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Das Leben des Übersetzers und die Entstehung des Werkes

2 Historische Einordnung der ‚Wertheimer Bibel’

2.2 Das Leben des Übersetzers und die Entstehung des Werkes

Die Lebensgeschichte Schmidts gibt Hinweise auf seine Motve, die ‚Wertheimer Bibel’ zu verfassen und lässt Ereignisse und Kontakte erkennen, die ihn bei sei -nem Übersetzungsprojekt beeinfusst haben könnten. Auch zeigt sich, dass die

‚Wertheimer Bibel’ nicht das alleinige Werk Schmidts war: Es bedurfe der be-sonderen Unterstützung durch die Wertheimer Grafen und den Kammerrat Jo-hann Wilhelm Höfein, um das Projekt zu realisieren. Als Basis für die Analyse der

‚Wertheimer Bibel’ sollen im Folgenden daher die Lebensdaten Schmidts knapp dargestellt werden, ebenso die Entstehungsgeschichte der ‚Wertheimer Bibel’

und die Debate, die auf die Publikaton folgte. Bei der Darstellung der Ereignisse

111 Anonym, Prophetsche Bibel, unnummeriert (Seite 2).

stützt sich der Überblick vor allem auf die Arbeiten von Goldenbaum und Spal-ding.112

Schmidt wurde am 30. November 1702 geboren und wuchs in Zell auf, einem Dorf, das zu der freien Reichstadt Schweinfurt gehörte. Sein Vater war lutheri-scher Pfarrer. Die Familie war nicht wohlhabend, ermöglichte ihrem einzigen Sohn aber dennoch eine sehr gute Ausbildung, die ihn zu einem Universitätsstu-dium befähigte. Ab 1720 bis zu seinem Abschluss 1724 besuchte Schmidt die Universität Jena, die sowohl die kostengünstgste aller möglichen Universitäten war als auch einen sehr guten Ruf genoss.113 Er studierte dort Theologie und Ma-thematk.114

Der Lehrkörper der Universität Jena und seine Ausrichtung in den 1720er Jahren ist für die vorliegende Arbeit in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen, da seine Zusammensetzung einen Querschnit jener wissenschaflichen Strömungen dar-stellt, die sich Anfang des 18. Jahrhunderts herausbildeten. Jena war zwar nicht Halle – welches das Zentrum des Pietsmus war und zum Schauplatz der Ausein-andersetzung zwischen Pietsmus und Frühauflärung, vertreten durch Joachim Lange und Christan Wolf, wurde –, doch auch in Jena lassen sich Elemente von Frühauflärung und Pietsmus nachweisen. Dies ist nun zweitens für diese Arbeit bedeutsam, da sich hieran erläutern lässt, welchen Einfüssen Johann Lorenz Schmidt zu seiner Studienzeit ausgesetzt war, und ob diese die Ausrichtung des Übersetzungsprojektes mit beeinfusst haben könnten.

Die theologische Fakultät Jenas bestand zu Schmidts Studienzeiten „aus den Pro-fessoren Michael Foertsch (1654–1724) als erstem, Johann Franz Buddeus als zweitem, Johann Andreas Danz (1654–1727) als dritem Ordinarius und Jesaias Friedrich Weissenborn als Extraordinarius“.115

112 Vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bibel; vgl. Goldenbaum, Vorwort; vgl. Spalding, Seize; vgl.

Spalding, Wertheimer; vgl. Spalding, Untergrund. Der bei Goldenbaum und Spalding darge -stellte Verlauf wird in dem Überblick, der in der vorliegenden Arbeit gegeben wird, zusam-mengefasst und mit einigen Details ergänzt.

113 Alle Informatonen dieses Absatzes vgl. Spalding, Seize, 14f.

114 Vgl. die Schmidts eigene Angabe in der ‚Fest gegründeten Wahrheit’ (vgl. Anonym, Wahr-heit, 83).

115 Schaper, Abschied, 45. Schaper hat diese Daten anlässlich ihrer Arbeit zu Johann Christan Edelmann recherchiert. Edelmann studierte ebenso wie Schmidt in Jena von 1720–1724.

Schaper bietet in ihrer Darstellung von Edelmanns Studienzeit viele weitere interessante In -formatonen zum Studienalltag in Jena (vgl. Schaper, Abschied, 43).

