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Die Vernunfgemäßheit der ‚geofenbarten Wahrheiten’

3 Die Vorrede der ‚Wertheimer Bibel’

3.2 Das hermeneutsche Programm der Vorrede

3.2.2 Die Vernunfgemäßheit der ‚geofenbarten Wahrheiten’

Welt läuf laut Schmidt mitels Kausalketen ab,337 wobei auch Got in diese kau-salen Abfolgen integriert ist.338 Jedoch steht Got am Anfang dieser Kausalverket-tung: die Wirklichkeit des „selbständigen Wesen[s] [...] hat ihren Grund in ihm selbst“.339 Weil Got also die erste Quelle aller Dinge ist und von Got ausgehend Kausalketen den Lauf der Ereignisse bestmmen, hat „alles, was wirklich ist, sei -nen zureichenden Grund, aus welchem es sich verstehen und erweisen lasset.“340

menschlichen Verstandes liegen, schließt Schmidt somit im Umkehrschluss aus.346

Auch Schmidt ist zwar bewusst, dass in den ‚Schrifen’ Ereignisse thematsiert werden, die zunächst einmal nicht nachweisbar sind und es daher „Wahrheiten gibt, welche uns unbekant bleiben.“347 Es sei aber zumindest theoretsch möglich, dass diese in Zukunf verstanden werden könnten. Die Plausibilität der berichte-ten Ereignisse handelt Schmidt ab, wenn er sich zur ‚inneren Möglichkeit der Ge-schichte’ äußert. Für Schmidt ist es bezüglich der berichteten Ereignisse ausrei-chend, wenn man nicht nachweisen kann, dass sie unmöglich sind. Schmidt führt als Argument für das Ausreichen dieser Defniton Erfahrungswerte an, die man anerkennt, selbst wenn man die genauen Ursachen nicht kennt. Als ein Beispiel nennt Schmidt die Schwerkraf.

Schmidt lässt zudem durchaus gelten, dass die Verfasser der ‚Schrifen’ „außer-ordentliche Erscheinungen“ haten und den „Erfolg ganz besonderer Wirkungen“

vorweisen konnten. Aufgrund dieser Vorgänge sei ihnen vom Volk „ein Umgang mit dem höchsten Wesen zugeschrieben“ worden, weshalb ihre Autorität „als Mitelspersonen [...], welche den Menschen den götlichen Willen hinterbringen müssten“, gesichert gewesen sei.348 An anderer Stelle spricht Schmidt davon, es sei wahr, „daß [dem selbständigen Wesen, A. F.] auch Wunderwerke an unserer Seele möglich sind“. Jedoch bringt Schmidt im zweiten Teil des Satzes auch die Erklärung, dass es pädagogische Gründe seien, die Got zu diesem Handeln ver-anlassen. Denn durch ‚Wunderwerke’ an der Seele kann „das selbständige We-sen die Uberzeugung und Lenkung des Willens noch auf andere Art [als durch überzeugende Erkenntnis, A.F.] in derselben [...] zu Stande bringen.“349 Welchen Status Schmidt diesen ‚außerdordentlichen Erscheinungen’ zugesteht, bleibt un-klar. Vernunfgemäß müssten sie ja nach seinen vorherigen Aussagen sein.

346 Zu diesem Schluss kommt auch Goldenbaum: „Der Übersetzer hat also kein Problem, die Un -erkanntheit der Mysterien einzuräumen, er will aber nicht zugeben, daß diese grundsätzlich auf immer und ewig unerkannt bleiben müssen“ (Goldenbaum, Leibniz, 89).

