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Flemings und Dickinsons Erzählungen gemeinsam in der europäisch-

Im Dokument Unter den Händen der Barbaren (Seite 125-128)

4. William und Elizabeth Flemings Captivity Narrative: Übersetzung als

4.6 Flemings und Dickinsons Erzählungen gemeinsam in der europäisch-

Im Katalog für die Frankfurter und Leipziger Buchmesse für Ostern 1774 wird in der Rubrik „Fertig gewordene Schriften in deutscher und lateinischer Sprache“ der fol-gende Titel aufgeführt:

Dickinsons, Jonath. erstaunliche Geschichte von dem Schiffbruche, den einige Personen in dem Meerbusen von Florida erlitten; nebst einem Anhange von Wilh. Flemmings Trübsalen unter den Indianern. 8. Frankfurt, bey J. G. Fleischern.420

Ein Vergleich ergab, dass es sich hierbei keineswegs um neue Übersetzungen han-delt, vielmehr wurden die bereits 1756 in Pennsylvania entstandenen Übersetzungen bis auf eine modernisierte Orthographie unverändert übernommen. Dies widerlegt die von Evangeline Walker Andrews und Charles M. Andrews in der von ihnen he-rausgegebenen kritischen Ausgabe von Dickinsons Erzählung aufgestellte Behaup-tung, es handele sich um eine neue Übersetzung.421

Die Gemeinschaftsausgabe geht vermutlich auf eines der zusammengebun-denen Exemplare zurück, die Saur ab 1756 im HTAC für 1757 anbietet: „Die beyde Büchlein von den Menschen welche zu Florida unter die Menschenfressern und von 2 Personen welche zu Canegetschick in Pensilvanien unter die Indianern ge-kommen, sind zusammen gebunden zu haben vor 9 Pens.“422 Noch deutlicher wird der Bezug in der Anzeige im HTAC für 1760: „Eine wahrhafftige Erzehlung von et-lichen Leuten die durch Schiffbruch under die Floridaer Indianer oder Menschen-Fresser gerathen sind, und wie sie wieder sind erlößt worden; nebst einem Anhang von der Begebenheit die sich mit Willem Flemming und seiner Frau zugetragen hat, welcher zu Canegetschick unter die Indianer gerathen ist, zusammen 9 Pens.“423 Damit erhöht sich die Zahl der pennsylvanisch-deutschen Ausgaben auf drei, was von der Forschung bislang nicht erkannt wurde. Leider ist kein Exemplar dieser be-sonderen Germantowner Ausgabe erhalten.

Über die Art und Weise, auf die solch ein Germantowner Exemplar nach Eu-ropa gekommen ist, lassen sich lediglich Mutmaßungen anstellen. Immerhin hatte Saur geschäftliche Verbindungen zu den Buchhändlern Wigand und Gross in Frank-furt, der Saursche Publikationen innerhalb Europas auslieferte. Außerdem beschäf-tigte Saur sogenannte Neuländer, die nicht nur als Werber für die Emigranten nach

422 HTAC für 1757, o. p. Diese Anzeige ist auch im Kalender für 1758, 1759, 1760, 1761, 1762, 1763.

Im Kalender für 1765 werden beide Erzählugen wieder als Einzelausgaben angepriesen: „Jonathan Dickensons Beschreibung dessen, was sich mit ihm und seinen Cameraden unter den Menschen-fressern in Florida zugetragen hat, und wie er erlößt worden ist. William Flemmings Erzehlung von seiner Gefangenschafft unter den Indianern.“ Es war üblich, Bücher sowohl gebunden als auch unge-bunden anzubieten, damit der Käufer die Bücher nach Wahl aussuchen und nach Genre oder thema-tisch zusammenbinden lassen konnte. Vgl. Amory, „Reinventing“ 38.

419 Zu den Problemen bei der Akkulturation deutscher Einwanderer in Pennsylvania siehe Wellen-reuther, „Image“, bes. 94-95 zur Frage der Loyalität zu Beginn des Französisch-Indianischen Krieges.