Der erste Ordinarius Foertsch war in den 1720er Jahren schon über 70 Jahre alt.

Er blieb in seiner Wirkungsmacht auf die damaligen Studierenden weit hinter dem zweiten Ordinarius Budde(us) (1667–1729) zurück. Wie Pältz herausstellt,

„war Buddeus einer der bedeutendsten akademischen Lehrer seiner Zeit“.116 Budde war zwar in der lutherischen Dogmatk verwurzelt, rezipierte den Piets-mus aber eigenständig, ohne Parteigänger zu werden. Bei Budde fndet sich (ebenso wie später bei Baumgarten) eine eklektsche Theologie, in der sich Ernst-nehmen der pietstschen Anliegen, Ofenheit für auflärerische Ideen und eine feste Verwurzelung im christlichen Glauben mischen. Budde mag Schmidt darin bestärkt haben, die deutsche Sprache für den wissenschaflichen Diskurs zu ver-wenden, denn Budde war während seiner Zeit als junger Professor in Halle (1693–1705) Kollege von Thomasius und hat später „dessen Kampf für die deut-sche Sprache in der Wissenschaf aufgegrifen und in Jena damit den ersten Durchbruch erreicht“.117 Wie bereits erwähnt, erregte Schmidts Bibelüberset-zung vor allem deshalb die Gemüter, weil er die Weissagungen auf Christus und ein trinitarisches Gotesbild in seiner Übersetzung des Pentateuch nicht stützte.

Dieses Vorgehen entsprang einer historisierenden Betrachtung des Alten Testa-ments. Hate er hierbei in seinem Universitätsprofessor Budde ein Vorbild? Die Antwort lautet: In der Tendenz ja, aber nicht in letzter Konsequenz. Das histori -sche Interesse Buddes ist zwar ein prägendes Element seines Gesamtwerks – bei Budde fnden sich Ansätze zu einer altestamentlichen Religionsgeschichte und zur geschichtlichen Behandlung des Urchristentums“118 –, diesem Interesse sind allerdings auch klare Grenzen gesetzt. Wie Siegfried Schmidt erläutert, erfährt

„Geschichte [bei Budde, A. F.] auch immer eine dogmatsche Überlagerung“.119

„Mit seiner orthodoxen Wertung der Schrif bleibt Buddeus in den traditonellen Bahnen lutherischer Exegese. Von ratonalistscher oder historischer Bibelkritk will er nichts wissen.“120 Budde besaß also zwar „ein ausgeprägtes Bewußtsein für den geistgen Umbruch der Zeit“, blieb aber dennoch in seiner Intenton „auf

116 Pältz, Buddeus, 316.

117 Schmidt, Jena, 198.

118 Pältz, Buddeus, 316.

119 Schmidt, Jena, 197.

120 Schmidt, Jena, 196.

eine denkerische Sicherstellung der Ofenbarung gerichtet“121 und ist daher den Schrit, die neuen Prinzipien der Geschichtsschreibung auch in der Schrifausle-gung anzuwenden, nicht gegangen. Darin unterscheidet sich das Verständnis Buddes deutlich von dem seines Schülers Schmidt.

Johann Andreas Danz, der drite Ordinarius der theologischen Fakultät, war in Jena ab 1685 zunächst Professor für orientalische Sprachen und erst ab 1713 dann zugleich Professor für Theologie.122 Wilhelm Gesenius beschreibt Danz’

Lehrart des Hebräischen als „diesystematsche oder philosophisch-demonstrat-ve“ Schule und erläutert, dass Danz die Akzentsetzung im Hebräischen mitels abstrakter – aber aus späterer Sicht falscher – Regeln zu erklären versuchte.123 Schmidt wurde sogar von seinen Kritkern zugestanden, dass er sehr gute Kennt-nisse des Hebräischen vorweisen könne. Diese KenntKennt-nisse wird er unter anderem in Jena bei Danz erworben haben.124

