die sich zunächst in Philadel-phia sammelten. Die plötzliche Häufung von in der Stadt kursierenden Geschichten über indianische Gefangenschaft war auch Saur eine Meldung wert:

Germanton.

[...]

Es sind verschiedene Gefangenen hier angekommen, welche theils unter den Indianern, und theils unter den Frantzosen sind gefangen gewesen. Sie sind gar ungleich behandelt worden, Einige besser, und Andere schlechter; doch sagen sie Alle von grossen Trübsalen, die sie erlitten haben; und keiner so viel man hört, der nicht gern wäre besser gehalten gewesen, als es geschehen ist. Sie sind zu Philadelphia erst angekommen, und nun weiter zu den Ihrigen gereißt.465

Als die indianischen Verbündeten der Franzosen vom Vormarsch der englischen Truppen auf Fort Duquesne erfuhren, evakuierten sie ihre Siedlungen im Grenz-gebiet nicht nur, sondern hinterließen auch verbrannte Erde. Im Zuge dieser Eva-kuierung wurden auch Marie und Barbara nach Muskingum gebracht. Diese Tat-sache allein zeigt, dass die Indianer nicht bereit waren, den Friedensvertrag von Eas-ton anzuerkennen. Hätten Marie und Barbara ihre Flucht nicht selbst in die Hand ge-nommen, wären sie wie Barbaras Schwester Regina vermutlich erst 1764 nach dem Sieg von Colonel Bouquet freigelassen worden.

Im Dokument Unter den Händen der Barbaren (Seite 134-138)