420 Verzeichniß 658.

421 Vgl. Walker Andrews/Andrews, „German Translations“ 195-96.

423HTAC für 1760.

Amerika fungierten, sondern auch für ihn auf der Leipziger Buchmesse auftraten.424 Möglicherweise gelangte das Buch als devotionales Werbematerial nach Europa: In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bereisten zahlreiche englische und amerikanische Quäker Nord- und Mitteldeutschland in der Hoffnung, neue Gemein-den bilGemein-den zu können.425 Denkbar ist auch, dass die Wiederveröffentlichung durch Fleischer direkt durch eine deutsche Quäkergemeinde unterstützt worden ist.426

Ebenso wie die in Pennsylvania gedruckten Exemplare ist die in Europa ent-standene 128 Seiten umfassende Version mit einer Größe von 11 cm mal 17,9 cm eher kleinformatig und daher ähnlich preisgünstig.427 Das Titelblatt enthält den im Mittelsatz gestalteten Text:

Jonathan Dickinsons erstaunliche Geschichte von dem Schiffbruche, den einige Personen in dem Meerbusen von Florida erlitten; als auch wie sie aus dem unmenschlichen Rachen der Cannibalen und Menschenfressern sind befreyet worden. Nebst einem Anhang von William Flemmings Trübsalen, die er nebst seiner Frau erlitten, wie sie beyde bey dem verwichenen Einfall der Indianer in dem grossen Wald (Grät Grov) bey Canagodschick in Pensylvanien sind gefangen genommen worden. Nach dem Philadelplischen Original.

Der Titel wird von dem Wort „Geschichte“ optisch dominiert, gefolgt von „Trüb-salen“ in der unteren Hälfte. Anhand des gekürzten Titels im Katalog der Buchmesse wird klar ersichtlich, welche Aspekte des Inhalts den größten Kaufanreiz bieten soll-ten, nämlich der Schiffbruch vor Florida und grausame Indianer in Pennsylvania.

Auf den ersten 95 Seiten des Bandes ist die Erzählung Jonathan Dickinsons samt des moralisch-religiösen Nachwortes über den aus ihr ziehbaren Nutzen abge-druckt. Auf Seite 99 wird die Erzählung der Flemings mit einem eigenen Titelblatt eingeleitet: „Anhang von William Flemmings und seiner Frau Trübsalen.“ Die fol-genden beiden Seiten enthalten die Vorrede an den Leser, die Erzählung umfasst 23 Seiten. Auf der letzten Seite steht eine Nachrede, in der in abgekürzter Form einige der Informationen nachgetragen werden, die in der ersten 1756 von Saur in German-town produzierten Ausgabe fehlen, nämlich die biographischen Angaben Flemings, seine Beteiligung am Raubzug des Indianers Jim, und den Teil der Unterhaltung zwischen Elizabeth Fleming und den Indianern, in dem es um Geisterglauben geht.

Der letzte Satz der Nachrede weist William Fleming als Urheber aus: „Dieses habe er in der ersten Edition vergessen zu melden.“428 Da die europäisch-deutsche Ausgabe die beiden Erzählungen so gut wie unverändert übernommen hat, dürfte auch diese Nachrede ein ursprünglicher Bestandteil einer der in Pennsylvania entstandenen Ausgaben sein. Der exakte Nachweis kann mangels vollständig überlieferter Exemp-lare nicht geführt werden.

424 Vgl. Cazden, History 8. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde Leipzig zum Zentrum für prote-stantische Literatur, Frankfurt für katholische. Vgl. Wittmann, Geschichte, Kap. 4.