Johann Jakob Rambach (1693–1735) hielt sich in den 1720er Jahren – nach sei-nem Studium in Halle – ebenfalls in Jena auf. Rambach war ein pietstsch ge-prägter Theologe, der Schmidt später nach seinen Studienjahren Hilfestellung bei der Suche nach einer Anstellung bot. Bertheau berichtet,125 dass Rambach enge Kontakte zu August Hermann Francke, Joachim Lange und Johann Heinrich Michaelis pfegte. In Jena durfe Rambach ab 1720 als Dozent theologische Vor-lesungen halten, die bei den Studenten sehr beliebt waren, bis er 1723 wieder nach Halle wechselte. 1724 erschienen seine ‚Insttutones hermeneutcae sa-crae’ auf der Basis seiner Vorlesungen. Ebenfalls 1724 heiratete Rambach eine Tochter Joachim Langes, des späteren Gegners Schmidts. 1731 nahm er eine Professur für Theologie in Gießen an, starb aber früh im Jahr 1735 und konnte sich daher an der Diskussion um die ‚Wertheimer Bibel’ nicht beteiligen.126

121 Pältz, Buddeus, 316.

122 Vgl. Bautz, Danz.

123 Vgl. Gesenius, Geschichte, 122.

124 Im Hinblick auf die Methode seiner Übersetzung wurde Schmidt von Danz jedoch nicht be-einfusst, wie Schmidts selbst im Vorwort zu seiner Sammlung der zur ‚Wertheimer Bibel’ er-schienenen Schrifen meint (vgl. Anonym, Samlung, unnummeriert (vierte Seite der Vorrede).

125 Vgl. Bertheau, Rambach.

126 Im Hinblick auf die späteren Entwicklungen ist festzuhalten, dass sich die Wege von Schmidt und Johann Georg Walch (1693–1775), der 1739 im Rahmen seiner ‚Historischen und Theo-logischen Einleitung in die Religions-Streitgkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche’ eine Abwertung der Wertheimer Bibel liefert, bereits in den 1720er Jahren (zumindest

theore-Schmidt selbst betont, dass er neben Theologie in Jena auch Mathematk stu-dierte.127 Mathematkprofessor in Jena war zu der Zeit von Schmidts Studium Jo-hann Bernhard Wiedeburg (1687–1766). Wiedeburg „entstammte einer angese-henen Theologenfamilie“, beschäfigte sich ab 1727 mit ‚biblischer Mathematk’

und hielt ab 1739 auch theologische Vorlesungen.128 Ihm schien „die Verwen-dung mathematscher Methoden in der Theologie bei der Ratonalität der Dog-men möglich zu sein“.129 Er und der Politkprofessor Gotlieb Stolle waren die ein-zigen, die sich 1724 gegen ein Gutachten der Jenaer Universität aussprachen, welches die Philosophie Christan Wolfs negatv beurteilte. Sie reichten ein Wolf stützendes Seperatvotum ein.130 Bei Wiedeburg dürfe Schmidt entschei-dende Impulse für die Idee empfangen haben, die mathematsche Methode Wolfs für sein späteres Bibelübersetzungsprojekt zu verwenden.

Neben dem geistgen Einfuss, den Professoren auf Studenten ausüben können, sollten nicht die Synergieefekte vernachlässigt werden, die sich unter den Stu-dierenden einstellen können. Daher ist es in jedem Fall erwähnenswert, dass Jo-hann Christan Edelmann (1698–1767) Kommilitone Schmidts in Jena war. Edel-mann war zunächst radikaler Pietst und arbeitete am mystsch-pietstschen Übersetzungsprojekt der ‚Berleburger Bibel’ mit. Später wandelte er sich zum ra -dikalen Auflärer,131 lehnte das Übersetzungsprojekt Schmidts jedoch ab.132 Sein Studium in Jena schloss Schmidt 1724 ab. Spalding stellt heraus, dass es zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, ob Schmidt den Weg der Auflärung oder nicht etwa den des Pietsmus einschlagen würde. Dies fügt sich gut zu dem

gene-tsch) kreuzten. Walch lehrte zu dieser Zeit zwar noch nicht als Professor an der theologi-schen Fakultät – dorthin sollte er erst 1728 als ordentlicher Professor wechseln –, war aber in Jena seit 1718 „außerordentlicher Professor der Philosophie und der Alterthümer“, ab 1719 Professor der Beredsamkeit“ und zwei Jahre später „Professor der Dichtkunst“ (vgl. Tscha-ckert, Walch, 650–652). Im Rahmen seiner späteren Wirkungszeit an der theologischen Fa-kultät engte Walch dann zunehmend den durch Budde eingebrachten freien Geist durch eine

„scholastsch-orthodoxe Verhärtung“ der Theologie ein (vgl. Schmidt, Jena, 201). Von daher ist es nicht verwunderlich, dass er sich gegen Schmidts Übersetzungsprojekt wandte.