347 Anonym, Vorrede, 14.

348 Vgl. Anonym, Vorrede, 6.

349 Anonym, Vorrede, 19.

Auch vereinzelte zu pädagogischen und autoritätssichernden Zwecken an der menschlichen Seele vollbrachte ‚Wunderwerke’350 stehen für Schmidt also nicht im Widerspruch zur Vernunfgemäßheit der ‚Schrifen’.351 Die götliche Ofenba-rung in den ‚Schrifen’ ist für Schmidt dem menschlichen Verstand ebenso zu-gänglich – oder nur aufgrund der noch nicht weit genug entwickelten Forschung noch nicht zugänglich – wie ein Untersuchungsgegenstand der Mathematk, etwa das Problem der Asymptoten krummer Linien oder der Defniton von Unendlich-keit.352

Mit dieser Grundentscheidung bezieht Schmidt indirekt Stellung zur Frage, ob die in der Heiligen Schrif enthaltenen Mysterien wider- oder nur übervernünfig seien. Die Thematk beschäfigte bereits Leibniz, wobei dieser urteilte, dass es zwar zulässig sei, wenn ofenbarte Mysterien nicht mit der menschlichen Ver-nunf begreifar – also übervernünfig seien. Es gebe jedoch keine Wahrheit die wider die Vernunf sei – auch keine ofenbarte Wahrheit. Die Mysterien dürfen daher laut Leibniz nicht der Vernunf widersprechen.353 Ähnlich argumentert Christan Wolf.354 Auch er geht davon aus, dass Gotes Ofenbarung Aspekte beinhaltet, die sich nicht mit der Vernunf erkennen lassen. Und ebenso wie Leibniz ist er der Ansicht, dass die Inhalte der Ofenbarung nicht der Vernunf wi -dersprechen können. Nun aber radikalisiert Schmidt die Positon von Leibniz und Wolf. Denn wie dargelegt wurde, sind die in den ‚Schrifen’ enthaltenen Wahr-heiten Schmidts Ansicht nach noch nicht einmal übervernünfig, sondern ver-nunfgemäß. In späteren Verteidigungsschrifen vertrit Schmidt diese Positon

350 Der Begrif ‚Wunderwerke’ fndet sich auch bei Wolf, jedoch versteht dieser darunter ein übernatürliches Ereignis. Zudem muss sich laut Wolf zu jedem ‚Wunderwerk’ ein zweites ge-sellen, „durch das die gestörte Ordnung der Natur wiederhergestellt wird, weil sonst die Welt nicht mehr die gleiche wäre, wie zuvor.“ (Vgl. Gawlick, Deimus, 144).

351 Leibniz versteht ein Wunder anders: „Hieraus erhellt, daß Got seine Geschöpfe von den Ge-setzen, die er ihnen gegeben hat, befreien und bei ihnen etwas hervorrufen kann, wozu ihre Natur nicht ausreicht, indem er ein Wunder wirkt.“ (Leibniz, Theodizee, II/1, 73).

352 Vgl. Anonym, Vorrede, 16.

353 Vgl. die Aussage von Leibniz: „Ich habe bereits gesagt, dass die Theologen in der Regel zwi-schen, dem was über der Vernunf, und dem, was gegen die Vernunf ist, unterscheiden. Für über der Vernunf gilt ihnen das, was man nicht begreifen und wofür man den Grund nicht angeben kann. Gegen die Vernunf aber wird jene Ansicht sein, die durch unwiderlegliche Gründe betriten wird oder deren Gegenteil auf exakte und zuverlässige Weise bewiesen werden kann. Sie räumen demnach ein, daß die Mysterien über der Vernunf sind, geben aber nicht zu, daß sie gegen sie sind.“ (Leibniz, Theodizee, Bd. II/1, 160f.).

354 Eine knappe und gut lesbare Zusammenfassung der Positon Wolfs fndet sich bei Hetner (vgl. Hetner, Literaturgeschichte, 223–229).

zurückhaltender,355 zudem zeigt sich bei der Analyse des Übersetzungstextes, dass Schmidt die radikalen Thesen der Vorrede in der Praxis nur sehr einge-schränkt einlöste.356

Mit den in der Vorrede geäußerten Thesen begibt sich Schmidt in die Nähe von Positonen, die auch im Deismus vertreten wurden. Leibniz weist bereits in sei -ner ‚Theodizee‘ daraufin,357 dass sich die Positon eines vernunfgemäßen Chris-tentums bei John Toland (1670–1722) in seinem 1696 veröfentlichten Werk