425 Vgl. Hubben, Quäker.

426 Auch für die Publikationsgeschichte des in London entstandenen Reprints von Dickinsons Erzäh-lung gilt, dass einige Exemplare der Erstausgabe von 1699 zwischen Herbst und Winter 1699/1700 nach London geschickt worden sein müssen, wo sie die Aufmerksamkeit der jährlichen Londoner Quäkerversammlung erregt haben. Diese hatte es sich angelegen sein lassen, alle zur Veröffentli-chung vorgeschlagenen Schriften zu prüfen. Nach der Billigung wurde dann ein Drucker wie der Quäker Andrew Sowle beauftragt. Zu Londoner Quäkern und ihren Druckern siehe Dickinson, Jour-nal 218-29. Johann Georg Fleischer (gest. 1796) war der Sohn des aus Leipzig stammenden Verlags-buchhändlers Johann Friedrich Fleischer (gest. 1765). Fleischer galt um 1730 neben Andreae als einer der zwölf bedeutendsten Verlage Frankfurts. Von 1724 bis 1765 erschienen in seinem Verlag 343 Werke. Von Beziehungen zu Quäkern ist nichts bekannt. Vgl. Lübbecke, Buch 89-92.

427 Der Verkaufspreis betrug acht Groschen. Vgl. Heinsius, Bücher Lexicon 1 (1812): 678.

428 Dickinson/Fleming, Geschichte 128.

Die Erzählungen Dickinsons und der Flemings wurden im deutschsprachigen Europa zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als die Lesegewohnheiten der Bevöl-kerung im Wandel begriffen waren. Es entwickelte sich eine von der pietistischen Innerlichkeit geprägte emphatische Form des Lesens und zugleich das Bedürfnis nach Literatur, die die religiösen und weltlichen Aspekte vereinte.429 Exemplarisch seien Friedrich Gottlieb Klopstocks biblisches Epos Messias (1748), Christian Fürchtegott Gellerts Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G. (1747/48) und Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774) genannt. Gellert wurde insbesondere durch die Werke Richardsons beeinflusst und sah dementsprechend den Roman als Anleitung zur richtigen sittlich-moralischen Erziehung und Lebensführung. Die Erzählungen Dickinsons und Flemings enthalten, wie die Interpretationen gezeigt haben, einige Aspekte empfindsamer Literatur, sind aber mehr der erbaulichen Literatur verpflichtet. Reise- und Briefroman gehören zu den bevorzugten Formen empfindsamer Literatur – die captivity narratives bedienen nach wie vor die Neugier auf exotische Länder und Eskapismus. Sie enthalten schwache Echos vom richtigen Verhalten von virtue in distress und bieten insbeson-dere der weiblichen Leserschaft eine neue Variante von Extremsituationen. Diese Einordnung wird von einer zeitgenössischen Rezension bestätigt: 1775 wurde der Band mit den beiden Erzählungen in der Wiener Wochenschrift Litterarische Nach-richten besprochen.430 In der Rezension wird nicht nur das Leserinteresse an der Be-wältigung von Extremfällen des Lebens betont, sondern auch die bei einigen Bege-benheiten auffällige inhaltliche Nähe von Flemings Erzählung zum Roman.431

429 Siehe dazu Wittmann, „Revolution“ 295, 297; Martini, Literaturgeschichte 185-86, 191, 241-42, de Boor/Newald, Geschichte Bd. 6 (1990).

430 Die Litterarischen Nachrichten waren eine kurzlebige Wochenschrift (1775-1776), die Artikel aus französischen und englischen Rezensionszeitungen ohne Nachweis übernahm. Die anonyme Re-zension der captivity narratives besteht im Wesentlichen aus einer zwölf Seiten umfassenden Nach-erzählung der Erlebnisse der Flemings, die wie folgt begründet wird: „Wenn dergleichen Erzählungen interessieren sollen, so muß man sie ganz lesen können, und dann sind sie keines Auszuges fähig.“

„Geschichte“ 338.

431 Vgl „Geschichte“ 337-38, 344.

5. Die erste Erzählung von indianischer Gefangenschaft

Im Dokument Unter den Händen der Barbaren (Seite 125-128)