127 Vgl. die eigene Aussage Schmidts in der ‚Fest gegründeten Wahrheit’ (vgl. Anonym, Wahr -heit, 83).

128 Günther, Wiedeburg, 379.

129 Schmidt, Jena, 207.

130 Vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bibel, 211–213.

131 Einen umfassenden Überblick zu Edelmann bietet Schaper (vgl. Schaper, Abschied).

132 Mit einem Nebensatz grenzt sich Edelmann von der ‚Wertheimer Bibel’ als einem Negatv -beispiel ab: „Ich verdrehe keinen Grund-Text, oder entkräfe denselben durch neu ersonne-ne so genannte Philosophische, aber in der That recht läppische Paraphrates und Umschrei-bungen, wie die Wertheimer Bibel thut“ (vgl. Edelmann, Wahrheiten, 111).

rellen Befund Spaldings und anderer Forscher,133 dass Auflärung und Pietsmus vor allem in den Anfängen nahe beieinander lagen. Beides waren Strömungen, die den christlichen Glauben erneuern wollten. Diese These mag manchen über-raschen, der heute den Begrif ‚Auflärung’ eher mit Religionskritk und Atheis-mus verbindet. Spalding betont aber, dass die Frühauflärer vernünfiges, schlussfolgerndes Denken als einen frommen Ausdruck ihres Glaubens ansahen, da sie damit in ihren Augen der götlichen Vernunf folgten oder diese imiter-ten.134 Die Anhänger der Frühauflärung wollten den christlichen Glauben refor-mieren und nicht etwa abschafen. In den Anfängen standen sich Auflärung und Pietsmus somit nicht konträr gegenüber,135 sondern bildeten gemeinsam eine Front gegen die erstarrte lutherische Orthodoxie. Viele spätere Auflärer kamen vom Pietsmus her. Im Falle Schmidts äußerten sich seine pietstschen Bestre-bungen derart, dass er noch in seinem letzten Studienjahr in Jena anfng, brief-lich Kontakt zu August Hermann Francke aufzunehmen. Spalding bezeichnet die Beziehung, die sich binnen weniger Monate entwickelt, als relatv nahe. Francke bot Schmidt persönlichen Rat und half im sogar mit etwas Geld aus.136

Die Zeit, die auf seinen Abschluss in Jena folgte, verbrachte Schmidt zunächst in Schweinfurt, um seinen Vater bei seinen Pfichten als Pfarrer zu unterstützen. In Schweinfurt war Schmidt Mitglied eines pietstschen Konventkels. Wie Schmidt berichtet,137 habe niemand die Mitglieder des Konventkels beschuldigt, Irrlehren in ihren Predigten zu verbreiten oder Reformversuche des städtschen Kirchenle-bens zu unternehmen. Dennoch war der Stadtrat beunruhigt und verbot 1725 die Zusammenkunf. Als Schmidts Vater 1724 erkrankte, übernahm Schmidt mehr und mehr dessen Aufgaben, bis er ihn ab März 1725 völlig in seiner Arbeit als Pfarrer ersetzte. Der Vater starb am 30. April 1725.138 Schmidt war damit von seinen Verpfichtungen in Schweinfurt entbunden und nutzte nun seine

pietst-133 Etwa Walter Sparn (vgl. Sparn, Halle, 71).

134 Vgl. Spalding, Seize 8f.

135 Spalding vergleicht Schmidt mit dem Gründer der Methodistenkirche John Wesley. Wesley wurde von Henry Rack als ‚reasonable enthusiast’ bezeichnet. Spalding meint nun, analog könne man Schmidt auch als einen ‚enthusiastc reasoner’ bezeichnen (Spalding, Seize, 221, Anm. 11).

136 Vgl. Spalding, Seize, 16.

137 1736 in einem Brief an den Schweinfurter Oberpfarrer Johann Mathäus Englert. Zitert bei Spalding (Spalding, Seize, 17 und 225, Anm. 12).