‚Christanity not misterious’ fndet.358 Die deistsche Haltung Tolands zur Frage der Vereinbarkeit von Vernunf und Ofenbarung wird schon an dem Unterttel seines Werk deutlich: „A Treatse Shewing, That there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, Nor Above it: And that no Christan Doctrine can be proper-ly call’d a Mystery“.359 Im Hinblick auf Schmidts Umgang mit dem Deismus fallen zwei Aspekte auf. Zum einen behandelt er in seiner Vorrede mit den Weissa-gungsbeweisen und der Wunderkritk typische Themen des Deismus und vertrit mit seiner These zur völligen Vernunfgemäßheit des Christentums eine Positon, die sich ähnlich bei Toland360 fndet. Zum anderen aber macht er in der Vorrede deutlich, dass seine Bibelübersetzung Hilfe leisten soll bei der Apologie gegen Kritk am Christentum, wie sie von Woolston und Tindal vorgebracht wurde. Sich

355 Etwa in § 14 der ‚Fest gegründeten Wahrheit’. Schmidt nimmt hier zwar keine Aussagen zu -rück, die er in der Vorrede zu seiner Bibelübersetzung gemacht hate, aber er verschweigt seine entscheidende Erweiterung: Er äußert nicht mehr die These der Vorrede, dass die Mys -terien der Vernunf prinzipiell zugänglich seien – nur eben noch nicht zum derzeitgen Stand der Wissenschaf. In der ‚Fest gegründeten Wahrheit’ vertrit er nur noch, dass es Wahrhei -ten gebe, „von welchen wir weder Begrife erlangen noch ihren Zusammenhang mit andern Wahrheiten deutlich einsehen können.“ Für diese gelte, „daß sie den götlichen Eigenschaf-ten und andern ausgemachEigenschaf-ten WahrheiEigenschaf-ten nicht widersprechen“ dürfen (Anonym, Wahr-heit, 99). Mit dieser Forderung ist er wieder mit dem leibniz-wolfschen Mysterienverständ-nis d’accord.

356 Vgl. Kapitel 4.3.2 ‚Wunder’ der vorliegenden Arbeit.

357 Leibniz, Theodizee, Bd. II/1, 161.

358 Toland wird ebenso wie Anthony Collins (1676–1729), Mathew Tindal (1657–1733) und Thomas Woolston (1668–1733) zur Kerngruppe des englischen Deismus gerechnet. Wenn in der vorliegenden Arbeit von ‚Deismus’ die Rede ist, ist damit das historische Phänomen ge-meint, welches in England von Beginn bis Mite des 18. Jahrhunderts aufrat. Es ist keine theoretsche Konstrukton gemeint, wie sie etwa bei Christan Wolfs Bestmmung des Deis -mus vorliegt (Gawlick, Deis-mus, 140). Voigts Arbeit ist hervorragend dazu geeignet, um sich einen Überblick über die Thematk der deutschen Deismus-Rezepton zu verschafen (vgl.

Voigt, Deismus). Schnelle Orienterung bietet Gestrich in seinem TRE-Artkel (vgl. Gestrich, Deismus).

359 Vgl.Toland, Christanity.

360 Gestrich, Deismus, 399.

selbst sieht Schmidt folglich auch nicht als Deist,361 sondern als Anhänger der Confessio Augustana, Tindal und Collins dagegen bezeichnet Schmidt im 1741 verfassten Vorwort zu seiner Tindal-Übersetzung als Ungläubige.362

Welche Positonen der Deisten sind für Schmidt also noch annehmbar und wel-che rechnet er dem ‚Unglauben’ zu? Zu dieser Frage äußert sich Schmidt sechs Jahre nach der Veröfentlichung der ‚Wertheimer Bibel’ im Vorwort zu seiner Übersetzung von Tindals ‚Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey’.363 Die Grenze scheint für Schmidt von denjenigen überschriten, denen „ein Stück der Ofenbarung [...] nach dem anderen [...] verdächtg [wird], bis es zu-letzt so weit kommt, daß sie die Wahrheit derselben leugnen, und nur die natür-liche Religion allein für wahr halten.“364 Die natürliche Religion alleine impliziert keinen Glauben an die Trinität Gotes, wie er dem christlichen Glauben nach der Confessio Augustana zugehört.365 Collins, Woolston und Tindal rechnet Schmidt ofenbar zu denjenigen, welche die götliche Ofenbarung anzweifeln und die na-türliche Religion bevorzugen.366 Für Schmidt dagegen passen götliche Ofenba-rung und natürliche Religion widerspruchslos zusammen. Sie entspringen dersel-ben Quelle und hadersel-ben denseldersel-ben Geschmack. Dieses Moto ist der Wertheimer Bibel auch in Form eines Stches mit der Überschrif ‚Idem sapor’ vorangestellt.

Auf der Illustraton sieht man zwei Knaben, die an unterschiedlichen Stellen Wasser aus demselben Bachlauf schöpfen und trinken. Schmidt nimmt also zwar grundsätzliche Thesen der Deisten auf, vertrit aber eine Gegenpositon, indem

361 Die Frage, weshalb Schmidt sich nicht selbst als Deist, sondern als Verteidiger des Christen tums versteht, stellte sich bereits Reimarus in seiner ersten anonym 1736 in den ‚Hamburgi -schen Berichten‘ veröfentlichten Rezension der ‚Wertheimer Bibel‘: „[Ich, A.F.] „mus aber aufrichtg gestehen, daß ich nicht einsehen kan, warum nicht ein verkapter Collin, Woolston oder Tindal eben dieses schreiben könnte? Der Advocat für die Bibel und Religion, colludiret hier gar zu ofenbar mit der Gegenpartei.“ (Anonym, Anmerkungen, 183).

362 Vgl. Anonym, Vorbericht.

363 Vgl. Tindal, Beweis. Schmidts ‚Vorbericht’ fndet sich auf S. 3–130.

364 Anonym, Vorbericht, 16.

365 Die Ablehnung eines trinitarischen Gotesbildes ist laut Gestrich ein wiederkehrendes Ele -ment des Deismus (vgl. Gestrich, Deismus, 394).

366 In Bezug auf Toland konnte in den Quellen, welche für die vorliegende Arbeit gesichtet wur -den, weder eine positve noch eine negatve Wertung von Schmidt gefunden werden. Da Schmidt sich mit seinen Thesen sehr nah an Toland bewegt, stellt sich die Frage, ob Schmidt die Thesen Tolands nicht dem Deismus bzw. dem ‚Unglauben’ zurechnete und Toland des-halb nicht als Kritker der ‚Schrifen’ erwähnte. Bloß weil Schmidt Toland in seiner Vorrede nicht namentlich erwähnt, heißt dies nicht, dass er sich nicht auf ihn bezieht, denn an Leibniz und Wolf lehnt Schmidt sich ebenfalls stark an, ohne sie mit Namen anzuführen.

er nachweisen möchte, dass in vielen Fällen die Schlüsse, die sie ziehen, übereilt sind.

Obwohl Schmidt selbst die biblische Ofenbarung als götlich anerkennt, ergibt sich doch aus seinen Thesen die Möglichkeit, den Autoritätsanspruch der ‚Schrif-ten’ und die bisher unangreifaren Mysterien mit den Miteln der Vernunf zu untersuchen. Denn die Autorität der ‚Schrifen’ und ihr Anspruch auf Wahrheit begründet sich für Schmidt nicht durch eine götliche Ofenbarung, welche sich von der übrigen Welt kategorial unterscheiden würde, sondern aus ihrem ver-nunfgemäßen Aufau, der sich letztlich auf Got als „Quelle [...] der Wirklich-keit“367 zurückführen lässt – und dieser Aufau ist laut Schmidt prüfar und be-weisbar.