138 Vgl. Spalding, Seize, 16.

schen Kontakte nach Halle, um nach einer Stelle zu suchen. Er führte noch im-mer den in Jena begonnenen Briefontakt mit August Hermann Francke fort. Die Korrespondenz endete erst 1726 kurz vor Franckes Tod. Anschließend begann Schmidt eine Korrespondenz mit dessen Sohn Gothilf August Francke. Schmidt pfegte ebenso mit Johann Jacob Rambach einen Briefwechsel. In diesen Briefen ging es besonders um die Möglichkeit, als Missionar zu arbeiten. Rambach konn-te Schmidt jedoch ‚nur’ eine Skonn-telle in St. Pekonn-tersburg anbiekonn-ten, im Rahmen derer er als Erzieher und Geistlicher einer Familie arbeiten sollte.139

Parallel zur Stelle in St. Petersburg eröfnete sich Schmidt, vermitelt durch einen Freund, jene Stelle in Wertheim als Informator der jungen Grafen, welche die weiteren Entwicklungen überhaupt erst ermöglichte.140 Nach einigem Abwägen nahm Schmidt schließlich die Stelle in Wertheim an. Schmidt sollte Informator, also Hauslehrer, für die vier jüngsten Söhne und zwei Töchter der verwitweten Gräfn Amöna Sophie zu Löwenstein-Wertheim werden. Die Vormundschaf für die minderjährigen Kinder teilte sich die Muter mit einem Verwandten, dem Grafen Ludwig von Hohenlohe-Langenburg. Auch dieser stmmte der Anstellung Schmidts zu.141

In Wertheim nun sollte Schmidt sowohl persönliche Unterstützung für sein spä-teres Vorhaben fnden als auch durch die besonderen Regierungsverhältnisse der Grafschaf Wertheim den rechtlichen Freiraum zur Verfügung haben, um sein Bi-belübersetzungsprojekt zu unternehmen. Die Grafschaf Wertheim war zum da-maligen Zeitpunkt eine reichsunmitelbare Grafschaf, die zum fränkischen Reichskreis gehörte. ‚Reichsunmitelbar’ bedeutet hierbei: „Alleine der Kaiser stand über den Grafen.“142 Die Regierung in Wertheim war seit dem Westäli-schen Frieden zwiWestäli-schen dem protestantWestäli-schen und dem katholiWestäli-schen Zweig der Grafen Löwenstein-Wertheim aufgeteilt.143 Zensurfragen mussten zwischen die-sen beiden Linien geklärt werden.144 Auf Initatve des Kammerrates Johann Wil-helm Höfein (1689–1739), trafen die beiden ältesten Söhne des protestantsche

139 Alle Informatonen dieses Absatzes vgl. Spalding, Seize, 16f.

140 Vgl. Spalding, Seize, 17f.

141 Vgl. Spalding, Seize, 18 u. 21.

142 Goldenbaum, Vorwort, 8.

143 Vgl. Spalding, Wertheimer, 51f.

144 Vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bibel, 209.

Zweiges mit ihrem katholischen Veter Fürst Karl Thomas zu LöwensteinWert -heim-Rochefort die Abmachung, dass jeder Mitregent selbst entscheiden könne, was er drucken lassen wolle.145 Deshalb war es möglich, in Wertheim ein Buch le-gal zu drucken, das später in massiven Konfikt mit den Zensurbestmmungen des Reiches geraten sollte.146 Die in Religionsfragen strengen Zensurbestmmungen des Reiches erklären sich vor allem aus den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges und den Beschlüssen des Westälischen Friedens.147 Wichtgste Zensur-behörde zu jener Zeit war der Reichshofsrat in Wien.148

Neben den strukturell günstgen Voraussetzungen traf Schmidt in Wertheim auch auf persönliche Unterstützung. Spalding stellt heraus, dass eine solche ver-trauliche Unterstützung, wie Schmidt sie an seinem Arbeitsplatz in Wertheim vorfand, eine Schlüsselfunkton für Schutz und Förderung verfolgter Auflärer er-füllte.149 Johann Ludwig Vollrath (1705–1790) und Friedrich Ludwig (1706–1796), die beiden ältesten, bereits volljährigen Söhne der Gräfn Amöna Sophie, wurden die maßgeblichen Unterstützer von Schmidts Übersetzungsprojekt. Sie werden mit den ‚hohen Standespersonen’ gemeint sein, die Schmidt in seiner Vorrede als Förderer nennt.150 Aber auch in Höfein, dem ehemaligen Hofmeister und der-zeitgen Kammerrat der gräfichen Familie, fand Schmidt einen treuen Freund.151

145 Vgl. Spalding, Wertheimer, 44.

146 Vgl. die Aussage Spaldings: „No case came to invole so extensively the machinery of intellec -tual and religious control in the last century and half of old imperial Germany, from the level of the locoal territory to that of the emperor, as did that aimed at suppressing the Wertheim Bible and punishing Johann Lorenz Schmidt“ (Spalding, Seize, 3).

147 Zwei wichtge Verordnungen sind in Zusammenhang mit der Zensur im 18. Jahrhundert zu nennen. Erstens die Reichspolizeiordnung von 1577, welche in Kapitel 35 Verleger, Drucker und Händler mit hohen Geldstrafen und Berufsverbot drohte, sollte eine Veröfentlichung er-scheinen, die nicht zuerst durch die jeweilige Obrigkeit gesichtet und für zulässig – gemäß der christlichen Lehre und der Regelungen des Reiches – befunden worden war. Die Reichspolizeiordnung enthielt außerdem die ebenfalls mit einer Strafandrohung verbundene Auforderung an die jeweilige Obrigkeit, den Druck von Schrifen zu verhindern, welche nicht der Lehre der christlichen Kirchen entsprechen. Zweitens ist das kaiserliche Edikt von 1715 anzuführen, mit welchem Kaiser Karl VI. zum einen die bisherigen Bestmmungen, die vor al-lem aus dem 16. Jahrhundert stammten, aktualisieren wollte. Zugleich unterdrückte er mit diesem Edikt aber auch die Freiheit von Lehre und Forschung an den Universitäten (vgl. Ei-senhardt, Aufsicht, 40).

148 Vgl. Spalding, Seize, 8.

149 Vgl. Spalding, Untergrund, 135.

150 Vgl. Anonym, Vorrede, 46.

151 Den ausführlichen Lebensweg Höfeins hat Goldenbaum recherchiert (vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bibel, 214f.).

Während der ersten Jahre in Wertheim fel Schmidt durch seinen Lebenswandel positv auf, 152 da dieser ofenbar den Anforderungen an ‚Tugendhafigkeit’ mus-tergültg genügte. Er übernahm auch bald geistliche Pfichten, so etwa hielt er während der Zeit, welche die Familie in der Sommerresidenz in Schollbrunn ver-brachte, zweimal die Woche eine Andacht. Außerdem wechselte er sich beim Halten des Sonntagsgotesdienstes mit Johann Michael Neidhardt, dem Pfarrer eines nahegelegenen Dorfes, ab. Auch hier gab es keinerlei Beschwerden, son-dern nur Äußerungen der Zufriedenheit über Schmidt. Neidhardt war in Halle bei den Pietsten ausgebildet worden – Schmidts Theologie war also anscheinend nach wie vor mit pietstschen Vorgaben vereinbar.153

Dass Schmidt dem Pietsmus noch immer zugetan war, zeigt sich auch am weiter-hin bestehenden Briefwechsel zwischen Schmidt und dem alten Francke.

Schmidt äußert Francke gegenüber Bedenken,154 ob das Unterrichten reicher Kinder wirklich die Aufgabe sei, die Got für ihn im Sinn habe? Oder ob es bei der Arbeit in Wertheim vielleicht gerade darum ginge, dass Got ihn Demut und Eifer lehren wolle? In jenem Brief vergleicht sich Schmidt mit dem Propheten Daniel:

Ebenso wie Daniel, der als er in die Löwengrube geworfen wurde, in Schmidts Augen eine von Got gewollte Aufgabe erfüllte, könnte ja möglicherweise auch Schmidts Zeit in Wertheim seine Berufung sein. In Schmidts Vergleich drückt sich – wie Spalding bemerkt – dessen Gefühl dafür aus, von Got als ein ganz beson-derer Ausleger des Glaubens erwählt zu sein.155 Anfang 1727 schrieb Schmidt, getrieben von dieser Unzufriedenheit, zunächst erneut an Rambach, weil er nach einer anderen Anstellung suchte – und zwar als Missionar in Tranquebar in

152 Vgl. Spalding, Seize, 21.

153 Vgl. die Aussage Spaldings: „Pastor Neidhardt, like the countess, was pleased with Schmidt’s background and demeanor“ (vgl. Spalding Seize, 22). Dieses positve Urteil im Hinblick auf die damalige Zusammenarbeit bestätgte Neidhardt auch 1737 noch einmal in einem Brief an G. A. Francke (vgl. Spalding, Seize, 227, Anm. 33). Der Sohn Neidhardts wurde übrigens ein wichtger Spitzel für Joachim Lange in Wertheim und berichtete in Briefen über „liederliche und garstge Verbindungen“, die Schmidt pfegen würde (vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bi-bel, 230f.).

154 Brief vom 2.1.1726 an A. H. Francke, Halle MSS, Nr.3. Paraphrasiert nach den bei Spalding (vgl. Spalding, Seize, 23) abgedruckten, leider ins Englische übersetzten Auszügen.

155 Spalding, Seize, 23. Schmidts Vergleich mit der Löwengrube, der angesichts der idyllischen Situaton in Wertheim absurd wirkt, ergibt jedoch Sinn im Hinblick auf Schmidts späteres Le ben, denn hier gab es für ihn schon eher die Gefahren einer Löwengrube und nicht bloß quä -lende Langeweile. Daran, dass Schmidt überhaupt den Vergleich zum Propheten Daniel zieht, zeigt sich sein tefer Wunsch nach einer echten Berufung und seine Bereitschaf, für diese Berufung auch Unbill zu erleiden.

Südindien. Ein Vorhaben der Mission in Tranquebar war es übrigens, die Bibel ins Tamil zu übersetzen. Rambach kann Schmidt aber keine Stelle anbieten, so dass er in Wertheim bleibt.

In der Zeit nach Rambachs Absage begann sich Schmidt intensiver mit den neuen Ideen auseinanderzusetzen, die er in Jena ansatzweise kennengelernt hate.156 Da Schmidt nie an der Universität Halle eingeschrieben war und Wolf vermut-lich nie persönvermut-lich traf,157 eignete er sich die mathematsche Methode Christan Wolfs im Selbststudium an.158 Dieses Selbststudium mag dazu beigetragen ha-ben, dass Schmidt zwar von der Methode Wolfs hellauf begeistert war, er aber nicht zu einem völligen Parteigänger Wolfs wurde, sondern seine Motvaton und sein Interesse für die Bibel pietstsch geprägt blieben. Spalding stellt die ein-leuchtende These auf, dass Schmidt sich selbst nach wie vor dazu berufen sah, Missionar zu sein, jedoch nun stat den ‚Heiden’ in Indien die aufgeklärten ‚Hei-den’ Europas als Gruppe identfzierte, denen die götliche Botschaf nahe ge-bracht werden müsse.159 In der mathematschen Methode Wolfs sah Schmidt das geeignete Mitel, um eine entsprechende Übersetzungsstrategie zu entwi-ckeln. Es besteht also eine bemerkenswerte Kontnuität zwischen Schmidts Wunsch, nach Indien zu gehen und seinem späteren Übersetzungsprojekt.160 Schmidts Übersetzung wurde vor allem vom Kammerrat Höfein – Goldenbaum sieht ihn als den ‚Motor’ des ganzen Unternehmens161 – und den beiden älteren Söhnen der Gräfn Amöna Sophie unterstützt. Die beiden Grafen waren nicht der Aufsicht Schmidts unterstellt und nur wenig jünger als er selbst, haten in Gießen studiert, mit Höfein bereits eine Bildungsreise durch Westeuropa unternommen

156 Vgl. Spalding, Seize, 24.

157 Spalding weist zwar auf einen Brief hin, in welchem G. A. Francke behauptet, in der Zeit als Schmidt in Wertheim angestellt war, habe dieser Wolf in Marburg gehört. Spalding erläutert aber auch, dass es unwahrscheinlich sei, dass die Informaton Franckes korrekt ist und meint, dass Schmidt Wolf nicht getrofen habe (vgl. Spalding, Seize, 24, Anm. 38).

158 Schmidt selbst sagt, er habe in der mathematschen Lehrart „niemals einen mündlichen Un -terricht gehabt“, sich aber die Schrifen ihrer Lehrer angeeignet (vgl. Anonym, Wahrheit, 84).

159 Vgl. die Aussage Spaldings: „He began to recognize another kind of heathen in need of con -version, and this one natve to Europe: the educated person who viewed Christan truths sceptcally and even dared to challenge them in public“ (Spalding, Seize, 24).

160 Vgl. Spalding, Seize, 26.

161 Vgl. Goldenbaum, Wertheimer Bibel, 216.